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Elftes Kapitel

Vom Atheismus

Birton

Ich verstehe wohl, daß das Urwesen, der Herr der Natur, ewig ist; aber wir, die gestern noch nicht waren, wie kommen wir zu dem tollkühnen Anspruch auf eine ewige Zukunft? Alles um uns vergeht ohne Wiederkehr, von dem Insekt an, das die Schwalbe verschlingt, bis zu dem Elefanten, der von Würmern gefressen wird.

Freind

Nein, nichts vergeht, alles wechselt. Die winzigen Keime der Tiere und Pflanzen bestehen, entwickeln sich und pflanzen die Arten fort. Warum sollte Gott das Prinzip, das Sie handeln und denken macht, welcher Natur es auch sei, nicht erhalten? Gott hüte mich davor, ein System zu entwickeln, so viel aber ist sicher, es ist in uns etwas, das denkt und will: dieses Etwas, das man früher eine Monade nannte, ist unsichtbar. Gott hat es uns gegeben oder richtiger, Gott hat uns ihm gegeben. Sind Sie sicher, daß er es nicht erhalten kann? Denken Sie nach, prüfen Sie; können Sie mir irgendeinen Gegenbeweis geben?

Birton

Nein; ich habe in meinem Verstande, in allen Büchern der Atheisten und besonders im dritten Gesang des Lukrez gesucht; ich gestehe, daß ich immer nur Wahrscheinlichkeiten fand.

Freind

Und auf diese bloßen Wahrscheinlichkeiten hin sollten wir uns allen unseren verhängnisvollen Leidenschaften hingeben? Hieße das nicht wie Tiere leben, mit keinem andern Gesetz als dem Hunger über sich, mit keinem andern Zügel als der Furcht vor den Mitmenschen, die eben diese Furcht zu ewigen Feinden machen muß; denn man will stets das zerstören, was man fürchtet. Überlegen Sie dies wohl, Herr Birton; denke ernstlich darüber nach, mein Sohn Jenni: von Gott weder Strafe noch Lohn erwarten, das heißt in Wahrheit ein Atheist sein. Was würde die Idee eines Gottes nützen, der keine Macht über uns hätte? Das ist, als ob man sagte: Es gibt einen König von China, der sehr mächtig ist. Ich antworte: Möge es ihm gut gehen; möge er in seiner Wohnung bleiben, wie ich in der meinen: ich kümmere mich nicht mehr um ihn, als er um mich; er hat so wenig Gerichtsbarkeit über mich wie ein Stiftsherr von Windsor über ein Mitglied unseres Parlamentes. Dann bin ich also mein eigener Gott, ich opfere die ganze Welt meinen Launen, wenn ich Gelegenheit dazu habe; ich bin ohne Gesetz, ich richte mich nur nach mir selber. Wenn die anderen Schafe sind, mache ich mich zum Wolf; wenn sie Hühner sind, zum Fuchs.

Ich nehme an, was Gott verhüten möge, ganz England wäre aus Grundsatz atheistisch. Ich gebe zu, daß sich einige Bürger finden könnten, die zusammen auskämen, wenn sie von Natur ruhig, sanft und dazu reich genug wären, um nicht ungerecht sein zu müssen, außerdem voll Ehrgefühl und folglich auf gutes Verhalten bedacht. Sie werden die schönen Künste pflegen, durch die die Sitten sich mildern; sie werden in Frieden nur den unschuldigen Freuden der ehrlichen Leute leben können. Aber ein mittelloser und leidenschaftlicher Atheist, der seiner Straflosigkeit sicher ist, wäre ein Dummkopf, wenn er nicht Sie tötete, um Ihr Geld zu stehlen. Damit sind alle gesellschaftlichen Bande zerrissen, alle geheimen Verbrechen überschwemmen die Erde wie Heuschrecken, die, zuerst kaum beachtet, die Felder zerstören. Das niedere Volk wird nur noch eine Horde Räuber sein, wie unsere Diebe, von denen nicht der zehnte Teil durch unsere Richter zum Hängen verurteilt wird. Sie bringen ihr elendes Leben in Wirtshäusern mit Dirnen hin, die sie schlagen. Sie prügeln sich gegenseitig. Sie fallen betrunken auf den Boden neben ihre Bleikrüge, mit denen sie sich den Kopf gespalten haben; sie erwachen nur, um zu stehlen und zu morden; an jedem Tag beginnt dieser furchtbare Kreislauf von Rohheiten von neuem.

Wer wird die Großen und die Könige in ihren Racheplänen, ihrem Ehrgeiz, dem sie alles opfern wollen, aufhalten? Ein atheistischer König ist gefährlicher als ein fanatischer Ravaillac.

Das Italien des fünfzehnten Jahrhunderts wimmelte von Atheisten; was entstand daraus? Jedes Festmahl bedeutete eine Vergiftung. Ein Stilett im Herzen eines Freundes war so wenig außergewöhnlich wie ihn zu umarmen. Es gab Lehrer des Verbrechens, wie es heute Musik- und Mathematiklehrer gibt. Man wählte mit Vorliebe Tempel, um Prinzen am Fuße der Altäre zu ermorden. Papst Sixtus IV. und ein Erzbischof von Florenz Salviati. ließen auf diese Art die beiden vollkommensten Prinzen Europas hinmorden. (Mein teurer Sherloc, erklärt, bitte, Paruba und seinen Kindern, was ein Papst und ein Erzbischof ist, und sagt ihnen besonders, daß es derartige Ungeheuer nicht mehr gibt.) Aber fahren wir fort. Ein Herzog von Mailand wurde ebenfalls in einer Kirche ermordet. Man kennt nur zu gut die erstaunlichen Schreckenstaten Alexanders VI. Wären solche Sitten geblieben, würde Italien menschenleerer geworden sein als Peru nach dem feindlichen Einfall.

Der Glaube an einen Gott, der die guten Handlungen lohnt, die schlechten bestraft und leichte Fehler vergibt, ist somit der für die Menschheit nützlichste Glaube. Er ist der einzige Zügel für mächtige Menschen, die ohne Scham öffentliche Verbrechen begehen. Er ist es ebenso für alle Verbrecher, die im geheimen mit List ihr Werk tun. Ich warne Sie, meine Freunde, diesen notwendigen Glauben zu verwechseln mit einem Aberglauben, der ihn entwürdigen, ja, ihn sogar verdunkeln würde. Der Atheist ist ein Ungeheuer, das alles verschlingt, um seinen Hunger zu stillen; der Abergläubische ist ein anderes Ungeheuer, das die Menschen aus Pflichtgefühl zerreißt. Ich habe stets bemerkt, daß man einen Atheisten heilen kann, niemals jedoch heilt man einen Abergläubischen radikal; der Atheist ist ein Mann von Geist, der sich täuscht, der jedoch selbst denkt, der Abergläubische ein roher Dummkopf, der nur fremde Gedanken besitzt; der Atheist wird Iphigenie, die im Begriff ist, sich mit Achill zu vermählen, vergewaltigen. Der Fanatiker wird sie fromm auf dem Opferaltar erwürgen und noch glauben, daß Jupiter ihm dafür zu Dank verpflichtet sei; der Atheist wird ein goldenes Gefäß aus einer Kirche rauben, um Freudenmädchen ein Festessen zu geben; der Fanatiker wird, während er in derselben Kirche ein Autodafé feiern und Juden verbrennen läßt, dazu aus voller Kehle jüdische Gesänge singen lassen. Ja, meine Freunde, der Atheismus und der Fanatismus sind wie zwei Pole einer Welt voll Schrecken und Wirrnis. Die kleine Zone der Tugend liegt zwischen diesen beiden Polen. Gehen Sie festen Schrittes auf diesem Pfade; glauben Sie an einen gütigen Gott und seien Sie selbst gut. Das ist alles, was die großen Gesetzgeber Locke und Penn von ihren Völkern verlangen.

Antworten Sie mir, Herr Birton, Sie und Ihre Freunde; welches Übel kann Ihnen durch die Anbetung eines Gottes, verbunden mit dem Glück, ein guter Mensch zu sein, geschehen? Wir alle können in diesem Augenblick, da ich dies sage, von einer tödlichen Krankheit befallen werden: wer von uns möchte dann nicht in Unschuld gelebt haben? Sehen Sie, wie der böse Richard III. bei Shakespeare stirbt; wie die Geister aller jener, die er getötet hat, sein Gewissen erschüttern. Oder der Tod Karls IX, nach der Bartholomäusnacht! Sein Beichtvater kann wohl sagen, er habe recht getan! Sein Verbrechen zerreißt ihn, sein Blut bricht aus den Poren, alles Blut, das er vergießen ließ, schreit gegen ihn. Seien Sie sicher, unter all diesen Ungeheuern ist nicht ein einziges, das nicht in Qualen des Gewissens gelebt und in der Raserei der Verzweiflung geendet hat.


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