Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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46

Eunice starrte auf die Tür. Sie irrte sich nicht. Der Riegel war erst kürzlich entfernt worden.

Der ›Pealigo‹ schaukelte jetzt stärker, und sie konnte nur schwer ihr Gleichgewicht behalten. Dennoch ging sie in der Kabine umher, nahm alle Stühle, Tische und alles bewegliche Mobiliar und türmte es gegen die Tür auf. Sie durchsuchte alle Schubladen nach irgendeinem Instrument oder einer Waffe, die der frühere Besitzer vielleicht zurückgelassen hatte. Aber sie konnte nichts anderes finden als eine mit Gold überzogene Haarbürste, die der reiche Maxilla übersehen hatte. Auch in den anderen Räumen war nichts zu entdecken.

Stunde um Stunde verging. Sie saß in einem Sessel und beobachtete die Tür. Es wurde kein Versuch gemacht, ihre Kabine zu betreten. An Deck schlug in Zwischenräumen eine Glocke. Sie zählte acht Schläge. Es war Mitternacht. Wie lange würde es noch dauern, bis Digby Groat kam?

Der saß in diesem Augenblick bleich und zitternd in der Funkkabine und las eine Botschaft, die eben aufgefangen worden war. Ein Teil war in Code abgefaßt und anscheinend an die Kriegsschiffe gerichtet, aber der größere Teil war in offener Sprache und lautete:

›An die Kapitäne und ersten Offiziere aller Schiffe, an die Kommandanten aller Schiffe Seiner Majestät, an alle Friedensrichter und alle Polizeibeamten von Großbritannien und Irland. Verhaften Sie Digby Groat, und setzen Sie ihn gefangen. Größe 1,70 Meter, kräftige Gestalt, dunkle Gesichtsfarbe. Kleiner, dunkler Schnurrbart, der vielleicht abrasiert ist. Spricht Spanisch, Französisch, Portugiesisch, hat Arztexamen bestanden. Ist wahrscheinlich an Bord der Jacht ›Pealigo‹. Dieser Mann wird steckbrieflich verfolgt wegen Mordes und Bandenverbrechens. Auf seine Ergreifung ist von Rechtsanwalt Mr. Salter in London eine Belohnung von fünftausend Pfund ausgesetzt. Es wird vermutet, daß in seiner Gesellschaft Dorothy Danton reist, die von ihm gefangengehalten wird. Alter zweiundzwanzig. Groat ist gefährlich und trägt Feuerwaffen.‹

Der kleine Kapitän des ›Pealigo‹ nahm die dünne Zigarre aus dem Munde und betrachtete aufmerksam die graue Asche. Dann schaute er wieder auf das bleiche Gesicht des Mannes.

»Sie verstehen, Sir«, sagte er höflich, »ich bin in einer sehr schwierigen Lage.«

»Ich dachte, Sie könnten nicht Englisch sprechen«, erwiderte Digby, der endlich seine Sprache wiederfand.

Der kleine Kapitän lächelte. »Ich kann genug Englisch lesen, um zu verstehen, was eine Belohnung von fünftausend Pfund bedeutet, Sir. Und wenn ich es nicht verstände, so spricht doch mein Funker verschiedene Sprachen, einschließlich Englisch. Der würde mir das schon erklärt haben, wenn ich es nicht selbst verstanden hätte . . .«

Digby sah ihn frostig an. »Was wollen Sie tun?«

»Das hängt ganz davon ab, was Sie zu tun für richtig halten. Ich bin kein Verräter, und ich möchte Ihnen gern zu Diensten sein. Aber Sie begreifen doch, daß es eine böse Sache für mich ist, wenn ich Sie bei Ihrer Flucht unterstütze, obwohl ich weiß, daß Sie von der englischen Polizei gesucht werden. Ich bin nicht engherzig«, meinte er achselzuckend. »Señor Maxilla hat auch allerhand gemacht, worüber ich ein Auge zugedrückt habe. Es wären aber meistens Weibergeschichten, niemals Mord.«

»Ich bin kein Mörder, das sage ich Ihnen doch«, rief Digby wild und heftig. »Sie sind unter meinem Befehl. Haben Sie mich verstanden?«

Er sprang auf und stand drohend vor dem Brasilianer, der sich jedoch nicht aus der Fassung bringen ließ. Plötzlich blitzte eine Waffe in Digbys Hand auf.

»Sie werden meine Befehle sorgfältig bis zum letzten Buchstaben ausführen oder bei Gott –«

Aber der Kapitän des ›Pealigo‹ betrachtete nur die Asche seiner Zigarre. »Es ist nicht das erstemal, daß man mich mit einem Revolver bedroht«, sagte er kühl. »Vor Jahren, als ich sehr jung war, hat mir das einmal Furcht eingejagt. Heute bin ich nicht mehr jung. Ich habe eine Familie in Brasilien, die mich viel Geld kostet. Mein Gehalt ist klein, sonst würde ich nicht mein Leben auf der See zubringen und mich soweit erniedrigen, alle Wünsche und Launen meiner Herren zu erfüllen. Wenn ich hunderttausend Pfund hätte, würde ich mir eine Plantage kaufen, mich dort niederlassen und glücklich, zufrieden und schweigsam den Rest meines Lebens zubringen.«

Er betonte das Wort ›schweigsam‹, und Digby verstand sehr wohl, was er damit sagen wollte. »Könnten Sie das nicht für etwas weniger als ausgerechnet hunderttausend Pfund tun?«

»Ich habe mir die Sache wohl überlegt. Wir Seeleute haben viel Zeit zum Nachdenken. Hunderttausend Pfund sind nun einmal für mich die Summe, die es mir ermöglichen würde, ein ruhiges Leben zu führen.« Er schwieg einen Augenblick, fuhr dann aber fort: »Deshalb habe ich auch wegen der ausgesetzten Belohnung gezögert. Hätte die Radiobotschaft hunderttausend Pfund angegeben, dann wäre mein Entschluß schon gefaßt.«

Digby wandte sich wütend nach ihm um. »Sprechen Sie aufrichtig und offen! Ich soll Ihnen also hunderttausend Pfund zahlen. Das ist der Preis, um den Sie mich sicher ans Ziel bringen werden? Sonst wollen Sie zum nächsten Hafen zurückkehren und mich den Behörden übergeben?«

Der Kapitän zuckte die Schultern. »Ich habe nichts Derartiges gesagt, Sir. Ich habe nur eine kleine, private Angelegenheit erwähnt und wäre froh gewesen, wenn Sie sich dafür interessiert hätten. Der gnädige Herr wünscht ja auch, in Brasilien glücklich zu leben, und zwar mit der schönen Dame, die er mitgebracht hat. Der gnädige Herr ist kein armer Mann, und wenn es wahr ist, daß die hübsche Dame ein großes Vermögen erbt, wird er ja noch reicher werden.«

Der Funker schaute zur Tür herein. Er wäre gern wieder in seine eigene Kabine gegangen, aber der Kapitän schickte ihn mit einer seitlichen Kopfbewegung wieder hinaus. Er sprach jetzt ganz leise. »Wäre es denn nicht möglich, daß ich zu der jungen Dame ginge und sagte: ›Mein Fräulein, Sie sind in großer Gefahr; auch ich muß mich in acht nehmen, daß ich nicht ins Gefängnis komme. Was würden Sie mir dafür zahlen, daß ich eine Schildwache vor Ihre Tür stellen, Señor Digby Groat in Eisen schließen und in einen sicheren Raum einsperren lasse?‹ Glauben Sie nicht, daß sie mir dafür hunderttausend Pfund geben würde, eventuell sogar die Hälfte ihres Vermögens?«

Digby schwieg. Der Verrat, den dieser Mann an ihm beging, war offenbar. Er gab sich nicht mehr die Mühe, ihn mit schönen Phrasen zu verbrämen, er hatte ihm die Wahrheit brutal und offen ins Gesicht gesagt. »Also gut.« Er erhob sich mit niedergeschlagenen Augen von der Tischkante, auf der er gesessen hatte. »Ich werde Ihnen die Summe zahlen.«

»Warten Sie noch. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, die ich Ihnen nicht verschweigen will. Nehmen Sie einmal an; ich sei ihr Freund, oder ich gebe wenigstens vor, es zu sein, und würde ihr anbieten, sie zu beschützen, bis wir einen Hafen erreichen, wo ich sie an Land setzen kann. Könnten wir uns dann nicht beide in die Belohnung teilen?«

»Ich denke gar nicht daran, sie aufzugeben«, sagte Digby wütend. »Diesen Plan können Sie ruhig vergessen, und ebenso die Bemerkung, daß Sie mich in Eisen legen wollen. Bei Gott, wenn Sie das meinten, dann –« Er schaute düster auf den kleinen Mann, der nur lächelte.

»Wer hat überhaupt eine richtige Meinung in diesem schrecklichen Klima?« fragte er nachlässig. »Sie werden mir das Geld morgen in meine Kabine bringen. Aber nein – besser heute abend«, fügte er nachdenklich hinzu.

»Ich werde es Ihnen morgen bringen.«

Der Kapitän zuckte die Schultern. Er bestand nicht auf seiner Forderung, und Digby blieb mit seinen Gedanken allein. Er hatte noch eine, sogar zwei Hoffnungen. Man konnte ihm nicht beweisen, daß er Fuentes erschossen hatte, und es war schwierig, die Jacht aufzugreifen, wenn sie den Kurs verfolgte, den der Kapitän ausgearbeitet hatte. Und in der Zwischenzeit war ja Eunice da. Seine Lippen kräuselten sich, und seine Wangen röteten sich wieder. Er ging das Deck entlang und trat in den Gang. Aber es stand ein breitschultriger, brauner Mann vor der Tür des Mädchens, der zwar zum Gruß die Hand an die Mütze legte, als der Besitzer der Jacht erschien, im übrigen aber nicht von der Stelle wich.

»Gehen Sie aus dem Weg«, sagte Digby ungeduldig. »Ich will in die Kabine.«

»Das ist nicht erlaubt«, erwiderte der Matrose.

Digby trat einen Schritt zurück, dunkelrot vor Ärger. »Wer gab Ihnen den Befehl, hier zu stehen?«

»Der Kapitän.«

Digby eilte die Treppe hinauf und fand den Kapitän auf der Brücke. »Was soll das bedeuten?«

Der Kapitän richtete einige Worte in Portugiesisch an ihn.

Digby schaute auf und gewahrte einen dünnen, weißen Lichtkegel, der das Meer absuchte.

»Es ist ein Kriegsschiff. Möglich, daß es nur eine Übung abhält«, sagte der Kapitän, »aber es kann auch nach uns Ausschau halten.«

Er gab einen kurzen Befehl, und plötzlich wurden alle Lichter an Bord gelöscht. Der ›Pealigo‹ drehte in einem Halbkreis um und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. »Wir müssen einen Umweg machen, um hier vorbeizukommen«, erklärte er. Digby vergaß im Augenblick die Schildwache vor der Kabinentür.

Links und rechts schwankte der Lichtkegel über die Wasserfläche, aber der Strahl berührte den ›Pealigo‹ nicht. Jetzt wurde er nach der Stelle gerichtet, wo die Jacht gewendet hatte, und nur um wenige Meter ging der helle Schein am Schiff vorbei.

»Wohin fahren wir jetzt?« fragte Digby mürrisch.

»Zunächst zehn Meilen zurück, dann werden wir versuchen, zwischen dem Schiff und der irischen Küste durchzukommen. Irland liegt dort.« Er zeigte auf den Horizont, wo sich der Lichtschein eines Leuchtturmes zeigte und dann wieder verschwand.

»Wir verlieren aber wertvolle Zeit«, sagte Digby vorwurfsvoll.

»Es ist besser, Zeit zu verlieren als die eigene Freiheit«, meinte der Kapitän philosophisch.

Digby mußte sich an der Reling festhalten. Sein Mut sank, als das Licht des Scheinwerfers in der Nähe weitersuchte. Aber sie hatten Glück.

Sie waren eben der Gefahr entkommen, als sich Digby wieder daran erinnerte, warum er auf die Kommandobrücke gekommen war. »Was soll das heißen, daß Sie einen Wachtposten vor die Kabine der Dame gestellt haben?«

Der Kapitän war in das Deckhaus gegangen und beugte sich über eine Seekarte der britischen Admiralität. Er antwortete nicht, und Digby mußte seine Frage wiederholen. Dann richtete er sich steif auf. »Die Zukunft der Dame hängt ganz davon ab, wie Sie Ihr Versprechen halten, Sir«, erwiderte er höflich in seiner Muttersprache.

»Aber ich habe Ihnen doch versprochen –«

»Sie haben aber das Versprechen noch nicht eingelöst.«

»Sie werden doch nicht an meinen Worten zweifeln?«

»Ich zweifle nicht daran. Wenn Sie mir das Geld in meine Kabine bringen, kann ich diese Angelegenheit ja regeln.«

Digby dachte einen Augenblick nach. Sein Interesse an Eunice hatte stark nachgelassen, als diese neuen Gefahren auf ihn einstürmten. Es war eigentlich kein Grund vorhanden, warum er schon heute abend bezahlen sollte. Wenn er gefangen werden sollte, hatte er das Geld umsonst ausgegeben. Es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß es dann erst recht für ihn verloren sei.

Er ging in seine Kabine, die kleiner und weniger luxuriös ausgestattet war als die von Eunice. Er schob einen Armsessel an den kleinen Schreibtisch, setzte sich nieder und überdachte die Lage. Im Laufe der Stunden änderte er seine Meinung. Die Gefahr schien doch sehr weit ab zu liegen, aber Eunice war in nächster Nähe. Und wenn er in wirkliche Bedrängnis kam, konnte er ja mit allem Schluß machen, auch mit ihr. Das Geld hatte dann ebensoviel Wert für ihn wie der Schaum der Wellen, der gegen seine Fenster spritzte.

Hinter dem Schreibtisch war ein kleiner Geldschrank eingebaut. Er schloß ihn auf, nahm den großen Geldgürtel heraus, leerte eine der großen Taschen und legte die Banknoten auf das Pult. Es waren große Scheine, von denen jeder zehntausend Dollar Wert hatte. Er zählte vierzig ab, steckte die anderen zurück und verschloß sie wieder im Geldschrank. Es war jetzt halb sechs, und der Horizont im Osten färbte sich heller.

Digby steckte das Geld in die Tasche, um mit dem Kapitän zu reden. Ihn fror im kalten Morgenwind, als er aufs Deck trat. Der kleine Brasilianer hatte einen Mantel angezogen und den Kragen hochgeschlagen. Er stand oben auf der Kommandobrücke und starrte über die graue Wasserwüste. Ohne ein Wort zu verlieren, trat Digby an ihn heran und gab ihm das Paket Banknoten in die Hand. Der Brasilianer schaute auf das Geld, zählte es mechanisch durch und ließ es dann in seine Tasche gleiten.

»Euer Exzellenz sind sehr freigebig.«

»Nehmen Sie jetzt die Schildwache von der Tür zurück!«

»Warten Sie hier«, sagte der Kapitän und ging nach unten.

Einige Minuten später kam er zurück.


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