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I.

Auf dem Berg der Verdammnis.

Da bin ich, hier droben in der Felsenwildnis. Seit wann bin ich hier? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich mich bereits an dieser Stätte der Verdammnis befinde: in meinem Kerker, auf meinem Richtplatz, in meinem Grabe. Ich habe die Tage, die Wochen, die Monate nicht gezählt.

Mir scheint's, als hätte ich Gedächtnis und Erinnerung verloren. Es ist mir ganz recht so. Vielmehr, es ist mir ganz gleich. Wozu bedarf der Mensch des Gedächtnisses? Besser für ihn, er vergißt. Und nun gar die Erinnerung! Man sollte sie sich ausbrennen können, wie einem die Augen ausgebrannt werden. Es müßte gut thun, im Gehirn eine spitze, züngelnde Flamme zu spüren. Und das Feuer fräße alles, was in eines Menschen Kopf kreist; Gedanken, Vernunft, Bewußtsein verloderten in der Glut. Und ebenso müßte es mit der Empfindung geschehen können: der Mensch sollte im stande sein, sich abzutöten, daß er von seinem Leibe nichts mehr fühlte, und stäche man diesen mit glühenden Nadeln, vielleicht daß er es dann ertrüge, wenn das Leben ihm giftige Pfeile ins Herz stößt – –

Ich will fortfahren, was ich an mir beobachte und bemerke, getreulich zu verzeichnen: dem Himmel werde ich damit schwerlich dienen, wohl aber mir selbst.

Ich bin matt und vermag die Hand auf dem Papiere kaum fortzuschieben. Versuche ich nachzudenken, so ist mir, als ob mein Gehirn klirrend gegen den Schädel stieße.

Ich erinnere mich: es gibt Menschen, die ihre Sinne haben, und die eines Tages von ihren Sinnen kommen. Mit solchen muß es der Himmel gut meinen.

Am nächsten Tage.

Unter heftigen Schmerzen besinne ich mich nach und nach, wie es sich mit mir begeben hat.

Abt Evaristus fragte mich, ob ich bereute. Aber was sollte ich bereuen? Daß ich Christ geworden bin?

Ja, ich bereue. Ich bereue Zeit meines Lebens und in alle Ewigkeit.

Abt Evaristus forderte mich auf, zu widerrufen. Was sollte ich widerrufen? Daß ich den christlichen Glauben angenommen hatte?

Ja, ich widerrufe Ich widerrufe, daß Himmel und Erde davon gellen.

Abt Evaristus heischte von mir, zu sühnen. Was sollte ich sühnen? Die Todsünde, die ich an meinen Eltern, an meinem Freunde, an meiner Geliebten, an meinem ganzen Volke begangen?

Ja, ich will sühnen! Sühnen will ich unter Stöhnen und Aechzen, in Qual und Herzeleid, sühnen will ich, wie nie ein Mensch, weder Christ noch Jude, eine Unthat gesühnt hat.

Nachdem Abt Evaristus also Herz und Nieren in mir geprüft und für gänzlich unchristlich befunden hatte, sprach er über mich das Urteil aus, dem ich mich willig unterwarf; habe ich doch Aergeres verdient.

Sie nahmen mich und führten mich davon, und alle gaben mir das Geleite. Auch das Bild des heiligen Franziskus führten sie mit, das ora pro nobis wurde gesungen, und über meinen Abfall eine große Lamentation erhoben.

Wir langten an auf dem Gipfel und an jener Stelle, wo der schmale Pfad längs der Wand sich hinzieht. Hier nahmen die Brüder Abschied von mir, und nur dreie folgten mir weiter: Abt Evaristus und zwei Väter. Der eine mit dem Bild von Sankt Franziskus, der andere mit einem Kruge Wassers, einem Laib Brot, der Geißel und einem Büchlein, darin das Leben des Heiligen beschrieben steht.

Wir traten ein in diese Höhle, die Väter setzten nieder, was sie trugen, und das Bild des Heiligen wurde aufgestellt. Dann sprach Abt Evaristus die christlichen Worte:

»Hier sollst Du leben, Du Abtrünniger und Verlorener, bis Du den Weg wieder zurückfindest. Wildnis und Wüste seien Deine Wohnstatt, Sturm und Regen Deine Genossen, Sommerglut und Winterkälte Deine Freunde. Deinesgleichen seien die Vögel unter dem Himmel. Du kannst Dich in den Abgrund stürzen, der offen unter Dir liegt; Du kannst in die Oede entweichen, die um Dich sich ausdehnt – dem Gericht entgehst Du nicht. Wir aber wollen beten, daß hier, wo die Menschen Dich verlassen haben, die Gnade des Herrn Dich finde.«

Und sie beteten mit lauter Stimme für mich. Dann ließen sie mich allein.

Was that ich darauf?

Ich warf mich nicht in den Abgrund, denn ich wollte leben; ich entwich auch nicht in die Wildnis, denn ich wollte sühnen.

Ich legte mich nieder, mit meinem Haupt auf einen Stein, und blieb so liegen.

In den ersten Tagen schlief ich viel, sowohl bei Tag als bei Nacht, rührte auch weder das Brot noch das Wasser an, obgleich ich starken Hunger und noch stärkeren Durst verspürte. Es war übrigens gar nicht so schlimm. Nach den ersten heftigen Schmerzen wurde ich bald matt, dann kamen allerlei Träume, Gestalten, Visionen. Ich hungerte gern. Einmal vollständig erschöpft, kam ich nicht wieder zu Kräften. Als ich dann nicht mehr nachzudenken vermochte – das war das Schönste.

Oeffne ich die Augen und wende das Haupt, so überblicke ich beinahe alles, was ich von meiner Behausung aus überhaupt erblicken kann: jenseits der tiefen Schlucht einen gewaltigen Felsengipfel und darüber ein winziges Stücklein Himmel. Beides schaue ich häufig lange Zeit an, ohne dabei einen Gedanken zu haben; lieber noch halte ich die Augen geschlossen.

Den Tag erkenne ich daran, daß es in meiner Höhle dämmert und vor der Höhle hell wird. Scheint draußen die Sonne, so bereitet mir ihr helles Licht heftige Schmerzen; wenn der Mond leuchtet, empfinde ich ein heißes Gelüst nach dem Abgrund. Am besten ertrage ich die Sterne. Ich sehe ihnen gern zu, wie sie aus dem dunklen Felsenhaupt so sanft und leise hervorblitzen und dann hinter den Felsen meiner Höhle verschwinden; neue Sterne kommen und gehen, und es ist, als ob das ganze Firmament an mir Verlassenen vorüberzöge.

Einmal erblickte ich, auf den Gipfel hingelagert, ein purpurfarbiges, wundersam strahlendes Abendgewölk, über die Maßen herrlich, als wäre es das Gewand Jehovahs. Ich richtete mich auf und rief:

»Herr, hier bin ich!«

Aber der Herr ging an mir vorüber – die Wolke zog weiter.

Ein anderesmal schwebte ein gewaltiger brauner Vogel an dem Eingang meines Grabes vorbei, mir so nahe, daß ich das Rauschen seiner Fittiche vernahm. Doch auch das war nicht der Herr. Der Gott meiner Väter will nichts wissen von mir, seinem treulosen Sohne.

Ich kann warten.

*

Jede Woche kommt vom Kloster ein Bruder heraufgestiegen. Derselbe bringt mir einen großen Krug Wasser und einen Laib Brot. Beides setzt er zu meinen Häupten nieder. Dabei richtet er jedesmal dieselben Fragen an mich: »Bereust Du? Widerrufst Du? Demütigst Du Dich?« Worauf ich ihm jedesmal mit einem dreimaligen »Nein!« geantwortet habe. Darnach verläßt er mich wieder; denn anderes als diese Worte darf der Mönch nicht mit mir reden, auch auf keine Frage von mir Antwort geben.

Wieder kam eine Zeit, wo ich schreckliche Pein und grimmige Schmerzen litt; mir war's, als würden meine Eingeweide von einem höllischen Feuer verzehrt und mein Gehirn von tausend Ameisen zernagt und gefressen. Auch fror ich. Es kam bittere Kälte, und der Gipfel vor mir bedeckte sich mit Schnee; demnach war es Winter geworden.

Da brachte der Mönch eine wollene Decke mit, die er neben den Krug und das Brot legte, wo ich sie liegen ließ; denn ich will an Leib und Seele so elend werden, wie ein Mensch das nur sein kann, und ich will alles Menschliche in mir niedertreten und töten. Der Bruder, welcher mein schweres Leiden gewahrte, that eines Tages wiederum seine drei Fragen, und ich fand kaum die Kraft, dieselben eine nach der andern zu verneinen.

Bald darauf milderten sich meine Qualen und hörten nach kurzer, schwerster Pein völlig auf. Beinahe, daß ich nun immerfort schlief. Aber auch wenn ich wachte, wußte ich kaum von mir; denn ich konnte Schlaf und Wachen – Traum und Wirklichkeit nicht mehr von einander unterscheiden. Da merkte ich, daß ich sterben würde; und der Herr versuchte mich und es unterlag mein Geist dem Fleisch, also daß ich auf mein Leben und meine Sühne Verzicht leistete und von Sterbenswonne durchdrungen ward. Ich sage euch, die ihr mühselig und beladen seid: wenn schon das Leben ein Geschenk der höchsten Liebe Gottes sein soll, so ist der Tod etwas viel Herrlicheres und Himmlischeres: denn er ist eine Spende der höchsten Gnade Gottes.

Aber noch einmal erwachte ich zum Bewußtsein. Da gewahrte ich auf meiner Brust eine große silbergraue Schlange. Sie hatte sich fest zusammengeringelt und schien sich in meiner Kutte über meinem brechenden Herzen wärmen zu wollen. Mein letzter Gedanke war, daß ich nicht einsam stürbe. Dann schwanden mir die Sinne unter himmlischen Klängen, und mein Geist taumelte in den Tod, als ob dieser das ewige Leben wäre.

Als ich meiner dann wieder bewußt ward, war meine erste Empfindung Schreck und Entsetzen; und zwar traf es mich so gewaltig, daß ich davon aufgerüttelt wurde, wie wenn der Odem Gottes mich berührt hätte. Wehe mir: ich lebte! Verzweiflung erfaßte mich. Ich schrie auf gleich einem wilden Tier, wälzte mich am Boden, stieß mein Haupt gegen den Felsen, raste und tobte und kroch auf Händen und Füßen dem Abgrund zu.

Da sah ich einen Glanz auf meiner Brust, gleich einem himmlischen Schein. Ich griff darnach und faßte etwas, das sich gar lind und weich an meine starren, kalten Finger schmiegte. Es war eine starke Strähne langen, goldig leuchtenden, seidigen Haares, welches ich die ganze Zeit über, ohne dessen eingedenk zu sein, auf meiner Brust getragen hatte, und welches nun bei meinem tollen Gebahren aus der Kutte geglitten war. Diese Flechte Frauenhaares, deren ich gänzlich vergessen hatte, hemmte mich auf meinem Todesgang. Es bedurfte aber einer Weile, bis ich mich erinnern konnte, daß es das Haar der schönen Clelia war, welches sie in Sankt Bonaventura dem Heiligen dargebracht hatte: an dem Tage, da sie sich dem wackeren Terenzio vermählte. Als ich in Rom aus dem Kloster verstoßen ward, begab ich mich in die Kirche und raubte dem Heiligen das leuchtende Frauenhaar, barg es auf meiner nackten Brust über meinem Herzen und entwich damit: das einzige, was ich aus dem Kloster mit mir nahm in meine Verdammnis. Nun kauerte ich am Boden, schaute auf den Glanz auf meiner Brust und entsann mich, daß ich einstmals geliebt worden war, und daß ich in meinem Leben, außer vielem Bösen, auch etwas Gutes begangen hatte; und siehe da – an dem Haar des Weibes, das eine arge Missethäterin gewesen, leitete mich des Herrn Hand lind und sanft wieder in das Dasein zurück.

Aber noch etwas schier Grausiges geschah. Denn wie ich so auf das Haar hinstarrte, schien es sich plötzlich zu regen und lebendig zu werden. Und siehe, aus meiner Kutte kroch die Schlange hervor, die ich, als ich zu sterben meinte, über meinem Herzen gesehen hatte. Das Gewürm mochte sich vor der Kälte in dem warmen, weichen Haar geborgen haben.

*

An dem goldigen Haar der Tochter der Welt spannen sich meine Tage weiter. Ich legte nur die Strähne wie eine Schlinge um den Hals, so daß die weiche Flechte meinen ganzen Menschen erwärmte, nahm wieder Speise und Trank zu mir, hüllte meinen zum Gerippe abgezehrten Leib in die wollene Decke und schaute um mich, wo vor mir der Gipfel immer noch im Schneegewande herüber schimmerte. Sogar Freude empfand ich, denn jene große silbergraue Schlange wollte nicht von mir weichen. Ich bereitete ihr aus einem Fetzen meiner Kutte ein weiches Lager und fütterte sie mir Brosamen. Mir aber war mein Behagen an der Genossenschaft des giftigen Gewürms ein Beispiel, wie schwer es dem Menschen fällt, allein zu sein, und daß er durch nichts so dem Leben abstirbt, wie durch Einsamkeit. Denn es sucht ein Geschöpf Gottes das andere; und wo es anders ist, geschieht es nicht nach dem Willen des Höchsten.

Als der Mönch wieder kam und mich lebend fand, verwunderte er sich über die Maßen und that seine drei Fragen – wie ich wohl merken konnte in der Meinung, mich gänzlich verwandelten Sinnes zu finden. Auch erwiderte ich ihm diesesmal nur auf die beiden ersten Fragen mit einem Nein; nach der dritten Frage bat ich ihn: er möchte bei seinem nächsten Besuch Tinte, Papier und Feder mitbringen; denn ich wäre voll heißen Verlangens, den Gang meines Geistes in allen seinen Windungen, Schleichwegen und Irrpfaden aufzuzeichnen. Der Bruder durfte mir nichts entgegnen, aber ich wußte, daß er meine Botschaft dem Abt ausrichten würde, und wartete in ungestümer Sehnsucht auf das Verstreichen der langen, langen Tage. Indessen fuhr ich fort, für meine Gefährtin zu sorgen, und fühlte unablässig nach der Flechte, die ich um meinen Hals trug, und es war mir beides wie kühlender Balsam in brennende Wunden geträufelt.

Dann erschien der Mönch und brachte mir, um was ich gebeten hatte, und siehe: da ward mein zerrütteter Geist wiederum froh.

Und ich begann zu schreiben.

*

Jetzt weiß ich, wie lange ich hier oben eingeschlossen bin, ich habe es mühsam ausgerechnet: fünf Monate mögen es sein. In diesen fünf Monaten habe ich mein Felsenloch nicht verlassen, wie ich denn auch kein einzigesmal einen Schritt gegangen, sondern nur gekrochen bin, niemals aufrecht gestanden, sondern nur gekniet habe. Den größten Teil dieser langen Zeit verbrachte ich auf dem nackten Fels liegend, so daß mein Rücken geschunden und voller Wunden ist, als hätte ich mir mit der Geißel das Fleisch aufgerissen. Nahrung habe ich nur so viel zu mir genommen, als nötig war, mich am Leben zu erhalten; meine Eingeweide müssen gänzlich vertrocknet sein, denn ich kann mein Brot nur genießen zu einem dünnen Brei erweicht und auch dann nur mit großen Schmerzen. Meine Zunge ist dermaßen geschwollen, daß ich sie nicht zu regen vermag, meine Hände sind welk und zitternd wie die eines alten Mannes, mein Haupt ist schwer, als wäre mein Schädel voll Blei. Aber meine Augen haben sich gewöhnt, auch in der Nacht zu sehen und die Dinge zu erkennen. Dagegen sticht mich der schwächste Tagesschein wie ein Messer ins Gehirn.

Dennoch murre ich nicht. Es lebt eine große Kraft in mir, die sich nicht töten läßt, und ein gewaltiger Trotz ist in mir erwacht, dem Abt Evaristus Widerstand zu bieten und diesem ehrwürdigen Mann zu zeigen, was für ein zäher Jude ich bin.

Da mein Gehirn wieder beginnt, seine Funktionen zu verrichten, und der Fluch des Denkenmüssens von neuem als Verdammnis auf mir lastet, so habe ich meinen Geist von neuem auf die Betrachtung eines Dinges gerichtet; nämlich auf die Wirkung, welche die Einsamkeit auf den Menschen ausübt, und es ist mir in der Einsamkeit manche Erkenntnis geworden.

In den göttlichen Geschichten und den Erzählungen von dem Leben der Märtyrer und Heiligen ist häufig zu lesen, wie sie gingen und sich in die Wildnis begaben und in der Wildnis lebten, die Tiere unter dem Himmel zu Freunden und die Oede als Genossin. Selbst der Größeste und Herrlichste von allen: Jesus Christus, floh in die Wüste. Und liegt dem wohl zu Grunde, daß selbst ein wahrhaft großer und heiliger Mensch, wenn er unter Menschen lebt, dem Fluch des Fleisches verfällt und schließlich aufhört, heilig zu sein. Moses stieg auf den Berg, wo der Herr ihn fand, Christus entwich vor den Menschen und rang mit Gott – was ich so auffasse, daß er im Kampf lag mit dem Menschen in seiner Brust – – Sankt Franziskus lebte in den Höhlen des Berges Subiaso und wurde daselbst ein großer Heiliger.

Was sagt uns das?

Das sagt uns, daß die Einsamkeit eine Mörderin ist, welche den Menschen totschlägt und nur den Geist und die Hülle eines Menschen am Leben läßt, die man dann martern, steinigen und verbrennen kann, ohne daß der Heilige, dem solches geschieht, es sonderlich spürt. Auch das will ich niederschreiben: wer einen Menschen zu langer, langer Einsamkeit verurteilt, ist, auch ohne daß er gemordet hat, einem Totschläger gleich zu achten. »Abt Evaristus, Abt Evaristus, siehe Dich vor, daß aus Deine Seele keine Blutschuld fällt! Und sollte ich mich in der Wildnis in einen Unmenschen wandeln – hier erhebe ich meine Hände und bezeuge meine Unschuld. Abt Evaristus – meine Hände hebe ich und zeuge wider Dich.«

*

Langsam sammelte ich Kräfte, erhob mich, lernte Stehen und Gehen und verließ mein Grab. Aber die frische Luft verursachte mir Qualen, und das helle Tageslicht bohrte sich noch immer gleich Dolchen in meine Augen, daß ich zu erblinden wähnte.

Ich hatte mich bis zu dem Kreuz geschleppt, das am Eingang meiner Gruft steht, mehr ein Zeichen des Todes als des ewigen Lebens. Hier, hart am Rande des Abgrunds, sank ich geblendet hin; die Schlange war mir gefolgt. Als ich wieder zum Bewußtsein kam, sah ich sie an dem Stamm des Kreuzes emporgeringelt und zu mir herab züngelnd. Ich ließ das giftige Gewürm ruhig droben und dachte: Ist das Kreuz ein Symbol des Göttlichen, so mag das Symbol des Bösen, die Schlange, daran haften bleiben; denn das eine ist nicht ohne das andere zu denken. Dann saß ich, mit dem Rücken gegen das Kreuz gelehnt, und gewöhnte mich mühsam, die Luft der Welt einzuatmen und von neuem das Licht zu schauen. Damit hatte ich ein großes Tagewerk vollbracht.

Früh am nächsten Morgen begab ich mich wiederum hinaus vor die Höhle, ruhte lange beim Kreuze, tappte und tastete mich sodann die Felswand entlang. Wohl eine Stunde dauerte es, bis ich die kurze Strecke von der Höhle bis zum Grat zurückgelegt, und die ganze Zeit hing ich an den Klippen, wie schwebend zwischen Himmel und Erde.

Von dem Platz aus, wo die Brüder, als sie mir das Geleit gegeben, Abschied genommen hatten, sah ich dann die Welt zum erstenmal wieder. Ich sah die Felsenberge schneeumglänzt unter dem strahlenden Himmel und gewahrte in der Ferne das römische Land, umzogen von einem hellen Streifen, welchen ich als die unendliche Meeresflut erkannte. Es mag ein erhabener Anblick gewesen sein; aber ich fühlte nichts davon, ich vermochte nichts mehr von der Schönheit der Welt zu empfinden. Und nicht einmal, daß es mir leid that. Wenn die Seele des Menschen ein Saitenspiel ist, das unter den Griffen des Lebens ertönt, so müssen an dem meinen viele Saiten zerrissen sein. Sobald meine Kräfte es erlaubten, begab ich mich zurück in meine Höhle. Dort war mir am wohlsten.

Allmälich aber gewöhnte ich mich daran, meinen Leib jeden Tag vor meine Behausung zu tragen und vom Gipfel des Berges aus die Welt zu betrachten, ohne Liebe und ohne Lust – und wie, o Abt Evaristus, wie hatte ich die Welt geliebt, wie tief alle Wonnen der Schöpfung empfunden! – Dennoch: wenn heute der Versucher zu mir getreten wäre und gesprochen hätte: »Dieses alles will ich Dir geben, wenn Du mich anbetest« – ich würde mich vor dem höllischen Feinde niedergeworfen, die Welt vom Teufel genommen und sie – dem verdammten und stinkenden Volke der Juden gegeben haben.

Denn wenn sie, die das Lamm Gottes geschlachtet, nach dem Tode einer ewigen Verdammnis verfallen, wie die christliche Kirche lehrt, einer Verdammnis, aus der nichts sie erlösen kann, es müßte denn sein, daß sie sich zum Christentum bekehrten – was sie nicht sollen! – so gebührt ihnen, den Gehaßten und Verfolgten, Geld und Gut, Reichtum und Schätze, Macht und Herrschaft im Leben und alle Herrlichkeit, die von der Erde ist. Darum, um den Juden alles dieses zu geben, würde ich, der christliche Priester, der Versuchung des bösen Feindes erliegen und dem Teufel göttliche Verehrung erweisen. Höllengeist, wo bist du? Ich rufe dich an, und ich schreie nach dir, als wärest du Gott.

*

Die Wandlung vollzieht sich in mir. Wenn ich meine Seele so recht belausche und belaure – und was anderes könnte ich thun in dieser Oede? – so merke ich, wie der Dämon der Einsamkeit seine Klauen in mein Herz schlägt, in mein Herz tiefer und tiefer seine Zähne eingräbt und beginnt, mich zu zerfleischen. Ich fühle es und kann nichts dagegen thun. Auch würde niemand meinen Hilfeschrei hören. Wehrlos, mit gefesselten Händen muß ich mich morden lassen.

Ich könnte Gott anflehen, mich zu retten, aber es ist ja Gottes Wille, daß der Totschlag an meinem Geiste begangen werde; denn wer Gott so recht angehören will, der muß in der Wildnis leben.

Dort bereitet sich sein Geist für die Mission vor, und wenn er aufgehört hat, Mensch zu sein, so zieht er aus und thut, was auf Erden seines Amtes ist.

Ich will auch aufhören Mensch zu sein; ich will den Menschen in mir in den Abgrund werfen; ich will mir ein Amt auf Erden erwählen und will dieses Amt erfüllen.

Franziskus lebte in der Wildnis, bis er nur noch Geist war, bis sein Leib mit dem heiligen Stigma gesegnet ward, bis er einen großen Heiligen aus sich gemacht hatte. Sobald er an sich selbst glaubte, glaubte auch die Welt an ihn.

Ich will an mich glauben.

Inwiefern?

Daß ich zu großen Dingen ausersehen worden, und daß ich diese großen Dinge erfüllen werde.

Zum Heil des jüdischen Volkes.

Inwiefern dem jüdischen Volk zum Heil?

Es losbitten von seinen Sünden kann ich nicht, es zu erlösen von seiner Verdammnis vermag ich nicht, ihm zu ewigen Gütern zu verhelfen, liegt nicht in meiner Macht. Was also kann mein Geist vollbringen für das jüdische Volk?

*

Da habe ich heute am Rande des Abgrunds dem Kampf zweier Bestien zugeschaut. Es waren zwei Bergfüchse, die sich gepackt hielten und in solche Wut gerieten, daß sie sich völlig ineinander verbissen und sich lebendigen Leibes zerfleischten. Ich hätte sie wohl von einander scheuchen können, aber ich blieb und schaute ihnen zu; ja, es ergötzte mich, daß sie sich so mörderisch in den Zähnen hatten. Vor Wut ganz blind und toll, kamen sie dem Absturz zu nahe und fielen beide hinunter. Da mußte ich lachen.

*

Unterdessen ist der Winter vorbei. Es ist Frühling geworden, und einige einsame Blumen blühen sogar hier in der Oede. Ich empfinde jedoch an ihnen weniger Freude als an meiner treuen Gefährtin, der Schlange, die von mir nicht weichen will und gar zutraulich geworden, obgleich sie eine Natter und giftig ist. Es gibt jetzt viele Vögel und allerlei Getier in der Wildnis, und ich gewahre, wie die Arten miteinander im Kriege leben, wie sie sich gegenseitig zerstören und vernichten. Es muß das in der Weltordnung so begründet sein, die nicht voller Liebe ist, sondern voller Haß.

Ich will doch verzeichnen, daß ich wieder begonnen habe, zu beten und mich zu kasteien. Das that ich, als ich merkte, wie ich in dieser Frühlingszeit von neuem anfing, menschlich zu werden, von neuem Sehnsucht und Verlangen zu empfinden. Einmal weinte ich. Das darf nicht wieder geschehen. In Sankt Franziski Leben lese ich fleißig.

*

Kürzlich sandte mir Abt Evaristus durch den Bruder außer meinem Laib Brotes und meinem Krug Wassers noch einen Kuchen aus Weizenmehl und ein Krüglein voll Wein. Ich aber nahm beides und warf es vor den Augen des Bruders in den Abgrund. Der Mönch schnitt ein Gesicht, als sähe er mich meine Vernunft fortwerfen.

Uebrigens thut er jedesmal nach wie vor seine drei Fragen, auf die ich ihm jetzt gar keine Antwort mehr gebe. Ich erkenne aber des Mannes Gedanken, als ob ich in seiner Seele läse. Er denkt bei sich: »Du bist aber einer! Warum heuchelst Du nicht? Siehe, wir machen es Dir so bequem. Du brauchst nur zu lügen, und wir thun, als glaubten wir Dir. Nur die Wahrheit vertragen wir nicht.«

Aber ich merke doch, daß trotz meiner Verstocktheit der Bruder mich für einen hält, der es noch bis zum Heiligen bringen kann.

*

Weil ich das ewige Schweigen nicht mehr ertrage, so rede ich mit mir selbst oder mit meiner Gefährtin, der Schlange, oder mit den Vögeln, oder mit dem Gestein. Zuweilen ist mir, als ob Schlange, Vögel und Gestein mich verstünden und mir andächtig zuhörten. Alsdann predige ich ihnen.

Es kommt vor, daß ich mich in die Oede hinausstelle und laut schreie, tobe, heule. Das thut mir wohl. Oder ich erklimme den Gipfel und rufe: »Ich bin Dahiel, der Konvertit, Dahiel, der Konvertit, der Konvertit!«

Und ich freue mich, wenn das Echo den Schandnamen widerhallt.

Seit einiger Zeit habe ich bei Tag und bei Nacht Erscheinungen und erblicke – – Doch darüber muß ich stumm bleiben. Es scheint aber, als ob der Herr mich festhielte und nicht von mir lassen wollte, so gern ich ihm auch entfliehen möchte. Oder hat eine andere Gewalt Macht über mich gewonnen? Nun, wenn sie mich nur dahin leitet, wohin ich gelangen will.

Viele meiner Gedanken unterlasse ich aufzuzeichnen. Ich scheue mich, ihnen Ausdruck zu geben; es thut nicht gut, so nackt und bloß dazustehen, sähen uns auch nur die eigenen Augen. Ich muß lernen zu schweigen.

*

O Welt! O Welt!

Es kommen jetzt häufig Hirten zu meiner Höhle, bringen mir Milch, Käse und Ricotto, wollen, daß ich ihnen predige, und bitten mich, sie zu segnen. Diese armseligen, wilden Menschen halten mich für einen heiligen Einsiedel und erweisen mir hohe Verehrung.

Ich gerate jedesmal in großen Zorn, weigere mich, ihre Bitten zu erfüllen, werfe die Speisen in den Abgrund, bedeute ihnen, daß ich ein gänzlich unheiliger Mensch sei, und jage sie von dannen. Aber sie glauben mir nicht, sondern bestärken sich nur in ihrem Wahn, kommen immer wieder, umlagern mich förmlich, flehen mich um meinen Segen an, als ob ich ein Wunderthäter sei. Da floh ich und hielt mich vor ihnen verborgen; aber schließlich habe ich mich ergeben müssen. Sie kommen auch zu mir mit allerlei Gebresten behaftet, die ich heilen soll.

Diese Ereignisse hat Abt Evaristus erfahren, und der Herr kam selbst zu mir heraufgestiegen.

Ich merkte wohl, daß er sich vor meinem Anblick entsetzte. Auch mag ich übel genug aussehen. Meine Kutte ist zerrissen, und man schaut durch die Fetzen meines Gewandes das nackte Fleisch, das dem Körper eines Greises anzugehören scheint. An Haupt und Wangen ist das Haar gewachsen, als hätte ich ein halbes Jahrhundert hier oben verbracht; mein Leib starrt vor Schmutz, und wenn ich mit meinen zitternden Knochenhänden über mein Gesicht fahre, so ist mir's, als ob ich einen Totenschädel betaste.

Abt Evaristus sprach zu mir:

»Wiederum kommt ein großes Aergernis von Dir; denn wie ich vernommen, gibst Du Dich dem thörichten Volk für einen Heiligen aus. Sie glauben an Dich, und auch daß Du Wunder verrichtest.«

Ich erwiderte:

»Soll ich für ihren Aberglauben verantwortlich sein? Mich scheren sie nicht.«

»Dennoch besitzest Du große Gewalt über sie.«

»Davon weiß ich nichts. Ich rufe sie nicht, sie kommen.«

Der Hochwürdige schwieg. Dann nach einer Weile:

»Wie lange willst Du noch in Deiner Sünde beharren?«

»Ihr fragt mich mehr, als ich wissen kann.«

»So bist Du noch immer nicht bußfertig?«

»Ich bin immer noch Mensch.«

»Wie meinst Du das?«

»Solltet Ihr das nicht wissen?«

»Nein.«

»Kommt nach einem Jahre wieder und fragt mich: wenn ich es Euch auch dann nicht sagen kann, seht Ihr es vielleicht mit Euren eigenen Augen.«

Abt Evaristus seufzte tief und schmerzlich auf, warf sich am Abgrund beim Kreuz nieder und betete mit lauter Stimme für mich. Als er so dicht vor mir kniete, hätte ich mich gern auf ihn geworfen. Es hätte nur eines Ruckes bedurft – –

*

Jetzt bin ich länger als ein Jahr hier oben. Ich merke es an den Gluten der Sonne; es muß Hochsommer sein. Der Himmel gleicht einem weißglühenden Gewölbe, dem die Sonne wie ein gewaltiger Rubin eingefügt ist. Vom Gebirge habe ich seit vielen Wochen nichts gesehen, die Erde scheint ein Feuerherd zu sein und zu dampfen. Die Luft atmet sich ein wie Qualm.

In meinem Loche ist es kühl; aber ich will mich kasteien. Und so krieche ich denn jeden Morgen hervor und bette mich auf das glühende Gestein, mitten in die Sonne und lasse mir von ihren Strahlen das Gehirn versengen. Oft verliere ich darüber das Bewußtsein, und längst würde es mich getötet haben, wäre mein Leib noch von menschlicher Art. Zuweilen faßt mich bestialische Wut. Ich springe auf, brülle gleich einem Vieh, zerfleische mich in blutiger Gier, hüpfe und springe wie im Veitstanz, so lange, bis ich niederstürze.

Dann kommen Geister zu mir, kauern sich neben mich und raunen mir zu – –

*

Ich kann nichts mehr aufzeichnen.

*

Es ist wieder Winter, ich liege in meiner Höhle, die Schlange ist bei mir.

*

Heute fiel es mir ein:

Papst Anaklet II. war eines Juden Enkel.

Papst Anaklet II. war einer der schlimmsten Feinde Israels.

Und er besaß doch die Macht, das Volk der Verdammten auf Erden und im Himmel zu erlösen, dem Volk der Verdammten auf Erden Gutes zu thun und – was mehr ist! – das Volk der Verdammten im Leben hoch zu erheben.

Und das ist das Erhabene der katholischen Kirche daß eines Mörders und eines Bettlers Sohn, daß selbst der Enkel eines Juden Papst und Statthalter Christi werden kann. Wie, wenn es nochmals geschehen würde? Ein Konvertit wird Papst und dieser Papst –

Juble, Israel, juble und jauchze!

Hosianna! Hosianna!

Dich erlösen zu können durch irdische Macht –

Wie wird mir!

*

Dieses sind die letzten Worte, die ich in meinem Grabe niederschreibe:

Zwei volle Jahre habe ich hier droben zugebracht. Morgen kommen sie: der Abt Evaristus, alle Brüder und viel Volks und führen mich vom Berg hinab ins Kloster zurück. Ich habe meine Sünde erkannt und bereut: ich widerrufe, ich demütige mich, ich unterwerfe mich.

Das Volk hält mich für einen Heiligen.

Ich werde Großes vollbringen: denn ich will es.

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