Edgar Wallace
Der Doppelgänger
Edgar Wallace

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18

Diana wachte plötzlich auf. Sie hörte nur entfernt das Schnarchen von Mr. Superbus, aber sie hatte das untrügliche Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Sie stand auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und schaute aus dem Fenster. Auf dem Gehsteig drüben stand eine Gestalt, ein ziemlich kleiner Mann mit runden Schultern. Sie konnte ihn deutlich in dem Licht der Straßenlaterne erkennen, die gerade ihrem Hause gegenüberstand. Sie ahnte sein Gesicht mehr als sie es erkannte, und allmählich wurde ihr klar, daß es Stark, der Fensterputzer, war.

Als er sie sah, trat er schnell zurück. Sie beugte sich weiter hinaus und entdeckte einen Polizisten, der langsam die Straße entlangkam. Er erreichte die gegenüberliegende Ecke und blieb stehen, ging ein paar Schritte nach Cheynel Gardens hinein und hielt dann wieder an. Es war früh am Morgen, und die Straßen lagen verlassen, so daß er es riskieren konnte, sich heimlich eine Pfeife anzustecken, was allerdings ganz gegen die Dienstvorschriften war. Die Gestalt, die sich drüben eng an die Mauer lehnte, regte sich nicht.

»Was wollen Sie?« fragte Diana plötzlich laut über die Straße hinüber.

Mr. Stark schaute hinauf.

»Nichts, Madam, ich kann nur nicht schlafen«, stotterte er.

»Gehen Sie einmal zu dem Polizisten, der wird schon Rat wissen!«

Er verschwand in der engen Straße, die an ihrer Hofmauer vorbeiführte, aber gleich darauf kam er wieder zurück und ging kühn nach der Hauptstraße zu.

Der Polizist trat auf ihn zu, und nach einer kurzen Unterhaltung zwischen den beiden entfernte sich Mr. Stark endgültig. Diana glaubte bemerkt zu haben, daß der Polizist seine Taschen abgetastet hatte.

Sie war nun ganz munter. Es war erst Viertel nach drei. Sie nahm den Schlüssel aus ihrer Handtasche, schloß ihr Zimmer auf und lauschte. Der wachsame Mr. Superbus meldete sich sofort.

»Ich bin's, Mr. Superbus.« Diana war froh, daß er so auf dem Posten war. »Ich fürchte nur, Sie liegen auf dem Flur recht unbequem.«

»O nein, ich schlafe nur sehr selten. Napoleon schlief auch nur wenig, wenn wir den Berichten trauen dürfen. Wünschen Sie etwas?«

»Ich will in die Küche gehen und eine Tasse Tee machen«, sagte sie und stieg die Treppe hinunter. Sie war sehr hungrig. Sie kochte Tee, fand ein Paket Keks und rief Mr. Superbus leise, daß er kommen solle, um etwas zu essen.

»Vielleicht ist es gut, wenn wir etwas mehr Licht machen.« Sie drehte den elektrischen Schalter in der Diele an. »Kommen Sie nur herein, Mr. Superbus!«

Die Tür des Studierzimmers öffnete sich nicht, als sie die Klinke herunterdrückte. Sie runzelte die Stirn.

»Ich bin ganz sicher, daß ich diese Tür nicht verschlossen habe!« Sie nahm den Schlüssel von ihrem Bund und schloß auf. Aber die Tür war von innen verriegelt!

»Warten Sie hier, bis ich mich angezogen habe«, sagte sie.

Die Augen des Detektivs traten vor Erregung aus den Höhlen, und er verfärbte sich. Er war nicht im mindesten nervös und spürte keine Furcht, aber Gefahr ließ ihn immer erbleichen.

In unglaublich kurzer Zeit war Diana wieder unten, nahm den Pistolengürtel aus der Kommode in der Diele und schnallte ihn um.

Mr. Superbus sah die Pistole in ihrer Hand und fühlte sich jetzt sicherer.

Sie hörten ein leises Rascheln in dem Zimmer und ein schwaches Klicken, als ob die Lichter ausgedreht würden.

»Passen Sie auf die Hintertür auf«, sagte sie leise. »Wahrscheinlich will er über die Mauer klettern! Schlagen Sie ihn sofort nieder – möglicherweise ist er bewaffnet!«

Mr. Superbus bewegte sich nicht. Er stand wie angewurzelt an seinem Platz.

»Wär es nicht besser, wenn ich einen Polizisten hole?« fragte er hohl.

Sie schüttelte den Kopf.

»Tun Sie bitte das, was ich Ihnen gesagt habe – ich möchte die Polizei nicht im Hause haben.«

Mr. Superbus versuchte einen Fuß aufzuheben und stöhnte. Sein Rheumatismus war plötzlich wiedergekommen.

»Ich möchte Sie nicht gern hier allein lassen«, sagte er unsicher. »Es wäre direkt gemein und schurkenhaft, eine Dame im Augenblick der Gefahr sich selbst zu überlassen.«

Von der Diele aus führte nur eine Tür zum Studierzimmer. Man konnte es aber auch durch den kleinen Vorraum erreichen, in dem an den Wänden Gordons Bücherschränke standen.

»Bleiben Sie hier«, flüsterte sie und eilte den dunklen Korridor entlang.

Die Tür des kleinen Zimmers war nicht verschlossen. Es roch nach Büchern. Leise trat sie ein, die Pistole in der Hand. Auch die Tür nach dem Studierzimmer öffnete sich widerstandslos. Der große Raum lag im Dunkeln, nur durch die bunten Glasfenster fiel ein schwacher Schein herein.

»Hände hoch!« rief Diana plötzlich. »Ich sehe Sie!«

Der Lichtschalter befand sich an der anderen Seite des Zimmers, und sie tastete sich vorsichtig vorwärts. Sie war aber erst ein paar Schritte gegangen, als die Tür nach der Halle plötzlich aufgerissen wurde. Einen Augenblick sah sie in der Öffnung eine Gestalt, dann wurde die Tür zugeschmettert . . .

Superbus muß den Kerl ja fassen, dachte sie aufgeregt, als sie sofort hinterhereilte. Aber sie hörte nichts von einem Kampf, und als sie in die Diele trat, war sie vollständig leer.

»Mr. Superbus!«

»Hier, Madam!«

Er kam aus dem Studierzimmer hinter ihr her.

»Ich bin Ihnen gefolgt. Es war nicht recht, eine Dame allein zu lassen. Haben Sie ihn gesehen?«

»Aber warum haben Sie denn nicht das getan, was ich Ihnen sagte?« fragte sie vorwurfsvoll.

»Es war meine Pflicht, Ihnen zu folgen.« Julius war verdrießlich. »Es war sicherer so.«

Das stimmte auch.

Sie drehte alle Lampen im Studierzimmer an. Es schien sich nichts geändert zu haben, nur –

Sie hatte den Buchstabenanzeiger am Geldschrankschloß gestern auf X stehen lassen, und er stand jetzt auf A.

»Holen Sie den Tee aus der Küche«, sagte sie und setzte ihre Nachforschungen fort.

Mr. Superbus kehrte mit dem Tablett zurück.

»Was wir brauchen, sind Anhaltspunkte«, sagte er leise.

»Nun gut, dann suchen Sie welche.«

Er bückte sich und durchstöberte den ganzen Raum. Diana aß inzwischen Kekse, denn sie war außerordentlich hungrig.

»Es ist jemand hiergewesen«, er zeigte auf den großen Stuhl am Kamin. »Sehen Sie doch einmal das Kissen. Dort sieht man deutlich, daß jemand seinen Kopf dagegen lehnte.«

»Das habe ich gestern abend selbst getan«, erwiderte sie kurz und wenig höflich. »Sehen Sie ja nach, ob Sie auch Zigarrenasche finden, mein teurer Sherlock Holmes!«

Er sah sie argwöhnisch von der Seite an.

»Kommen Sie jetzt und essen Sie auch etwas«, sagte sie und stellte die Keksschachtel in seine Reichweite. »Ich möchte nur wissen, wie er aus seinem Zimmer gekommen ist.«

»Wer denn?«

»Der Doppel – Onkel Artur«, verbesserte sie sich sofort.

Julius lächelte.

»Der ist nicht herausgekommen, denn ich habe meinen Posten nicht verlassen. Ich habe die Überzeugung, daß es ein Einbrecher war.«

»Aber wie ist er denn fortgekommen? Die vordere Haustür ist doch vollständig verschlossen und verriegelt. Er muß noch im Hause sein.«

»Sagen Sie das ja nicht«, bat Julius nervös. »Wenn er noch hier wäre, wüßte ich nicht, was ich täte. Ich werde ganz toll, wenn ich Einbrecher sehe. Deshalb hat mir auch der Doktor verordnet, daß ich mich nach Möglichkeit von ihnen fernhalten soll.«

»Er ist sicher noch im Haus – wahrscheinlich verbirgt er sich in der Küche. Essen Sie doch noch ein paar Kekse. Wenn ich fertig bin, werden wir uns einmal nach ihm umsehen.«

Julius hatte keinen Appetit mehr.

»Dies ist ein Fall für reguläre Polizisten«, sagte er ernst. »Sie werden doch dafür bezahlt, und die Regierung gibt ihren Witwen Pension. Nebenbei bemerkt, werden sie auch noch befördert, wenn sie Einbrecher fassen. Ich lasse anderen Leuten gern etwas zukommen, wenn es in meinen Kräften steht. Soll ich nicht schnell nach draußen gehen und einen Polizisten rufen?«

»Bleiben Sie hier, ich werde allein gehen.«

Aber er lehnte es ab zu bleiben. Sein Platz war an ihrer Seite, wie er als treuer Beschützer behauptete. Aber er ging immer etwas hinter ihr her. Er war sehr beruhigt, daß sie gut mit der Pistole umgehen konnte. Sie schien doch eine tüchtige Frau zu sein.

Die Küche war leer.

»Ich hatte auch nicht erwartet, ihn hier zu finden«, sagte sie. »Nein, das war . . . Onkel Artur.«

Als sie wieder im Studierzimmer waren, entwickelte Mr. Superbus eine merkwürdige Theorie.

»In diesem Hause gibt es sicher unterirdische Gänge, ich habe schon welche gesehen. Man braucht nur eine Füllung in dem Holzpaneel zurückschieben, dann öffnet sich eine Treppe, die in ein unterirdisches Gewölbe führt. Man drückt auf eine Feder –«

»Nein, Mr. Superbus, in Cheynel Gardens Nr. 61 gibt es keine Federn, die man berührt, und keine Wandpaneele, ebensowenig unterirdische Gewölbe, mit Ausnahme des Kellers, in den die Kaminschächte münden. Gehen Sie nur hinunter und überzeugen Sie sich davon!«

Mr. Superbus erwiderte, daß ihm ihre Worte vollkommen genügten.

Es war jetzt Viertel nach vier. Julius steckte das Feuer an und ging langsam zur Küche hinunter, um Feuerholz zu suchen. Er kam aber sehr schnell wieder. Seine Zähne klapperten, und er sagte, es sei sehr kalt in der Küche.

»Aber in der Küche war doch nichts, wovor Sie Angst haben konnten?«

Er war belustigt.

»Wovor ich Angst haben könnte? Das möchte ich erst einmal sehen! Ich weiß überhaupt nicht, was Furcht ist! Alle in unserer Familie sind tapfer.«

Er war halb aufgesprungen. In der Diele waren Schritte zu hören.

»Sehen Sie nach!«

Sie griff nach der Pistole.

Mr. Superbus ging zögernd, machte aber einen großen Umweg. Sie beobachtete ihn, wie er langsam vorwärts schritt und vorsichtig um die Tür herumspähte, um einen Blick in die Diele zu werfen.

»Schießen Sie ja nicht«, sagte er dann zitternd. »Es ist die Tante!«


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