Edgar Wallace
Der Doppelgänger
Edgar Wallace

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20

An der Bettstelle war ein merkwürdiges Tau befestigt, das von unkundigen Händen zusammengedreht war. Es bestand aus drei Streifen Bettuchleinen, die wie ein Frauenzopf zusammengeflochten waren. Das Ende hing aus dem offenen Fenster.

Diana schaute hinunter. Das Tau hing nur zwei Meter zum Fenster hinaus. Er hätte also mindestens noch sechs bis sieben Meter springen müssen, bis er den gepflasterten Hof erreicht hätte.

»Das ist merkwürdig«, sagte Superbus, der sich aber auch jetzt noch nicht ganz geschlagen geben wollte. »Als ich hereinschaute –«

»Ach, reden Sie doch keinen Unsinn! Wir wollen uns lieber an Tatsachen halten.« Diana zog die Augenbrauen hoch. »Was nützt denn ein Tau, wenn es nicht weiter reicht! Und warum hat er denn das Bett nicht an das Fenster gezogen?«

Sie rückte selbst daran, es ließ sich leicht bewegen.

»Wenn das Gewicht eines Mannes an dem Tau gehangen hätte, wäre die Bettstelle sicher von selbst zum Fenster hingezogen worden.«

Nachdenklich sah sie sich im ganzen Zimmer um. In einer Ecke stand ein großer Kleiderschrank mit einem Spiegel. Sie hob die Pistole und riß die Schranktür auf.

»Kommen Sie bitte heraus«, sagte sie eisig.

Gordon trat würdevoll heraus.

Mr. Superbus beobachtete diesen Vorgang aus einiger Entfernung und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Onkel Artur, Onkel Artur!« rief er vorwurfsvoll. »Ich dachte nicht, daß Sie einem alten Freund einen solchen Trick spielen würden!«

»Wollen Sie mir freundlichst erklären, warum Sie mein Bettleinen so zerschnitten haben?« fragte Diana.

Die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der sie das Eigentumsrecht an allen Dingen im Haus für sich in Anspruch nahm, brachte Gordon in höchste Wut.

»Das ist mein Bettleinen!« schrie er.

Sie hob abwehrend die Hand.

»Darauf wollen wir nicht näher eingehen, Onkel Artur«, sagte sie mit kalter Höflichkeit. »Bitte, ziehen Sie das Bettuch herein und schließen Sie das Fenster. Es wird bald hell werden, und ich habe nicht den Wunsch, dem Milchmann Stoff zum Klatschen zu geben. Ich muß die Interessen meines Vetters wahren.«

»Lassen Sie doch Bobby kommen«, sagte Gordon plötzlich ruhig. »Er wird keinen Augenblick an meiner Identität zweifeln.«

»Wenn Sie mit Bobby Mr. Robert Selsbury meinen, so habe ich seine Wohnung angerufen. Er ist nicht in der Stadt – wahrscheinlich haben ihn die Agenten auch fortgelockt.«

Es war ihm also die letzte Möglichkeit genommen, sich aus dieser entsetzlichen Lage zu befreien.

»Nun gut, ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen keinen weiteren Grund zur Beunruhigung geben werde.«

Er zog das geflochtene Tau herein, schloß das Fenster und ließ die Jalousien herunter.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt schlafen – ich habe die ganze Nacht gewacht.«

»Sie können schlafen, aber Mr. Superbus wird bei Ihnen wachen. Ich werde Sie beide in diesem Zimmer einschließen –«

»Persönlich ziehe ich es allerdings vor, draußen zu sitzen«, sagte Mr. Superbus schnell. »Ich möchte gern rauchen.«

»Sie bleiben hier!« erwiderte Diana entschieden.

»Wenn der Kerl hierbleibt, werfe ich ihn aus dem Fenster!« rief Gordon wild.

Mr. Superbus hatte sich schon aus dem Zimmer hinausgeschlängelt.

»Madam, der wird jetzt ganz ruhig sein – trauen Sie nur dem alten Onkel Artur!«

Diana wußte, daß es nutzlos war, auf ihrem Willen zu bestehen. Sie schloß also ihren Gefangenen wieder ein und ging hinunter in das Studierzimmer. Auch sie war davon überzeugt, daß er jetzt keinen weiteren Versuch machen würde zu entwischen.

Sie mußte mit Bobby in Verbindung bleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß er ihr böse war, wenn sie ihn zu so früher Stunde aus dem Bett holte. Sie nahm den Hörer ab und rief seine Wohnung an. Mit unglaublicher Schnelligkeit erhielt sie Antwort. Die Stimme war ihr allerdings unbekannt – vermutlich sprach Bobbys Diener mit ihr.

»Hier ist Miss Ford – kann ich Mr. Selsbury sprechen?«

»Er ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen, meine Dame. Ich bin aufgeblieben, um auf ihn zu warten. Er wollte bei Tagesanbruch wieder in London sein.«

»Wo ist er denn?«

»Er ist nach Ostende gereist, mein Fräulein. Er hat von Dover aus telefoniert.«

Das war eine ganz unerwartete und beunruhigende Nachricht.

»Ist er allein verreist?«

»Nach meinem besten Wissen und Gewissen«, sagte Bobbys Diener taktvoll, diplomatisch und juristisch einwandfrei.

Diana hing den Hörer wieder an.

War es denn den Verbrechern auch gelungen, Bobby fortzulocken?


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