Edgar Wallace
Die blaue Hand
Edgar Wallace

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42

Der Raum, in den Jim gebracht wurde, unterschied sich wenig von den Zimmern, die er vorher gesehen hatte, er war nur kleiner. Die Planken des Fußbodens waren zerbrochen, hier und dort zeigten sich große Löcher, und er sah gleich, daß hier Ratten hausten.

Seine Hände waren so eng verschnürt, daß er sie nicht bewegen konnte, und seine Fußgelenke waren so zusammengebunden, daß es ihm unmöglich war, sich auf seine Füße zu erheben.

»Was für ein Leben ist das doch«, sagte er mit philosophischer Ruhe und bereitete sich auf eine lange Wartezeit vor.

Er zweifelte nicht daran, daß Digby möglichst bald aufbrechen würde, und rechnete mit der Möglichkeit, daß man ihn hier allein zurückließ. Entweder mußte er sich dann selbst befreien oder verhungern. Aber er war fest entschlossen, am Leben zu bleiben. Auch hatte er sich schon einen Plan ausgedacht, den er sofort ausführen wollte, wenn er sicher war, daß man ihn nicht mehr beobachtete.

Aber Digby blieb im Hause, wie er erfahren sollte.

Eine Stunde verging, dann wurde die Tür zu seinem Raum aufgerissen, und Digby trat ein. Hinter ihm kam ein Mann herein, der bei Jims Anblick grinste. Es war Bronson, der in Jims Kleidern geradezu lächerlich aussah; denn Rock und Hose waren ihm zu groß.

»Man hat Sie also doch entdeckt, Bronson«, sagte Jim lachend.

»Nun, jetzt bin ich in derselben Verfassung wie Sie, als ich Sie zurückgelassen habe. Man wird mich ja hier entdecken, und ich werde Sie dann in Dartmoor besuchen und nachsehen können, wie es Ihnen dort geht. In Dartmoor ist es ganz schön; der hübscheste Platz dort ist Block B – da haben Sie Zentralheizung, Gas, Warmwasser – jeden modernen Komfort mit Ausnahme von Tennis.«

»Wo ist Villa?« fragte Digby.

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen«, erklärte Jim gemütlich. »Aber ich vermute, wo er geblieben ist.«

»Wo ist er geblieben?« fuhr ihn Bronson an.

Jim lächelte, und im nächsten Augenblick schlug ihm Bronson mit der Hand ins Gesicht. Aber Jim lächelte weiter, obwohl ein Ausdruck in seinem Blick lag, der Bronson ängstigte.

»Steele, es hat keinen Zweck, daß Sie die Aussage verweigern«, sagte Digby. »Wir wollen unter allen Umständen wissen, was Sie mit Villa gemacht haben. Wo ist er geblieben?«

»Meiner Meinung nach schmort er jetzt in der Hölle«, erwiderte Jim ruhig.

»Wollen Sie damit sagen, daß er tot ist?« fragte Digby aufgeregt.

»Das nehme ich sehr stark an«, entgegnete Jim vorsichtig. »Wir waren ungefähr fünftausend Fuß hoch, als ich vor lauter Freude, daß ich wieder einmal ein Flugzeug in der Hand hatte, einen Sturzflug mit senkrechter Schleife machte. Ich glaube, unser Freund Villa hatte nicht die nötigen Vorsichtsmaßregeln ergriffen – jedenfalls war er nicht mehr da, als ich mich wieder umschaute. Er flog selbständig durch die Luft, Groat, und ich habe die Erfahrung gemacht, daß es fast unmöglich ist, eine gute Landung zu machen, wenn die Leute anfangen, ohne Flugzeug durch die Luft zu fliegen.«

»Sie haben ihn umgebracht!« zischte Bronson zwischen den Zähnen. »Sie verdammter Schuft!«

»Halten Sie den Mund!« fuhr ihn Digby an. »Wir wissen, was wir wissen wollen. Wo haben Sie ihn hinuntergeworfen?«

»Hier irgendwo in der Gegend. Ich habe eine verlassene Stelle gewählt. Es hätte mir zu leid getan, wenn er beim Fall noch einem anderen weh getan hätte.«

Digby verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen, und schloß die Tür hinter sich. Er sprach auch nicht, bis er wieder im Raum war, wo er sich vor weniger als einer Woche von Villa verabschiedet hatte. Er schauderte bei dem Gedanken an den schrecklichen Tod dieses Mannes.

Die beiden Spanier waren hier, und sie hatten ein Geschäft vor, das nicht aufgeschoben werden konnte. Digby hatte ursprünglich gehofft, daß sie seinem Versprechen trauen und warten würden, bis man einen sicheren Platz erreicht hätte, bevor sie sich ihre Anteile auszahlen ließen. Aber sie legten den Versprechen und Worten ihres Anführers gerade keinen zu großen Wert bei. Sie hatten große Summen zu bekommen, und Digby war es sehr unangenehm, daß er sie auszahlen mußte. Aber er konnte sich jetzt nicht mehr davor drücken. Es blieb ihm ja trotzdem noch ein ungeheures Vermögen. Die anderen Mitglieder der Bande hatten ihre Anteile noch nicht erhalten, und er hatte auch nicht die Absicht, sie ihnen zu geben.

»Was haben Sie für Pläne«, fragte Xavier Silva.

»Ich gehe nach Kanada«, antwortete Digby. »Lesen Sie die Zeitungen, und suchen Sie unter den ›Privaten Anzeigen‹. Dort werde ich Ihnen meine Adresse bekanntgeben.«

Der Spanier grinste.

»Wir werden auf andere interessante Dinge aufpassen. Mein Freund und ich werden nach Spanien gehen. Wird Bronson bei Ihnen bleiben?«

Digby nickte.

Da Villa tot war, mußte er nun den Flieger ins Vertrauen ziehen. Er wollte ihn am Ende doch noch betrügen, aber Bronson konnte das nicht vermuten. Er schickte die beiden aus, um das Flugzeug zu prüfen. Jim hörte in seinem Raum das Summen der Propeller und mühte sich vergeblich ab, seine Hände freizubekommen.

Plötzlich hörte das Summen des Propellers auf. Xavier Silva war ein tüchtiger Mechaniker. Er hatte entdeckt, was an dem einen Zylinder defekt war.

»Sie bringen den Motor wieder in Ordnung«, murmelte Jim.

Er hatte also mehr Zeit, als er ursprünglich gehofft hatte. Er hörte draußen Schritte auf der steinernen Terrasse, und durch einen Spalt im Fensterladen konnte er sehen, daß Bronson vorbeiging. Digby hatte ins Dorf geschickt, um vorsichtige Nachforschungen nach Villas Schicksal anzustellen.

Merkwürdigerweise war den drei Männern, die das Herannahen des Flugzeugs von der Terrasse von Kennett Hall aus beobachtet hatten, Villas Schicksal entgangen. Sie hatten zwar gesehen, wie das Flugzeug die senkrechte Schleife beschrieb, aber Digby dachte nichts anderes, als daß Bronson dem jungen Mädchen seine Kunststücke zeigen wollte. Villas Leiche mußte hier irgendwo in der Nachbarschaft liegen; und wie nahe sie war, erfuhr Bronson im Gasthaus des Dorfes.

Als Bronson fortgegangen war, begab sich Digby zu seiner Gefangenen. Eunice schritt im Raum auf und ab.

»Wie hat Ihnen der Flug gefallen?« fragte er. »Es war wohl aufregend und nervenkitzelnd? Haben Sie auch beobachtet, wie mein Freund Villa ermordet wurde?«

Sie schaute ihn an: »Ich habe nicht gesehen, daß der Mann ermordet wurde.« Sie war bereit, Jim gegen jede Anschuldigung zu verteidigen.

Er las ihre Gedanken.

»Sorgen Sie sich nicht um Mr. Steele. Ich werde ihn nicht wegen Mordes anklagen, dazu habe ich keine Zeit; ich werde morgen abend bei Einbruch der Dunkelheit das Land verlassen, und Sie werden mich im Flugzeug begleiten.«

Sie erwiderte nichts.

»Ich hoffe, daß Ihnen ein kleines Eintauchen ins Wasser nichts ausmacht. Ich kann Ihnen nämlich nicht garantieren, daß wir gerade auf meiner Jacht landen werden.«

Sie wandte sich zu ihm. Auf seiner Jacht? Sie sollte auf einer Jacht entführt werden. Wohin wollte er sie bringen?

Draußen hörte er eilige Schritte und öffnete die Tür. Ein Blick auf Bronsons Gesicht sagte ihm, daß er wichtige Neuigkeiten brachte.

»Nun?« fragte er scharf.

»Sie haben Villas Leiche gefunden. Ich habe einen Zeitungsreporter im Gasthaus gesehen«, sagte er atemlos.

»Weiß man, wer er ist?« fragte Digby.

Bronson nickte.

»Was?« fragte Digby verwundert. »Woher kennt man denn Villas Namen?«

»Man hat ein Papier in seiner Tasche gefunden – eine Quittung über die Kaufsumme einer Jacht.«

Eunice sah durch, die offene Tür, wie Digby zusammenzuckte.

»Dann weiß man auch von der Jacht?«

Diese Nachricht verwirrte ihn vollkommen und regte ihn maßlos auf. Wenn die Polizei von der Jacht erfahren würde, türmten sich unüberwindliche Schwierigkeiten auf, und die Gefahr, die ihn bedrohte, schien ihm wie ein gigantisches Ungeheuer den Weg zu versperren. Digby Groat brach unter diesem Schock zusammen.

Eunice sah es. Er hatte sich vollständig verändert und war nicht mehr der kühle, selbstbeherrschte Mann, der alle Gefahren verachtete. Er war jetzt ein hilfloses, furchtsames Kind, das schimpfte und die Hände rang. Er gab zusammenhanglose Befehle und nahm sie schon wieder zurück, bevor sein Bote den Raum verlassen hatte.

»Drehen Sie Steele das Genick um!« brüllte er. »Töten Sie ihn, Bronson! Dieser verdammte Kerl! Nein, nein, bleiben Sie hier, machen Sie das Flugzeug fertig . . . wir wollen heute abend abfliegen . . .«

Er wandte sich zu Eunice und starrte sie an.

»Noch heute abend geht es fort, Eunice! Dann will ich mit Ihnen abrechnen!«


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