Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

25

Jim las das Telegramm noch einmal durch. Er konnte kaum seinen Augen trauen oder den Sinn erfassen.

»Sie ist im Alter von zwölf Monaten begraben worden?« sagte er ungläubig. »Das ist doch unmöglich, sie ist doch hier und lebt! Außerdem habe ich neulich jemand kennengelernt, der die Weldons unten in Südafrika getroffen hat und sich noch sehr gut an Eunice erinnern kann, die damals noch ein Kind war. Ein Fall von Kindesunterschiebung kann hier doch nicht vorliegen.«

»Die Sache ist ganz rätselhaft«, erwiderte Lady Mary sanft, als sie das Telegramm wieder in ihre Handtasche steckte.

»Aber ich weiß, daß der Mann, der mir dieses Telegramm sandte, einer der vertrauenswürdigsten Detektive in Südafrika ist.«

Jims Gedanken wirbelten durcheinander.

Eunice Weldon wurde geboren, Eunice Weldon starb, und doch lebte Eunice Weldon im Augenblick und war frisch und munter, obgleich sie gerade jetzt wünschte, lieber tot zu sein. Jim stützte den Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hand.

»Ich muß gestehen, daß ich vollkommen verwirrt bin. Dann muß man wohl annehmen, daß die Eltern nach dem Tod ihrer eigenen Tochter ein anderes Kind angenommen haben, und zwar Eunice. Die Frage ist nur, woher sie kam. Ihr selbst ist nichts von einer Adoption bekannt.«

»Ich habe bereits an meinen Agenten in diesem Sinne gekabelt und ihm den Auftrag gegeben, über eine eventuelle Adoption zu berichten. Durch die letzten Ereignisse gewinnt die alte Annahme wieder an Glaubwürdigkeit.«

Er sah sie an. »Sie meinen, daß Eunice Ihre Tochter sein könnte?«

Sie nickte langsam.

»Aber von der Narbe an ihrer Hand wissen Sie nichts?«

»Das kann ja später passiert sein – nachdem ich sie aus den Augen verlor.«

»Wollen Sie mir nicht erklären, Lady Mary, wann Sie sich von Ihrer Tochter trennten?«

»Nein, noch nicht.«

»Aber vielleicht können Sie mir ein andere Frage beantworten. Kennen Sie Mrs. Groat?«

»Ja.«

»Kennen Sie auch eine Mrs. Weatherwale?«

Lady Mary sah ihn mit großen Augen an.

»Ja, ich kenne sie. Sie war eine Farmerstochter, die Jane sehr zugetan war, eine liebenswürdige und nette Frau; ich habe mich oft darüber gewundert, wie Jane zu dieser Freundschaft kam.«

Jim erzählte ihr, was er von den letzten Vorgängen in der Familie Groat erfahren hatte.

»Wir wollen unsere Karten soweit wie möglich aufdecken«, sagte sie schließlich. »Glauben Sie, daß Jane Groat irgendwie an dem Verschwinden meiner Tochter mitverantwortlich ist?«

»Offen gestanden, ja«, erwiderte Jim, »Und wie denken Sie darüber, Lady Mary?«

»Ich war früher auch dieser Ansicht. Aber nach den Nachforschungen, die ich anstellte, hat sie nichts damit zu tun. Sie hat zwar einen sehr bösen Charakter und ist niederträchtiger und gemeiner als irgendeine Frau, die ich sonst kennenlernte, aber sie war doch nicht so schlecht, daß sie an dem Geschick meiner kleinen Tochter Dorothy schuld wäre.«

»Können Sie mir nicht noch mehr über sie erzählen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber vielleicht könnten Sie mir doch eine Aufklärung geben, die meine Nachforschungen erleichtert?«

»Bis jetzt kann ich nichts weiter sagen«, entgegnete sie leise, erhob sich und verließ das Zimmer, ohne sich zu verabschieden.

Jim war wieder ganz bei der Sache. Das neue Telegramm aus Südafrika zeigte ihm die ganze Frage in einem anderen Licht, und das Zerwürfnis mit Eunice war im Vergleich damit vollständig bedeutungslos. Wenn sie nun doch Lady Marys Tochter wäre! Er atmete schwer bei dem Gedanken an die Konsequenzen dieser Möglichkeit, obwohl er sie schon früher überlegt hatte.

Sicher hätte Mrs. Groat das ganze Geheimnis aufklären können, aber jeder Versuch, den er gemacht hatte, Einzelheiten über ihr Vorleben zu erfahren, war vergeblich gewesen. Entweder wußten die Leute, die sie früher gekannt hatten, nichts davon, oder sie wollten nichts darüber aussagen.

 

Es war wenig Aussicht vorhanden, Mr. Septimus Salter noch im Büro zu treffen, und so ging Jim in seine Garage, wo er seinen kleinen Wagen untergestellt hatte, und fuhr nach Chislehurst, wo Mr. Salter wohnte.

Der alte Herr war allein zu Haus, und Jim wurde liebenswürdiger empfangen, als er erwartet hatte.

»Sie bleiben natürlich zum Dinner bei mir«, sagte der Rechtsanwalt.

»Nein, ich danke Ihnen. Ich bin in großer Eile. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie Mrs. Weatherwale kennen?«

Der Rechtsanwalt runzelte die Stirn.

»Weatherwale – Weatherwale? Ja, ich kann mich auf den Namen besinnen; sie wird in dem Testament von Mrs. Groat erwähnt. Ich glaube, sie hat ihr ein Legat von mehreren hundert Pfund vermacht. Der Vater war ein alter Pächter der Dantons.«

»Ja, das ist die Frau«, sagte Jim und erzählte seinem Chef alles, was er von dem Besuch Mrs. Weatherwales erfahren hatte.

»Das zeigt nur«, sagte Mr. Salter, »daß die schrecklichsten Geheimnisse, die wir Rechtsanwälte in den tiefsten Tiefen der Aktenschränke und in Stahlkammern gesichert glauben, allgemein bekannt sind. Also nun hören Sie, Jim. Estremeda ist natürlich der spanische Gesandtschaftsattaché, der im Hause Dantons ein und aus ging, als Jane noch ein schönes Mädchen war. Er ist der Vater Digby Groats, seine Mutter war leidenschaftlich in den Spanier verliebt. Ich wußte schon längst, daß sie in irgendeinen Skandal verwickelt war, aber jetzt sehe ich ganz genau, warum ihr Vater niemals mehr mit ihr gesprochen hat und warum er sie enterbte. Trotzdem bin ich sicher, daß ihr Bruder Jonathan Danton nichts von ihren Fehltritten wußte, sonst hätte er ihr keinen Pfennig hinterlassen. Er war in diesem Punkt ebenso unbeugsam wie die anderen Dantons. Sein Vater hat ihm offenbar nichts davon mitgeteilt. Eine merkwürdige Sache, wirklich sehr merkwürdig! Was wollen Sie denn nun weiter tun?«

»Ich werde Mrs. Weatherwale in Somerset aufsuchen; vielleicht kann ich durch eine Unterhaltung mit ihr neue Tatsachen herausbekommen.«


 << zurück weiter >>