Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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35

Eunice erwachte und versuchte sich klarzumachen, was geschehen war. Ihre letzte, klare Erinnerung knüpfte sich an ihr Zimmer in Mrs. Groats Haus. Digby Groat – sie zitterte bei dem Gedanken – war auf sie zugekommen. – Sie setzte sich aufrecht im Bett hin, sank aber mit furchtbaren Kopfschmerzen wieder zurück. Wo war sie? Sie schaute sich um. Der Raum war einfach möbliert, ein schwerer, grüner Vorhang war vor das kleine Fenster gezogen, aber es war genug Licht im Zimmer, daß sie den großen Kleiderschrank, die eiserne Bettstelle, den Waschständer und den Teppich erkennen konnte.

Sie war vollständig angezogen und fühlte sich entsetzlich elend. Sie wünschte sich in diesem Augenblick wieder nach Grosvenor Square zurück, zu ihrem luxuriösen Baderaum. Wie gerne hätte sie jetzt ein erfrischendes Brausebad genommen!

Wo mochte sie nur sein? Sie stand auf, schwankte durch das Zimmer und zog den Vorhang zur Seite. Ihr Blick fiel auf die grauen Hinterwände hoher Gebäude. Sie war also in London. Nur in London konnte man derartig hohe und langweilige Häuser sehen. Als sie die Tür zu öffnen suchte, fand sie, daß sie verschlossen war. Gleich darauf hörte sie draußen Schritte.

»Guten Morgen«, sagte Digby Groat, als er aufschloß und eintrat.

Zuerst erkannte sie ihn in seiner Chauffeurkleidung und ohne Schnurrbart nicht.

»Sie?« fragte sie in wildem Schrecken. »Wo bin ich? Warum haben Sie mich hierhergebracht?«

»Wenn ich Ihnen auch sagte, wo Sie sind, so würde Ihnen das doch nichts nützen«, erwiderte Digby kühl. »Und warum Sie bei mir sind, ist doch wohl klar. Seien Sie vernünftig und frühstücken Sie etwas.«

Er schaute sie als Arzt an. Die Wirkung des Betäubungsmittels hatte noch nicht aufgehört, und sie setzte ihm noch keinen großen Widerstand entgegen.

Ihre Kehle war verdorrt, und sie fühlte furchtbaren Hunger. Sie nippte an dem Kaffee, den er zubereitet hatte, und sah ihn dauernd an.

»Ich will Ihnen einmal etwas erklären«, sagte er plötzlich. »Ich bin in schwere Bedrängnis gekommen, und es ist notwendig, daß ich fortgehe.«

»Sie wollen Grosvenor Square verlassen? Gehen Sie nicht dorthin zurück?«

Er lächelte. »Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht«, sagte er ironisch. »Ihr Freund Steele –«

»Ist er dort?« rief sie begierig und schlug die Hände zusammen. »Erzählen Sie mir doch, bitte.«

»Wenn Sie glauben, daß ich das Lob Ihres Liebhabers singe, dann irren Sie sich gewaltig«, sagte Digby kühl. »Nun essen Sie etwas, und seien Sie ruhig!« Er sprach ohne Erregung, aber es lag etwas Drohendes in seinem Ton, so daß sie ihn nicht reizen wollte.

Allmählich begriff sie ihre Lage. Digby war auf der Flucht und nahm sie mit. Warum war sie nur mitgegangen? Er mußte sie irgendwie betäubt haben! Und plötzlich besann sie sich auf die Spritze, die er ihr gegeben hatte, und rieb instinktiv ihren Arm.

Digby sah diese Bewegung und erriet ihre Gedanken. Wie reizend sie wieder aussah! Trotz all der für sie schrecklichen Erlebnisse waren ihre Augen doch klar, und er freute sich, als er sie betrachtete. Weibliche Schönheit machte sonst selten Eindruck auf ihn, aber von ihrem Anblick war er stets aufs neue hingerissen.

»Eunice, ich werde Sie heiraten!«

»Mich heiraten?« fragte sie erstaunt. »Das werden Sie nicht tun, Mr. Groat. Ich will Sie nicht heiraten.«

»Darauf kommt es gar nicht an.« Digby lehnte sich über den Tisch. »Eunice«, sagte er leise, »wissen Sie, was ich Ihnen biete, und was geschieht, wenn Sie mein Angebot abweisen?«

»Ich werde Sie nicht heiraten!« erwiderte sie entschieden. »Und Sie können durch keine Drohung meine Entschlüsse ändern.«

Er sah sie unentwegt an. »Wissen Sie auch, daß ich es in der Hand habe, Sie dahin zu bringen, daß Sie froh sind, mich heiraten zu dürfen?« Er wählte seine Worte mit großer Überlegung und sprach nachdrücklich. »Und daß ich vor nichts – aber auch vor gar nichts zurückschrecke?«

Sie antwortete nicht, aber sie erblaßte.

»Verstehen Sie mich endlich, mein Liebling? Es ist absolut notwendig, daß ich Sie heirate! Entweder nehmen Sie meinen Antrag an, oder Sie haben die Folgen zu tragen. Und Sie können sich denken, welche Folgen das sein werden.«

Sie hatte sich erhoben und schaute verächtlich auf ihn herunter. »Ich bin in Ihrer Gewalt«, sagte sie ruhig. »Tun Sie, was Sie wollen. Aber bei klarem Bewußtsein werde ich Sie niemals heiraten. Sie haben mich gestern betäubt, so daß ich mich nicht darauf besinnen kann, was in der Zeit passierte, nachdem ich Ihr Haus verließ und hier ankam. Möglicherweise können Sie mich wieder in dieselbe Lage versetzen, aber früher oder später, Digby Groat, werden Sie für all das Böse, das Sie getan haben, zur Rechenschaft gezogen werden.«

Sie wandte sich, um den Raum zu verlassen, aber er war vor ihr an der Tür und zog sie heftig zu sich. »Wenn Sie schreien, schlage ich Sie tot!«

Sie schaute ihn mit eisigen Blicken an. »Ich werde nicht schreien!«

Und sie war auch ganz ruhig, als die spitze Nadel der Spritze wieder in ihren Arm drang.

»Wenn mir irgend etwas passiert«, sagte sie kaum hörbar, »werde ich mir vor Ihren Augen das Leben nehmen, mit einer Ihrer Waffen.« Ihre Stimme wurde schwächer, und er beobachtete sie scharf.

Zum erstenmal erschrak er. Sie hatte ihn an einem empfindlichen Punkt getroffen – seiner eigenen, persönlichen Sicherheit! Sie wußte es. Wie war ihr nur dieser Gedanke gekommen? Er beobachtete sie und sah, wie sie unter dem Einfluß der Spritze erst erblaßte und dann wieder rot wurde. Sie würde ihre Drohung ausführen, so weit kannte er sie. Angstschweiß trat auf seine Stirn. Sie hätte es ja hier tun können, und er hätte seine Unschuld an ihrem Tod nicht beweisen können.

Er ließ ihre Hand fallen und führte sie zu einem Stuhl. Wieder strich sie über ihren Arm.

»Stehen Sie auf«, sagte Digby Groat dann. Sie gehorchte. »Gehen Sie jetzt in Ihr Zimmer, und bleiben Sie solange dort, bis ich Sie brauche.«


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