Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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38

Sie atmete freier, als sie sah, daß er den kleinen, schwarzen Kasten in die Tasche zurücksteckte. Plötzlich verlangsamte sich die Fahrt des Zuges, und er hielt mit einem so heftigen Ruck an, daß sie beinahe von ihrem Sitz geschleudert wurde. »Ist ein Unglück passiert?«

»Ich glaube nicht«, sagte Digby und zeigte lachend seine Zähne. Er hatte seine Kleider und auch den schwarzen Hut in Ordnung gebracht, ließ jetzt das Fenster hinunter und schaute in die Nacht hinaus. Er hörte, wie die Beamten einander zuriefen und sah Signallampen. Schnell öffnete er die Tür und wandte sich nach Eunice um.

»Kommen Sie heraus«, befahl er scharf.

Sie stand erschrocken auf.

»Wir sind doch noch nicht auf dem Bahnsteig?«

»Kommen Sie schnell heraus und erinnern Sie sich an Ihr Versprechen!«

Mühsam trat sie hinaus in die Dunkelheit. Er half ihr von dem Trittbrett herunter, faßte sie am Arm, und sie stolperten die Böschung hinab, bis sie auf ein Feld kamen, das mit hohem Gras bestanden war. Ihre Schuhe und Strümpfe wurden naß vom Regen, der mit ungewöhnlicher Heftigkeit niederging, und sie konnte sich kaum auf den Füßen halten. Aber Digby umspannte fest ihren Arm und schritt schnell vorwärts. Er schien den Weg zu kennen, obwohl sie kaum einige Meter weit sehen konnte. Bevor sie die Wiese überquert hatten, war sie vollständig durchnäßt. Sie hörte Digby fluchen, als er sich in seinem Kleid verfing. Sonst hätte sie sicher über sein Aussehen gelacht, aber jetzt war sie zu bestürzt, um sich über irgend etwas belustigen zu können. Dafür waren ihr Mut und ihre Entschlußkraft gewachsen.

Digby hielt einen Augenblick an und horchte, aber er hörte nichts als den Regen. Als Eunice zurückschaute, sah sie, daß der Zug weiterfuhr, und sie wunderte sich, warum er gerade an dieser Stelle gehalten hatte.

»Ich hätte beinahe darauf geschworen, daß ich jemand hier durch den Morast gehen hörte«, sagte Digby. »Kommen Sie mit, dort steht der Wagen.«

Sie entdeckte einen schwachen Lichtschimmer. Gleich darauf traten sie aus den sumpfigen Feldern heraus und erreichten einen festen Weg, auf dem sie besser gehen konnte.

Sie hatte einen Schuh verloren und schleuderte nun auch den anderen fort. Sie konnte leichter in Strümpfen gehen, da die dünnen Sohlen vollständig durchnäßt waren.

Sie hatten nicht mehr lange zu gehen. Aus dem Seitenweg kamen sie auf die Hauptstraße, wo ein geschlossener Wagen wartete. Digby schob Eunice hinein, sprach ein paar leise Worte zum Fahrer und stieg dann hinter ihr ein.

»Dieser verfluchte Regen! Aber ich will mich nicht darüber beschweren, er hat unsere Flucht sehr begünstigt.«

Plötzlich wurde es hell im Wagen. Er hatte seine kleine Taschenlampe angemacht.

»Wo haben Sie Ihre Schuhe?«

»Ich habe sie auf dem Felde verloren.«

»Verdammt, warum haben Sie das getan?« fragte er ärgerlich. »Sie wollten wohl ein Zeichen für Jim Steele zurücklassen?«

»Seien Sie nicht unvernünftig, Mr. Groat. Es waren doch nicht meine Schuhe, also kann man auch nicht daran erkennen, daß ich hier war.«

Er antwortete ihr nicht, sondern saß zusammengekauert in einer Ecke, während der Wagen durch die Dunkelheit fuhr. Es dauerte etwa eine Viertelstunde, dann hielt der Wagen vor einem kleinen Hause, und Digby sprang hinaus.

»Ich werde Sie tragen«, sagte er zu ihr.

»Das ist nicht notwendig«, erwiderte Eunice kühl.

»Doch, ich will es«, forderte er. »Ich wünsche nicht, daß man Ihre Fußspuren hier auf der Straße sieht.«

Er hob sie auf. Es wäre töricht gewesen, ihm Widerstand zu leisten. Sie mußte seine Berührung dulden, bis er sie auf einen mit Steinplatten belegten Hausflur niedersetzte. Ein dumpfer Geruch schlug ihr entgegen.

»Ist ein Feuer angesteckt?« fragte er den Fahrer über die Schulter.

»Jawohl, im hinteren Zimmer. Ich dachte mir schon, daß Sie es bei dem Regen brauchen . . .«

»Machen Sie auch im anderen Kamin Feuer«, befahl Digby. Er stieß die Tür auf. Der Schein des Kaminfeuers war das einzige Licht im Raum.

Gleich darauf brachte der Fahrer eine Lampe. Digby bot einen traurigen, ja lächerlichen Anblick. Seine graue Perücke war durchnäßt und hing ihm tief ins Gesicht, sein Kleid war über und über mit Schlamm und Schmutz bedeckt, und seine leichten Schuhe waren vollständig verdorben.

Sie selbst befand sich in keinem besseren Zustand, aber sie dachte jetzt nicht an ihr Aussehen. Sie fror und zitterte, trat näher an das Feuer und streckte ihre eiskalten Hände nach der Flamme aus.

Digby ging aus dem Zimmer, und sie hörte ihn draußen leise sprechen. Aber der Mann, mit dem er sich unterhielt, war anscheinend nicht der Fahrer.

Sie überlegte sich, wo sie diese Stimme schon gehört hatte, und nach einer Weile konnte sie sich darauf besinnen. Es war der Mann, den sie und Jim damals aus Digbys Haus hatten heraustreten sehen, als sie auf den Stufen vor der Haustür standen. Plötzlich kam Digby mit einem Handkoffer zurück. »Sie müssen sich jetzt umziehen, hier finden Sie alles, was Sie nötig haben.« Er stellte die Ledertasche hin, dann zeigte er auf ein Bett, das in der Ecke des Zimmers stand.

»Wir haben keine Handtücher hier, aber vielleicht können Sie eins der Bettücher verwenden, um sich abzutrocknen.«

»Ihre Sorge um mich ist geradezu rührend«, sagte sie verächtlich, und er lachte.

»Ich habe es gern, wenn Sie so sind«, erwiderte er bewundernd. »Es ist Ihr Verstand, Ihre Energie, die ich liebe. Wenn Sie eins von diesen jammernden und winselnden Geschöpfen wären, eins von diesen furchtsamen Mädchen, die keinen Mut haben, wäre ich schon längst mit Ihnen fertig. Aber ich will Ihren teuflischen Stolz schon noch bändigen. Sie glauben wohl, Sie könnten mich verachten? Und Sie wären besser als alle anderen Frauen?«

Sie antwortete nicht und wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte. Die Tür war nicht verschließbar, sie konnte nur einen Stuhl unter die Türklinke stellen. Schnell entkleidete sie sich und benutzte das Bettuch, um sich trocken zu reiben.

Die Fenster waren mit Gittern versehen. Die Einrichtung des Zimmers bestand nur aus einer Bettstelle und einem Stuhl. Die Tapete hing in Fetzen von den feuchten Wänden, der Kamin war mit Asche gefüllt, und ein stickiger Geruch verursachte Eunice beinahe Übelkeit.

Sie untersuchte schnell, ob sie irgendwie von hier entkommen konnte. Aber die Gitter des Fensters waren so stark und so eng, daß es unmöglich war, sich durchzuzwängen. Sie glaubte bestimmt, daß der Eingang zu ihrem Zimmer bewacht wurde, trotzdem mußte sie wenigstens den Versuch machen, sobald das Haus ganz ruhig dalag.

Als sie aber auf den dunklen Flur hinausging, trat sie auf Villas Hand, der dort schlief. Er war sofort wach.

»Brauchen Sie etwas, Miss?« fragte er.

»Nein, nichts«, antwortete sie und ging in ihr Zimmer zurück.

Es ist hoffnungslos! dachte sie bitter. Sie mußte warten, was ihr der Morgen bringen würde.

Sie hoffte auf ihre – Mutter. Wie schwer sie sich an dieses Wort gewöhnen konnte!

Sie legte sich nieder und hatte nicht die Absicht einzuschlafen. Aber die Wärme im Zimmer und ihre Müdigkeit übermannten sie. Sie glaubte, kaum einige Minuten geschlafen zu haben, als sie aufwachte und Villa mit einer großen Tasse Kakao vor dem Bett stehen sah.

»Es tut mir leid, daß ich Sie jetzt schon stören muß und daß ich Ihnen keinen Tee geben kann, Miss.«

»Wieviel Uhr ist es denn?« fragte sie erstaunt.

»Fünf Uhr. Es hat aufgehört zu regnen, und wir haben gutes Flugwetter.«

»Flugwetter?«

»Wir werden einen kleinen Flug machen«, sagte Villa und freute sich über den Eindruck, den seine Worte auf sie machten.


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