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Viertes Kapitel

Rückkehr nach London; Jenni wird allmählich verdorben

Während unser würdiger Philosoph Freind so die Barceloner aufklärte und sein Sohn Jenni die Barcelonerinnen entzückte, wurde Mylord Peterborough, zum Dank dafür, daß er Barcelona erobert hatte, aus der Gunst der Königin Anna und des Erzherzogs verdrängt. Die Höflinge warfen ihm vor, diese Stadt gegen alle Regeln genommen zu haben: mit einer Armee, die mehr als die Hälfte kleiner war als die Besatzung. Der Erzherzog war zuerst sehr empört darüber, und Freind sah sich gezwungen, die Verteidigungsschrift des Generals zu schreiben. Dieser Erzherzog, der gekommen war, um das Königreich Spanien zu erobern, besaß nicht das Geld, um seine Schokolade zu bezahlen. Alles, was die Königin Anna ihm gegeben hatte, war vertan. Montecuculi sagt in seinen Memoiren, daß drei Dinge zum Kriegführen nötig seien: erstens Geld, zweitens Geld, drittens Geld. Der Erzherzog schrieb von Guadalaxara aus, wo er am 16. August 1706 war, an den Mylord Peterborough einen großen Brief, den er Yo el Rey unterzeichnete, und in dem er den General beschwor, sofort nach Genua zu reisen, um auf seinen Kredit hunderttausend Pfund Sterling aufzutreiben, damit er regieren könne Dieser Brief steht in der Verteidigungsschrift des Grafen Peterborough von Freind, Seite 143, bei Jonas Bourer. (Voltaire.). So ist unser Sertorius genuesischer Bankier eines Heerführers geworden. Er vertraute seine Not dem Freunde Freind: sie gingen zusammen nach Genua; ich folgte ihnen, denn Sie wissen, daß mich immer mein Herz führt. Ich bewunderte die Geschicklichkeit und den versöhnlichen Geist meines Freundes in dieser heiklen Angelegenheit. Ich sah, daß ein kluger Kopf allen Lagen Genüge tut; unser großer Locke war Arzt; er wurde der einzige Metaphysiker Europas und brachte die Finanzen Englands wieder in Ordnung.

Freind trieb in drei Tagen die hunderttausend Pfund Sterling auf, die der Hof Karls VI. in weniger als drei Wochen verschlang. Worauf der General, in Begleitung seines Theologen, nach London mußte, um sich vor dem versammelten Parlament zu verteidigen, daß er Katalonien gegen alle Regeln erobert und sich im Dienste des öffentlichen Wohles ruiniert hätte. Die Sache zog sich in die Länge und wurde immer mehr zugespitzt wie alle Parteiangelegenheiten.

Sie wissen, daß Herr Freind Parlamentsmitglied war, bevor er Priester wurde, und daß er der einzige ist, dem man erlaubte, beide Ämter, die so unvereinbar sind, auszuüben. Als er nun eines Tages über eine Rede nachdachte, die er im Hause der Gemeinen, dessen würdiges Mitglied er war, halten wollte, meldete man ihm eine spanische Dame, die ihn in einer dringenden Angelegenheit sprechen wollte. Es war Donna Boca Vermeja selber. Sie war in Tränen aufgelöst; unser guter Freund ließ ihr ein Frühstück servieren. Sie trocknete die Tränen, frühstückte und sagte:

»Sie erinnern sich, mein lieber Herr, daß Sie bei Ihrer Abreise aus Genua Ihrem Herrn Sohn befahlen, von Barcelona nach London zu reisen und sich hier in das Amt eines Sekretärs bei der Schatzkammer einzuarbeiten, welches Ihr Einfluß ihm verschafft hat. Er schiffte sich auf dem ›Triton‹ ein mit dem jungen Bakkalaureus Don Papa Dexando und einigen andern, die Sie bekehrt hatten. Sie können sich denken, daß ich und meine gute Freundin Las Nalgas die Reise mitmachten. Sie erinnern sich, daß Sie mir erlaubt haben, Ihren Sohn zu lieben, und daß ich ihn anbete ...«

»Ich, mein Fräulein! Ich habe Ihnen diesen kleinen Liebeshandel nicht erlaubt, sondern ihn einfach geschehen lassen: das ist ein großer Unterschied. Ein guter Vater darf weder der Tyrann noch der Kuppler seines Sohnes sein. Die Unzucht zwischen zwei freien Menschen war vielleicht früher eine Art Naturrecht, das Jenni mit Vorsicht genießen kann, ohne daß ich mich dareinmische. Ich hindere ihn so wenig daran, eine Geliebte zu haben, wie seine Mittag- oder Abendmahlzeit zu halten: handelte es sich aber um einen Ehebruch, würde ich Schwierigkeiten machen, denn Ehebruch ist Raub. Gegen Sie jedoch, mein Fräulein, die keinem etwas zuleide tun, habe ich nichts einzuwenden.«

»Nun! Mein Herr, es handelt sich um Ehebruch. Der schöne Jenni verläßt mich um einer jungen Ehefrau willen, die nicht so schön ist wie ich. Sie fühlen, welche grausame Beleidigung dies ist.«

»Er ist im Unrecht,« sagte darauf Herr Freind.

Boca Vermeja erzählte ihm, indes sie einige Tränen vergoß, wie Jenni auf den Bakkalaureus eifersüchtig gewesen sei oder doch so getan habe; wie Mrs. Clive-Hart, eine junge, sehr unternehmende, sehr freie, sehr selbständige und bösartige Frau, sich seines Herzens bemächtigt habe; wie er mit Freigeistern lebe, die Gott nicht fürchten; wie er schließlich seine treue Boca Vermeja für die Bübin Clive-Hart im Stiche lasse, weil die Clive-Hart eine oder zwei Schattierungen mehr weiß und rot sei als die arme Boca Vermeja.

»Ich werde diese Sache in Muße untersuchen,« sagte der gute Freind; »jetzt muß ich ins Parlament, um Mylord Peterborough zu verteidigen.« Er ging ins Parlament: ich hörte ihn dort eine starke, zusammengedrängte Rede halten, ohne jeden Gemeinplatz, ohne Ausschmückungen, ohne das was wir Phrasen nennen. Er »berief« sich nicht auf einen Zeugen, ein Gesetz; er war selbst Zeuge, er zitierte, nahm das Gesetz für sich in Anspruch. Er sagte keineswegs, daß man den »heiligen Gefühlen« des Hofes zunahegetreten sei, indem man Mylord Peterborough anklagte, die Truppen der Königin Anna aufs Spiel gesetzt zu haben, da es sich ja nicht um etwas Heiliges handelte. Er verschwendete nicht an eine Vermutung das Wort »Demonstration«; er verletzte nicht die Achtung vor dem hohen Parlament durch fade bürgerliche Späße; er nannte Mylord Peterborough nicht seinen Klienten, weil das Wort Klient einen Mann der Bürgerschaft bezeichnet, der von einem Senator protegiert wird. Freind sprach mit ebensoviel Bescheidenheit wie Festigkeit: man hörte ihm ruhig zu; man unterbrach ihn nur durch: »Hear him, hear him, hört, hört.« Das Unterhaus stimmte dafür, daß man dem Grafen Peterborough danken müsse, anstatt ihn zu verurteilen. Mylord erlangte denselben Spruch vom Oberhaus; er traf Vorbereitungen, um mit seinem teuren Freind nach Spanien zurückzureisen und dem Erzherzog das Königreich zu übergeben: was nicht geschah aus dem Grunde, daß nichts in der Welt geschieht, wie man es will.

Nachdem wir das Parlament verlassen hatten, gab es für uns nichts Wichtigeres, als uns über das Verhalten Jennis zu erkundigen. Wir erfuhren in der Tat, daß er ein ausschweifendes, wüstes Leben mit Mrs. Clive-Hart und einer Gesellschaft junger Atheisten führte, übrigens Leuten von Geist, die durch ihre Ausschweifungen überzeugt worden waren, daß »der Mensch nichts vor dem Tier voraushabe; daß er geboren werde, wie ein Tier, sterbe, aus Erde geformt sei und wieder zu Erde werde; daß es nichts Besseres gebe unter der Sonne, als sich an seinen Werken freuen und mit derjenigen zu leben, die man liebt, wie Salomo am Schlusse des dritten Kapitels im Koheleth sagt, den wir den Prediger Salomo nennen«.

Diese Ideen waren ihnen vor allem von einem gewissen Wirburton eingeflößt worden, einem schamlosen Taugenichts. Ich habe einiges aus den Manuskripten dieses Narren gelesen: Gott verhüte, daß sie je gedruckt werden! Wirburton behauptet, daß Moses nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubte; und da Moses wirklich nirgends davon spricht, schließt er daraus, daß dies der einzige Beweis seiner göttlichen Mission gewesen sei. Diese absonderliche Folgerung läßt unglücklicherweise den Schluß zu, daß die jüdische Sekte falsch war. Die Heiden schließen daraus weiter, daß unsere Sekte, die auf die jüdische gegründet ist, ebenso falsch sei; wenn aber diese, als die beste von allen, falsch wäre, müßten alle anderen noch falscher sein; so daß es überhaupt keine Religion gäbe. Daraus schließen wieder andere, es gäbe keinen Gott; es bleibt diesen Folgerungen nur hinzuzufügen, daß dieser kleine Wirburton ein Intrigant und Verleumder ist. Sie sehen, welche Gefahr hier lauert!

Ein anderer Narr, namens Needham, ein heimlicher Jesuit, geht noch weiter. Dies Tier – Sie haben übrigens davon gehört – bildet sich ein, daß er Aale aus Roggenmehl und Lammblut geschaffen habe, und daß diese Aale sofort, ohne die natürliche Paarung, andere hervorgebracht hätten. Gleich schließen unsere Philosophen daraus, daß man Menschen aus Weizenmehl und Rebhuhnsaft fabrizieren könne, da sie einen edleren Ursprung als Aale haben müssen; sie behaupten, diese Menschen brächten unmittelbar andere hervor; so daß es keineswegs Gott sei, der den Menschen gemacht habe; daß alles aus sich selbst entstehe; daß man sehr gut ohne Gott auskomme; daß es überhaupt keinen Gott gebe. Urteilen Sie, welche Verwüstungen der schlecht verstandene Koheleth und die gut verstandenen Wirburton und Needham in jungen, leidenschaftlichen Herzen, die nur nach dem eigenen Gefühl urteilen, hervorbringen müssen.

Was jedoch das Schlimmste war: Jenni hatte Schulden bis über die Ohren; er zahlte sie auf seltsame Art. Einer seiner Gläubiger war an dem Tage, da wir im Parlament waren, zu ihm gekommen, um hundert Guineen einzufordern. Der schöne Jenni, der bis dahin stets sanft und höflich gewesen war, hatte sich mit ihm geschlagen und ihm als einzige Bezahlung einen Degenstoß versetzt. Man fürchtete, daß der Verwundete daran stürbe: Jenni sollte ins Gefängnis gebracht werden und lief Gefahr, gehängt zu werden, trotz der Protektion des Mylord Peterborough.


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