Edgar Wallace
Der Doppelgänger
Edgar Wallace

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14

Gordon hatte niemals einen Menschen gesehen, der so verwirrt und verängstigt war wie Heloise. Das war der einzige klare Eindruck, den er von diesem unangenehmen Auftritt hatte. Sie, die selbstbewußte Dame, die Frau mit der feinen Seele, die sich hoch über alle gewöhnlichen Grade der Menschheit erhob, schien unter Dianas beherrschenden Blicken vollständig zusammengebrochen zu sein. Gordon seufzte, band seine Flanellschürze ein wenig fester und hätte gern gewußt, wo Trenter das Putzpulver aufbewahrte. Es war wenigstens gut, daß der Hausmeister nicht anwesend war und nicht Zeuge der Erniedrigung seines Herrn werden konnte. Denn Diana hatte ihn in den schlechtbeleuchteten Anrichteraum gesteckt und ihm den Auftrag gegeben, das Silber zu putzen und außerdem sofort zu erscheinen, wenn er gerufen werde.

Gordon seufzte verzweifelt und nahm sich ein silbernes Sahnekännchen vor, aber mit dem Herzen war er nicht bei seiner Aufgabe. Seine feingepflegten Hände waren nicht für häusliche Dienstbotenarbeiten geschaffen, aber es kam ihm ebensowenig der Gedanke, sich die Kehle mit einem Obstmesser zu durchschneiden, wovon gerade ein halbes Dutzend vor ihm auf dem Tisch lag, als der befehlenden Geste Dianas nicht zu gehorchen, die ihn hier Silber putzen ließ.

Er träumte nicht, er schlief nicht, davon hatte er sich schon des öfteren überzeugt. Er war wirklich wach, er stand hier in Hemdsärmeln und trug eine Flanellschürze über dem graukarierten Anzug mit den roten Tupfen. Und er war zweifellos dabei, einen silbernen Sahnetopf zu putzen. Diese Tatsache stand jedenfalls fest, und sie konnte ja nun die Basis für weitere Spekulationen abgeben. Vor allem wunderte er sich darüber, warum Diana ihn überhaupt im Hause behielt, wenn sie glaubte, er sei der Doppelgänger. Warum schickte sie denn nicht sofort zur Polizei und ließ ihn zur nächsten Wache bringen? Er mußte ihr ja noch im Herzen dankbar sein, daß sie diese Maßregel nicht ergriffen hatte! Außerdem war er neugierig, wo seine übrigen Dienstboten geblieben waren. Eleanor hatte er nicht gesehen, auch die Köchin war verschwunden. Er war ja bis zu einem gewissen Grade sehr zufrieden damit – aber wo mochten sie nur geblieben sein? Er sollte es bald erfahren.

Diana erschien in der Tür, und er starrte sie mit offenem Mund an. Sie trug einen breiten, braunen Ledergürtel, an dem ein Pistolenfutteral hing. Aus diesem schaute der Griff einer Pistole hervor. »Können Sie Kartoffeln schälen?« fragte sie.

Gordon erkannte beschämt, daß er von Kartoffeln weiter nichts wußte, als daß sie eine Art Gemüse seien.

»Haben Sie denn noch nie Kartoffeln geschält?«

»Ich kann mich nicht darauf besinnen. Als ich noch zur Schule ging –«

»Ich interessiere mich nicht im geringsten dafür, was in der Besserungsanstalt von Borstel passierte, in der jugendliche Taugenichtse erzogen werden. Stellen Sie sofort das Milchkännchen hin, und kommen Sie mit in die Küche!«

Er folgte ihr gehorsam.

»Ich habe meinen Dienstboten über das Wochenende frei gegeben. Ich möchte nicht, daß der Name meines Vetters in irgendeinen Skandal gezogen wird. Natürlich ist es ganz unmöglich, daß ich Sie Tag und Nacht dauernd bewachen kann. Ich habe deshalb einen befreundeten Herrn gebeten, hierherzukommen und mir bei dieser schweren Aufgabe zu helfen.«

Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in Gordons Augen auf.

»Es ist ein Detektiv – ein gewisser Mr. Superbus. Ich glaube, Sie kennen ihn dem Namen nach schon, er ist Ihnen schon seit langem auf den Fersen.«

»Dieser – dieser . . .« stotterte Gordon entrüstet.

»Ja, dieser!«

Es klingelte in der Küche, und Diana sah nach der Nummerntafel. Die kleine Klappe, die die Haustür anzeigte, war gefallen.

»Hier sind die Kartoffeln!«

Gordon salutierte. Er hatte früher in der Armee gedient, und ihr befehlshaberischer Ton rief die Erinnerung daran wach.

Als Diana die Küche verlassen hatte, sah er sich schnell um. Er war gut genug mit seinem eigenen Hause vertraut, um zu wissen, daß man durch die Küchentür ins Freie kommen konnte. Aber sie war fest verschlossen, und der Schlüssel war abgezogen. Die Fenster waren mit eisernen Gittern gegen Einbrecher geschützt. Gordon kehrte seufzend zu seinen Kartoffeln zurück.

Wieder klingelte es. Diana hörte es, als sie ihren Ledergürtel mit der Pistole abschnallte und die Waffe in eine Kommode in der Diele einschloß. Sie zögerte einen Augenblick und ließ ihre Hand auf der Türklinke liegen, aber dann zwang sie ein donnerndes Gepolter zum Handeln. Entschlossen öffnete sie die Tür. Der gefürchtete Augenblick war gekommen. Noch bevor sie den bärtigen Mann sah, wußte sie, wer es war.

»Drei Uhr!« rief er frohlockend und streckte die Hände aus. »Drei Uhr, das ist die wunderbare Stunde unserer Wiedervereinigung, meine Braut, meine Taube, mein Leben!«

»Komm herein!« sagte Diana nüchtern.

Er wollte sie sofort in seine Arme schließen, aber sie hielt ihn immer in einer gewissen Entfernung von sich.

»Die Dienstboten!« sagte sie leise und entwand sich geschickt seinen Armen. »Hier hinein!« Sie öffnete die Tür zum Studierzimmer. »Giuseppe, du mußt dich aber benehmen, das ist das mindeste, was ich von dir verlangen kann. Mein Onkel –«

»Dein Onkel!« Er schaute sie begeistert an. »Ist er hier?«

Sie nickte.

»In diesem Hause?«

Sie hätte sich eigentlich durch seinen Eifer warnen lassen sollen, aber die Zwangslage, in der sie sich augenblicklich befand, hatte sie etwas aus dem Gleichgewicht gebracht.

»Aber natürlich ist er hier!« Seine Stimme klang triumphierend, und er sah sie mit leuchtenden Blicken ekstatisch an. Dann schloß er die Augen und lächelte verzückt.

»Der Traum meines Lebens wird nun erfüllt werden. Kann ich einmal telefonieren?«

Er hatte den Hörer schon in der Hand, bevor sie antworten konnte. Er rief sein Hotel an.

»Senden Sie sofort mein Gepäck hierher nach Cheynel Gardens. Jawohl, zwei Koffer – verstehen Sie denn kein Englisch? Wohin? Ich sage Ihnen doch, nach Cheynel Gardens Nr. 61. Das Haus ist gar nicht zu verfehlen! Vergessen Sie nicht meine Pyjamas! Sie liegen unter meinem Kopfkissen!«

»Aber Giuseppe«, rief Diana bestürzt, »was machst du da, warte doch! Du kannst unmöglich hier wohnen!«

»Doch, meine schlanke Lilie, hier, zusammen mit dir unter einem Dache! Oh, das ist die höchste Wonne, das ist die wunderbarste Erfüllung meiner unendlichen Sehnsucht! O Diana, Sternenfee meiner himmlischen Träume! Wenn dein guter Onkel nicht hier wäre, hätte ich unmöglich bleiben können. Hast du auch eine Tante? Ach, die arme Mrs. Tetherby!«

»Giuseppe! Du kannst nicht hier wohnen, mein Onkel duldet keine fremden Leute im Haus!« Er klopfte ihr auf die Schulter.

»Oh, ich werde ihn schon herumkriegen. Ich werde so liebenswürdig zu ihm sein, ich werde einfach seinen Widerspruch nicht gelten lassen! Erzähle mir doch von seinen Liebhabereien, damit ich mit ihm darüber sprechen kann. Es gibt nichts unter der Sonne, worüber ich nicht reden könnte!«

Das glaubte sie ihm aufs Wort.

»Und deine liebe Tante – sie ist auch meine Tante! Bringe sie sofort her, damit ich ihr die Hand drücken und ihre Wangen küssen kann. Dianas Tante! Welch eine göttliche Verwandtschaft!«

Trotz ihrer Bestürzung entdeckte Diana doch, daß die impulsive Seite in Dempsis Charakter sich unerträglich entwickelt hatte. Er konnte nicht einen Augenblick den Mund halten. Jetzt stand er vor dem Kamin und betrachtete die gekreuzten Ruder.

»Ah, du hast rudern gelernt, meine kleine Diana? Das ist ja wundervoll! Wir werden miteinander in dem Nachen des Lebens auf dem Strom der Zeit fahren, wir werden das Wasser des Lethe trinken und die Vergangenheit vergessen –«

Mit zwei Schritten war er an ihrer Seite und nahm ihre Hände in die seinen.

»O Diana, fühlst du nicht, daß ich von dieser Stunde geträumt habe während der langen Nächte in dem Busch, in der unendlichen Öde der nördlichen Landstrecken, die ich durchzog, um Gold und Vergessenheit zu suchen? Und habe doch keins von beiden gefunden. In der Einsamkeit der Eingeborenenhütten, wenn ich in der Dunkelheit hingerissen dem Gezwitscher der kleinen Vögel und dem Seufzen des Windes lauschte, sah ich immer dein Gesicht, deine herrlichen, unvergeßlichen Züge, den Glorienschein deines goldenen Haares.«

Plötzlich unterbrach er seine ekstatischen Phantasien.

»Dein Onkel! Stelle mich ihm doch vor! Bringe ihn her!«

 

Gordon hatte gerade seine dritte Kartoffel geschält, als Diana wieder in der Küche erschien. Die Kartoffeln waren noch groß, als er sie zu bearbeiten begann, aber sie schrumpften unter seinen Händen allmählich merklich zusammen. Für ihn war es ein großes Geheimnis, wo die Schale anfing und wo sie endete. Er hatte deshalb recht tief geschnitten, um ganz sicher zu gehen.

Bei dem Anblick ihres tragischen Gesichtsausdruckes ließ er seine Kartoffel fallen.

»Was gibt es denn?«

»Was es gibt? Alles geht drunter und drüber!« rief sie bitter. »Ich gebe Ihnen jetzt eine Chance. Ihr Name gefällt mir nicht, ich gebe Ihnen deshalb einen anderen – Sie heißen jetzt Artur!«

»Wie?« fragte er ganz verdutzt.

»Sie sind von jetzt ab Artur, mein Onkel Artur!«

Er legte das Messer nieder, wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging langsam auf sie zu.

»Aber ich bin doch nicht Ihr Onkel Artur –« begann er.

»Nehmen Sie das jetzt ab!« Sie zeigte auf die Schürze. »Ziehen Sie sofort Ihren Rock an und kommen Sie mit nach oben. Und denken Sie immer daran, daß Sie von jetzt ab mein Onkel Artur sind! Wo steckt denn eigentlich Ihre saubere Begleiterin?«

»Wie zum Henker soll ich das wissen?« fragte Gordon aufsässig.

»Warten Sie!«

Diana eilte die Treppe hinauf in das Reservezimmer, wo sie den Mann und die Frau unterbringen wollte, die sie bestellt hatte. Sie fand Heloise dort mit tränenfeuchten Augen auf der Ecke des Bettes sitzen. Als die Tür aufgeschlossen wurde, sprang sie auf.

»Hören Sie mich doch an, Mrs. Selsbury«, begann sie in ihrer hohen, weinerlichen Stimme. »Ich kenne ja das Gesetz dieses Landes nicht, aber Sie haben kein Recht, mich einzuschließen –«

»Wünschen Sie, daß ich zur Polizei schicke?« fragte Diana.

»Sie irren sich wirklich, Mrs. Selsbury«, sagte Heloise mit tiefem Ernst. »Sie haben den größten Fehler Ihres Lebens gemacht. Dieser arme Fisch ist doch Ihr Mann!«

»Ich habe keinen Mann, keinen Fisch, kein Huhn und keinen Hering! Ich hatte niemals einen Mann.« Aber sie besann sich eines Besseren. »Ich bin nämlich Witwe.«

Heloise wußte nicht, was sie davon denken sollte.

»Vergessen Sie jetzt alles, was heute passiert ist«, sagte Diana plötzlich etwas zusammenhanglos. »Ich habe unerwartet Besuch bekommen, der hier in meinem Hause wohnen wird – ein alter Freund, ich war früher mit ihm verlobt, bis er im Busch starb.«

»Ist er hier?« fragte Heloise bestürzt.

»Ja«, nickte Diana. »Und er bleibt auch hier. Ich kann ihm natürlich nicht erlauben, hier zu wohnen, wenn ich nicht meine Tante oder eine Gesellschafterin habe. Sie sind also jetzt –« sie sprach jedes Wort mit großem Nachdruck aus – »Tante Lizzie.«

Heloise wußte auch nicht mehr, ob sie wachte oder träumte.

»Sie sind Tante Lizzie, und der verdammte Einbrecher, den Sie da geheiratet haben, was ich wenigstens hoffe, ist Onkel Artur. Gehen Sie jetzt in die Küche hinunter und sagen Sie ihm Bescheid.«

»Damit ich mich nicht irre – ich bin Tante Lizzie – Sie wollen, daß ich Ihre gute Tante Lizzie bin . . . und der arme Kerl in der Küche ist . . .?«

»Onkel Artur.«

»Ich habe die Sache noch nicht recht verstanden. Hier wird ein Film gedreht . . . Sie drehen selbst etwas.« Im Augenblick hatte sie vergessen, daß sie eine elegante Dame der Gesellschaft war. »Also ich bin Tante Lizzie . . .«

Sie sank vollständig zusammen unter der Last, die man ihr auferlegt hatte.

»Sie sind verrückt! Ich bin amerikanische Bürgerin, oder wenigstens beinahe. Ich lebe in Toronto, aber ich wohne so nahe, daß man einen Stein über die Grenze werfen könnte – und jetzt bin ich Tante Lizzie!«


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