Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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39

Jim Steele war dem Tod wieder einmal mit genauer Not entgangen, wie schon so oft in seinem abenteuerreichen Leben. Er war nicht in einen Bach oder Fluß, sondern in ein tiefes Wasserloch gefallen, dessen Boden so morastig war, daß er steckenblieb.

Er mühte sich vergeblich ab, wieder loszukommen, und war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren, als er plötzlich an die Wurzeln eines Baumes faßte, der am Rande stand. Mit der Kraft der Verzweiflung zog er sich hinauf und lag nun auf festem Boden, unbekümmert um den Regen, und rang nach Atem.

Zwei andere müssen auch hier in der Nähe sein, dachte er und richtete sich mühsam in kniende Stellung auf. Plötzlich hörte er, kaum zehn Meter entfernt, Digby Groats Stimme: »Bleiben Sie an meiner Seite!«

»Das will ich tun«, murmelte Jim und ging vorsichtig der Richtung nach, in der er die Stimme gehört hatte, obwohl er niemand sehen konnte. Der Zug, der angehalten hatte, fuhr wieder weiter, und der Lärm übertönte jedes andere Geräusch.

Jim eilte weiter, sah gleich darauf das Schlußlicht des Wagens auf der Straße und hörte Schritte. Er begann zu laufen, um die beiden womöglich noch zu überholen, bevor sie den Wagen erreichten. Aber als er auf die offene Straße kam, fuhr das Auto eben davon. Er griff nach seinem Revolver. Wenn es ihm gelang, die Reifen der Hinterräder durch einen Schuß zu treffen, konnte er den Wagen anhalten. Jim war ein sicherer Schütze. Er zielte und drückte ab, aber die Pistole ging nicht los, sie war durch den Sturz in das Wasser verschlammt.

Der Wagen entfernte sich immer weiter, er konnte ihn nicht mehr erreichen. Er fühlte Schmerzen in allen Gliedern, aber er ließ sich durchaus nicht abschrecken. Schnell steckte er die Waffe in die Tasche und rannte in der Richtung, die der Wagen genommen hatte.

Er war gut trainiert, und das Laufen machte ihm keine großen Schwierigkeiten. Im Gegenteil, durch die Bewegung wurde er warm, der Krampf seiner Glieder löste sich, und er konnte ruhiger nachdenken. Er eilte immer in gleichmäßiger Geschwindigkeit dahin, nicht zu schnell, um sich nicht zu verausgaben.

Nach einer halben Stunde entdeckte er den Wagen wieder. So war seine Anstrengung also doch von Erfolg gekrönt worden. Aber kaum hatte er das rote Schlußlicht gesehen, als das Auto sich wieder in Bewegung setzte. Warum hatte es angehalten? Jim ging langsam. Vielleicht hatte es eine Panne, vielleicht hatte der Wagen auch vor einem Haus gehalten. Groat besaß ja viele Schlupfwinkel im ganzen Land.

Jim sah das Haus und ging vorsichtig näher, als er hörte, wie jemand nach der Zeit fragte. Er konnte aber weder Villa noch Bronson erkennen und überlegte sich, was er machen solle. Das Haus hätte er ja leicht betreten können, aber mit einer versagenden Pistole konnte er nicht den Versuch machen hineinzugehen. Das würde weder ihm noch Eunice geholfen haben. Wenn er doch nur nicht in das Wasserloch gefallen wäre! Plötzlich tauchte ein Mann vor ihm auf, und er blieb stehen. Der Fremde wandte ihm den Rücken zu, rauchte und schien vor dem Hause auf und ab zu gehen. Es hatte aufgehört zu regnen. Als der Mann wieder zurückkam, ging er so nahe an Jim vorbei, daß er ihn von seinem Versteck aus hätte fassen können.

Nach einer Weile rief jemand: »Bronson!«

Jim dachte nach. Der Name kam ihm bekannt vor.

Der Mann drehte sich um und ging schnell ins Haus. Jim hörte eine leise Unterhaltung, verstehen konnte er natürlich nichts. Aber er mußte erfahren, wovon gesprochen wurde, und er schlich sich näher an das Haus heran. Ein kleiner Vorbau wölbte sich über der Haustür, und hier standen die beiden Männer.

»Ich werde im Gang schlafen«, sagte Villa mit seiner tiefen Stimme. »Wenn Sie wollen, können Sie im anderen Zimmer übernachten . . .«

»Nein, danke schön«, erwiderte der Größere, der auf den Namen Bronson hörte. »Ich will lieber die ganze Nacht bei der Maschine bleiben, ich brauche nicht zu schlafen.«

Was meinte er mit der Maschine? Hatten sie noch ein anderes Auto hier?

»Wird Groat in der Nacht noch ankommen?« fragte Villa.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wenn er keinen Aufenthalt hat und ihm sonst nichts passiert, wird er morgen früh in Kennett Hall sein. Die Straße dorthin ist allerdings sehr schlecht.«

Kennett Hall! Das war doch die Besitzung, von der Mrs. Weatherwale gesprochen hatte. Sie hatte ihm erzählt, daß es das Stammgut der Dantons war. Was für ein Narr war er gewesen, daß er nicht gleich daran gedacht hatte, als sie überlegten, wohin Digby Groat sich gewandt haben mochte! Villa und Bronson rauchten beide, und Jim beneidete sie darum.

»Werden wir Schwierigkeiten mit ihr haben, Mr. Villa?«

»Bestimmt nicht. Sie wird entsetzliche Angst haben. Ich glaube nicht, daß sie jemals zuvor geflogen ist.«

Der andere lachte.

Die Maschine, die er eben erwähnt hatte, war also ein Flugzeug. Wo mochte es stehen? Er strengte seine Augen an, doch es war so dunkel, daß er nichts unterscheiden konnte.

»Wird der Regen nicht schaden?«

»Nein«, sagte Bronson. »Ich habe den Motor zugedeckt; ich habe die Maschine schon oft die ganze Nacht draußen im Freien gehabt.«

Das ist nicht die richtige Behandlung, dachte Jim, dem ein Flugzeug soviel wie ein lebendiges Wesen war. Eunice war also hier, und sie wollten sie im Flugzeug irgendwohin bringen. Was konnte er tun? Er konnte nach Rugby zurückgehen und die Polizei informieren.

»Wo ist Fuentes?« fragte Bronson. »Mr. Groat sagte doch, daß er auch hier sein würde.«

»Er ist unterwegs nach Rugby. Er hat eine Leuchtpistole bei sich und soll uns benachrichtigen, wenn ein Polizeiwagen hinter uns her ist. Aber wenn Sie sich nicht hinlegen wollen, Bronson, werde ich es wenigstens tun. Sie können dann ja hier aufpassen.«

Fuentes war demnach auch an der Sache beteiligt. Es war gut, das zu wissen, sonst wäre Jim ihm eventuell in die Arme gelaufen. Jim überlegte, daß Fuentes wahrscheinlich in der Nähe von Rugby Posten gefaßt hatte. Wer konnte wissen, welche Befehle Digby Groat gegeben hatte und was für Vorbereitungen getroffen waren für den Fall eines Befreiungsversuches? Jim entschloß sich, hier zu warten, und hoffte gegen sein besseres Wissen, daß eine Polizeipatrouille hier vorbeikommen könnte.

Villa steckte sich eine neue Zigarre an, und Jim konnte in dem Lichtschein die beiden Leute einen Augenblick sehen. Bronson trug Fliegerkleidung, Lederrock, Lederhose und hohe Stiefel. Plötzlich kam Jim ein Gedanke, als er die Größe des Mannes betrachtete. Welch ein Ende des ganzen Abenteuers wäre das!

Villa gähnte.

»Ich lege mich jetzt in den Gang, und wenn sie versuchen sollte, das Haus zu verlassen, wird sie einen bösen Schrecken bekommen! Gute Nacht, wecken Sie mich um halb fünf!«

Bronson brummte etwas und nahm dann seinen Spaziergang wieder auf. So verstrichen zehn Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Man konnte nur die Regentropfen von den Bäumen fallen hören und das ferne Rattern der Züge, die durch Rugby fuhren.

Im Norden waren die weißen Lichter der Eisenbahnstation und der Werkstätten zu sehen. Im Westen konnte man an dem helleren Schein des Himmels die Lage von London erkennen. Jim nahm die Pistole aus der Tasche und ging gebückt vorwärts, so daß Bronson glaubte, er sei aus dem Boden geschossen, als er sich plötzlich erhob. Er fühlte den kalten Lauf einer Pistole in seinem Gesicht.

»Wenn Sie irgendein Geräusch machen, Sie niederträchtiger Kerl, dann knalle ich Sie einfach nieder. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja«, sagte der Mann, er zitterte vor Furcht.

Jim packte ihn mit der linken Hand am Kragen. Felix Bronson war im Grunde ein ängstlicher Mann, nur die Luft hatte für ihn keine Schrecken. »Wo ist der Kasten?« fragte Jim leise.

»Auf dem Feld hinter dem Haus«, antwortete Bronson ebenso leise. »Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie? Wie sind Sie auf die Spur gekommen?«

»Fragen Sie nicht soviel auf einmal! Gehen Sie vorwärts – nicht diesen Weg«, sagte er, als Bronson auf das Haus zugehen wollte.

»Wir müssen über den Zaun klettern, wenn wir nicht hier entlanggehen«, erwiderte Bronson mürrisch.

»Dann klettern Sie eben über den Zaun, das wird Ihnen gut tun, Sie fauler Teufel!«

Sie gingen querfeldein, und Jim sah plötzlich die Umrisse des Flugzeuges sich vom Himmel abheben.

»Ziehen Sie ihre Kleider aus!« befahl er.

»Was wollen Sie?« fragte Bronson entsetzt. »Ich kann mich doch hier nicht ausziehen!«

»Ich werde es Ihnen bald beibringen – das geht sehr gut. Es wird leichter sein, wenn Sie sich selbst ausziehen, als wenn ich einem Toten die Kleider abstreifen muß.«

Widerwillig zog Bronson die Lederjacke aus.

»Werfen Sie sie nicht in das feuchte Gras! Ich will keine nassen Kleider anlegen!«

Im Dunkeln faßte Bronson plötzlich nach seiner Hüfttasche, aber bevor er die Pistole fassen konnte, hatte Jim ihn am Handgelenk gepackt und herumgerissen. Im nächsten Augenblick hatte er ihm die Waffe entwunden.

»Das trifft sich ja vorzüglich!« Jim warf seine eigene Waffe ins Gras. »Meine ist nämlich nicht mehr ganz in Ordnung, aber die Ihrige ist sicher gut. Nun ziehen Sie schnell die Hosen und die Schuhe aus!«

»Ich werde mich erkälten!« Bronsons Zähne klapperten.

»Wenn Sie sterben, werde ich einen Kranz zu Ihrer Beerdigung schicken«, entgegnete Jim ironisch. »Aber ich glaube, Sie sind nicht geboren, an Erkältung zu sterben. Eher durch eine Schlinge, die man Ihnen um den Hals legt!«


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