Adolf Vögtlin
Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale
Adolf Vögtlin

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18. Herr über Kinder.

Als unser Schiff, das wir in Dover bestiegen hatten, auf Brighton zuschwamm, dessen östlicher Teil vom hohen steilen Kliff herab mit seinen weißen Häuserfronten weit ins Meer hinausglänzt, zeigte mir Harrys Vater eine große, seitabstehende Villa, die mitten in einem Parke stand. Mit seinen dunkeln Föhren und Fichten hob er sich kräftig von den dahinterliegenden hellgrünen Weidenhügeln ab. 379

»Dies ist mein Haus!« sagte er, »es wird auch das Ihrige sein.« Dabei sah er mich fragend an; allein ich erriet nicht, was er eigentlich meinte, und antwortete bloß, es möge sich dort herrlich wohnen lassen.

Als wir uns dann ausgeschifft und häuslich eingerichtet hatten, rief er mich in sein reich ausgestattetes Bibliothekzimmer, bot mir eine Zigarre an und lud mich zum Sitzen ein.

»Well,« sagte er dann, den Rauch in dünnen Streifen von sich blasend, »Sie sind zu meinem Sohn gewesen wie ein Freund, ja wie ein Bruder.«

Es kam ihm von Herzen. Als er über die Zigarre hinweg den wallenden Rauchbändern nachblickte, gewahrte ich, daß ihm die Augen feucht wurden, und als er von neuem zu sprechen anhob, kamen die Worte nur zögernd hervor, weil ihn eine Rührung übernahm.

»Well . . . ich wünsche, Sie blieben bei uns . . . Sie tun Master Harry gut . . . Sie haben die Welt gesehen . . . Sie können mit ihm reden . . . Sie wissen ihn zu beschäftigen . . . von schädlichen Liebhabereien abzuhalten . . . bleiben Sie bei uns . . .«

Ich mußte natürlich zu diesem wohlwollenden Vorschlag den Kopf schütteln, da ich mich dem Direktor auf ein neues Vierteljahr verpflichtet hatte. Der alte Harrison schüttelte den Kopf ebenso entschieden und sagte: »Sie sind gebunden? Tut nichts. Ich schreibe an Direktor Kühn und zahle alles.«

Auf diese Fürsorge hin konnte ich mein Wort uneingelöst lassen und in England bleiben. Der alte Harrison war ganz der Mann dazu, mit Hilfe eines 380 unerschöpflichen Geldbeutels allfällige Rechtsbedenken des Direktors zum Schweigen zu bringen.

»Well, geben Sie mir die Hand. All right!«

Ich schlug ein und war fortan wie ein Freund des Hauses, ein lieber Gast, gehalten. Nun hatte ich zum erstenmal in meinem Leben Gelegenheit, den Körper zu pflegen und ein gesundes Stück englischer Kultur anzunehmen. Jeden Tag ein warmes Bad mit kühler Dusche, Spiel im Freien, Schwimmen, Reiten; anderseits stand mir die reiche Bibliothek offen, die großen Tageszeitungen, die mit ihrem Gehalt und politischen Weitblick den unsrigen um ein Jahrhundert vorauseilten. Überallhin wurde ich mitgenommen, häufig auf schöne See- und Landfahrten, nur nicht in den Klub. Gelegentlich las ich der Familie aus Büchern in verschiedenen Sprachen vor, wofür besonders die beiden alten Leutchen mir dankbar waren und sich als Entgelt bemühten, mir in beschaulicher Unterhaltung die Feinheiten der englischen Sprache beizubringen.

Master Harry erholte sich zusehends, indem er sich unter meiner Führung eines nüchternen Lebenswandels befliß. Er erfuhr und erkannte, wo seine Zerrüttung ihren Ursprung genommen hatte, und sobald ihm dies zur klaren Überzeugung geworden, konnte ich den unbeugsamen Willen des jungen Mannes, seine Leidenschaften zu beherrschen, nur bewundern. Die Schönheit der blühenden Erde wurde ihm wieder genug, und er sammelte aus dem Anblick ihres Reichtums die Entschlossenheit, seine eigene Kraft langsam reifen zu lassen und nicht vorzeitig durch Übergenuß zu zerstören.

Nie zuvor hätte ich geglaubt, daß Leib und Seele 381 des Menschen so erneuerungsfähig wären; nun war die Quelle, in der er sich verjüngte, für mich ein Bad der Hoffnung; und unter dem Segen reiner und dankbarer Menschenliebe, wie sie mich jetzt umgab, gewann ich den Glauben an meine eigene Kraft und an die Möglichkeit, mir meine Menschenwürde, das Ziel, nach dem ich lange blindlings tastend und fehlend gesucht hatte, trotz alledem, was geschehen und gewesen, endlich doch noch zu erreichen.

Der Kranke richtet sich nicht an Gesunden, sondern an Genesenden auf. Oder war ich etwa nicht krank gewesen?

Wie man an Blutvergiftungen jahrelang leiden und schleppen kann, so gibt es Gedankenvergiftungen, deren Folgen nicht weniger hartnäckig sind.

Neben vielen rücksichtslosen und rohen Menschen, die ich auf meinen vielfach verschlungenen Wegen kennen gelernt und denen gegenüber ich von einem ebenso barbarischen Naturrecht, von gemeiner List und Verschlagenheit Gebrauch gemacht hatte, sah ich nun andere in nächster Nähe, deren Güte und edle Gesinnung mich überwältigte. Das Göttliche, das in der Menschheit lebt, und das ich so oft bezweifelt und verspottet hatte, umfing mich in aller Klarheit, und meine Seele badete sich rein in dieser Höhenluft.

Freilich blieb mir Gott selber unfaßbar; ich fühlte mich in der neuen Umgebung, die mir Menschenwert gab, als ein Geschöpf seines Geistes und erkannte unsere ganze Geschichte, unser ganzes langsames Werden als einen Abglanz seiner Größe. Sollte ich die Menschheit nicht verehren und Gott in ihr?

Mit kindlichen Schauern in der Brust besuchte ich 382 wieder die Kirche. Mein Gefühl trug mich weit empor und hinaus über den, der auf der Kanzel stand und predigte und glaubte, mit den dünnen Zündhölzern seiner Logik den Thron Gottes und seine Allgegenwart schützen zu müssen.

Wenn ich gehobenen Geistes nach Hause kam, konnte ich den Gärtnerskindern, die mich immer beim Eingang abfaßten, eine Art Nachgottesdienst halten, indem ich ihnen das Schönste aus meinen Erlebnissen erzählte.

Ich verhehlte ihnen nicht alle meine Entbehrungen und Enttäuschungen, nicht alle die bitteren Ungerechtigkeiten, die ich erfahren hatte; allein ich bemerkte deutlich, wie ihr Geist in ihren hellen Augen aufleuchtete, wenn ich ihnen schöne und gute Taten erzählte, und ich festigte, indem ich bei ihnen absichtslos den Glauben an das Große und Erhabene im Leben, den Glauben an die Edelmenschen nährte, diesen Glauben in mir selbst.

Und indem ich gab, fühlte ich, wie ich immer reicher wurde.

Wie war das gekommen? Wie war ich aus dem Wünschen und Begehren zum Geben und Lieben gelangt? . . . Harrys Schicksal hatte mir eines der großen Lebensgeheimnisse entschleiert: Die Flamme brennt um so heller, je mehr Öl sie verzehrt, und unsere geistige Natur leuchtet um so herrlicher, je mehr wir ihr von unserer sinnlichen geopfert haben. Ich hatte erkannt, wie eng begrenzt die Erfüllungen des Lebens in den Sinnen sind, wie unendlich diejenigen des Lebens im Geiste, das um so mehr wächst, als jenes abnimmt. Es wächst mit dem 383 Schuldgefühl, das jede Offenbarung der Reinheit in uns auslöst, und läßt den Trieb nach oben um so mächtiger werden, als wir fühlen, daß wir um so leichter gehoben werden, je mehr Ballast wir auswerfen; es gilt die »Angst des Irdischen« abzustreifen. Und indem ich das ewige Auf und Nieder meiner Erlebnisse, die in stillen Stunden als düstere und heitere Bilder an meiner Seele vorübergezogen, überblickend zusammenfaßte, und so meinem verworrenen Dasein einen Sinn zu geben suchte, sah ich mich am Fuße jener seltsamen Leiter in der Danteschen Vision stehen, wo wir steigend sinken und sinkend steigen. Ich stand an einem Wendepunkt und schaute zu jenen Höhen empor, welche vom Sonnenlicht der eigenen Erkenntnis vergoldet sind. Endlich, endlich: neues Land und neues Leben! Wahrhaftig, ich stand zum erstenmal fest auf der Erde und trug doch ein mächtiges Höhengefühl in mir, weil ich einen Abgrund durchmessen und den obern Rand erklommen hatte . . .

Ein schöner Zufall wollte es, daß ich bald außer den Gärtnerskindern noch andere Zuhörer bekam. In einem unserer Villa benachbarten Knabenpensionat – Kliffhaus hieß es – war der Fremdsprachenlehrer, ein glutäugiger Franzose, mit der Tochter des Besitzers nach Amerika durchgebrannt. Dieser hatte von meinen Sprachkenntnissen gehört und ersuchte mich, den Unterricht in der französischen, spanischen und deutschen Sprache aushilfsweise zu übernehmen. Ich sagte mit der Einwilligung meiner Beschützer zu und lebte mich so in meine Arbeit und den Verkehr mit den forschen Söhnen Englands ein, daß ich in 384 der vornehm geführten Anstalt bald heimisch war und die Tätigkeit über alles lieb gewann.

In derselben Zeit verlobte sich der völlig hergestellte Master Harry mit einer tüchtigen Frau, die sich ohne Bedenken entschloß, ihm nach Indien zu folgen. Da machten mir die Eltern den Vorschlag, als Gesellschafter und Hüter bei ihnen zu bleiben, indem sie mir versprachen, für alle Fälle eine nahrhafte Lebensrente auszusetzen.

Ich hatte also Aussicht auf ein sorgenloses Schlaraffenleben, wonach ich mich in meinem jugendlichen Unverstand manchmal genug gesehnt hatte. Jetzt sagte mir der fahrige Müßiggang nicht mehr zu. Die Kräfte, die sich in Geist und Herzen gesammelt hatten, sehnten sich nach Wirksamkeit, wie die Säfte der Blume sich in der Blüte entfalten wollen, wenn nach winterlichen Nebeltagen die Sonne ins Feld rückt.

Ja, mir leuchtete endlich die Sonne des Glücks. Der Pensionatsvorsteher trug mir eine feste Lehrstelle an, und ich griff zu, denn die Jungen hatten mich's merken lassen, daß sie an mir hingen.

Mister Harrison, Vater, war über meinen Entschluß etwas betroffen, begriff aber vollkommen, als ich ihm erzählte, wie lange ich mich umsonst nach einer meinem Gemüte zusagenden Tätigkeit gesehnt hätte, und war schließlich ganz versöhnt, als ich seine Einladung, bei ihm zu wohnen und zu essen, freudig annahm.

Die Umwälzung in meinem Gemütszustand kann ich nicht beschreiben. Nicht anders war mir zumute, als einem Reisenden, wenn er aus der langen, bangen, rußigen, widerwärtigen Nacht eines Tunnels 385 hinausgeführt wird in den goldenen Schein der Sonne, ans weithinglänzende Meer, in ein blühendes Paradies.

Ein Ziel, ein Ziel! wert eines Lebens!

Freude, Freude im Herzen, wie beseelst du, wie beschwingst du mein schwerfälliges Dasein! Wie lösest du den dumpfen Druck von meinem Gehirn, wie dehnt sich und regt sich jeder Muskel, jede Sehne.

Endlich, endlich nach langer Irrfahrt eine sichere Landung an lockendem Ufer! Agathe, du Herz meines Herzens! Wie will ich dich glücklich machen!

Wirklich, ich schrieb ihr, schrieb ihr jede Woche. Jeder Brief war ein schöner, süßer Zukunftstraum, und sie träumte ihn weiter.

Ich war ein gesegneter Mensch.

Tagein tagaus die frohen Jungen um mich, mit denen ich mich um die Wette auf dem Spielplatz tummelte, die mir ihre Wünsche, ihre gemütlichen Entbehrungen, wie sie das Anstaltsleben mit sich brachte, anvertrauten und mir mit Aufrichtigkeit, Wahrheitsliebe und emsigem Fleiß meine Teilnahme lohnten! Ach, was für frische, gesunde, aufrechte Jungen hat England!

Und wie sacht und allmählich führte mich der Unterricht in die innern Schönheiten unserer wuchtigen charaktervollen Sprache und deren literarische Schätze ein! Bis dahin hatte ich bloß ihre krause Außenseite gekannt, so auch bei den fremden, nun betrat ich voll Ehrfurcht die heimeligen Gemächer, mit leuchtenden Bildern, die ich seit meiner eindrucksreichen Jugendzeit nie mehr geschaut hatte. 386 Eine Wunderwelt voll lockender Labyrinthe war mir der Sprachunterricht, eine Wunderwelt mit geheimnisvollen Abgründen und spiegelhellen Himmeln war mir die Seele der Jugend.

Und nun gab's kein Zweifeln mehr. Es rief mich, es lockte mich! Ich mußte gehorchen. Hier war der Boden, auf dem ich mich jeden Tag sicherer fühlte und der unter meiner Arbeit fruchtbar wurde. Und diese glich einem Gang durch ein jungfräuliches, blühendes Tal, in welchem ob meinen muntern Tritten alle guten Geister, die mich verlassen hatten, wach wurden, herbeikamen, um mich freundlich zu begleiten.

Wo ist deine Heimat, Menschenkind? Da, wo deine Seele lebt! Wahrhaftig, ich sehnte mich nicht nach Münster zurück, ich sehnte meinen Knaben hierher, damit ich ihm einen Hauch von meiner neuen Seele einflößen könnte.

Aber noch war die Erfüllung dieses Wunsches in weiter Ferne. Sollte ich mir eine Hütte bauen, wenn niemand da war, sie zu hüten? Sollte ich mein Söhnchen zu mir nehmen, eh' ihm eine Mutter bestellt war? Hatte ich nicht jede Woche das rührende Schauspiel vor Augen, wie unsere Zöglinge, wenn Vater oder Mutter sie besuchten, im Sonnenschein der elterlichen Liebe auflebten?

Je kleiner das Kind, desto näher sollte ihm die Mutter sein. Wo weilte sie, die ihm und mir zugleich nahe war?

Sie schritt nächtlicher Weile mit segnenden Händen durch meine Träume; kam aber der helle Tag, so wandte sie das Haupt wehmütig zur Seite und 387 verzog sich, Licht in Licht verschwimmend, in unerreichbare Weiten.

Noch durfte ich es nicht wagen, sie an mich zu fesseln, bevor die Bürde des Lebens ihr leichter würde; denn sie hatte bis jetzt zu schwer getragen, zu viele Enttäuschungen hinnehmen müssen. Doch wurde die Hoffnung, sie einmal zu besitzen, in mir um so stärker, als ich meine Brauchbarkeit empfand, als die Freude an der Arbeit mich immer mehr beseligte und der Erfolg wuchs. Ich wurde auch inne, daß mir die Frauen im Haus nicht abgeneigt waren.

Das Zimmermädchen, eine stämmige, rothaarige Engländerin von keltischem Schlage, schlug die Augen vor mir nieder, wenn sie an mir vorbeiging, oder errötete, wenn sie zufällig ein Blick aus meinen Augen traf. Mit den Wochen wurden ihre Augen ernster und strenger, die Pupillen größer und starrer, und ihr Antlitz blasser. Eines Abends – eben wollte ich zu Bette gehen – klopfte es an meiner Zimmertüre. Als ich öffnete, stand das schöne Mädchen hochgehenden Atems vor mir und entschuldigte sich: »O, Herr, ich habe die Zündhölzer vergessen!«

Sie reichte mir eine Schachtel mit zitternder Hand. Dann flüsterte sie: »Gute Nacht, Herr!« und huschte die Treppe hinauf, die in das Stockwerk der Dienerschaft führte. Gewöhnlich war dieses abgeschlossen; sie mußte sich eines geheimen Schlüssels bemächtigt und bedient haben.

Seltsamerweise erhielt ich noch mehrmals auf diesem Wege Besuche. Immer hatte das Mädchen die Zündhölzer vergessen. Einmal lag ich bereits im ersten Schlummer, als es klopfte. Da ich nicht antwortete, 388 kam sie ohne Licht herein, stellte die Zündhölzchen auf das Tischchen neben dem Bette und strich dann mit den flachen Händen suchend über die mondweiße Decke hin, bis sie auf meinen Arm stieß und dann erschreckt ausrief: »O, Herr, Verzeihung, ich dachte, Sie wären noch unten! . . . Bitte, entschuldigen Sie mich gütig!« Sie griff nach meiner Hand. »Haben Sie vielleicht noch etwas nötig? Ich bin so vergeßlich! . . . Nicht wahr, Sie tragen es mir nicht nach? . . . Ich bin ein einfältiges Mädchen!« . . . Und sie verlangte, daß ich ihr die Hand drücke und so ihre Bitte bestätige. Dabei bückte sie sich zu mir herab. Sie roch nach Whisky. Das arme Mädchen hatte sich Mut angetrunken, um die Stimme ihrer Unschuld zum Schweigen zu bringen und den gefährlichen Gang, zu dem ihr Blut sie trieb, wagen zu können.

Da sagte ich ruhig: »Mary, ich will Sie gerne entschuldigen, nur sollten Sie keinen Whisky mehr trinken. Er schwächt das Gedächtnis.«

Da richtete sie sich auf und sagte erzürnt: »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie so dumm wären!« Sprach's und ging hinaus, ohne die Tür hinter sich ins Schloß zu ziehen.

Von jenem Abend an wurden die nächtlichen Besuche eingestellt. Bald vernahm ich, daß Mary die Stelle gekündigt habe. Wo sie konnte, mied sie meine Begegnung; aber am Morgen, als sie wegreiste, verübte sie einen merkwürdigen Racheakt. Als ich gegen Mittag auf mein Zimmer kam, lag mein Bett, Matratze, Federdecken, Kissen, Leinenzeug in scheußlicher Unordnung auf dem Boden. Jemand hatte sich wie wahnsinnig darauf herumgewälzt. Mein gutes neues 389 Nachthemd aber war in tausend Stücken im Zimmer zerstreut.

Da mußte irgendeine Hoffnung in Fetzen gegangen sein . . . Es fiel mir nicht ein, das arme Mädchen zu verklagen; ich bedauerte es aufrichtig, indem ich mich erinnerte, wie wenig Jahre verronnen waren, seit ich mich in einem ähnlichen Zustand herrschaftsloser Sinneserregung befunden hatte. Zugleich erinnerte ich mich derjenigen, an deren Willenskraft ich meine Haltlosigkeit erkannt und deren unberührte Selbständigkeit und Größe mir den Weg zur Bändigung der Sinne gewiesen hatte.

Und trotzdem: heißer, leidenschaftlicher als je umschlang ich die Geliebte in meinen Morgenträumen. Gut, daß der Tag für Arbeit sorgte, in der ich mich ganz vergessen, ruhigem Empfinden und klarem Denken nachgehen konnte. Schlimmer erging es mir in den Ferien; aber bald fand ich in gewaltsamer körperlicher Tätigkeit das allheilende Mittel gegen die Üppigkeit der Sinne. Der Gärtner hatte noch nie einen so arbeitsamen Gast gesehen, der sich immer Beschäftigung in seinem Reich zu machen wußte und dabei so anspruchslos war. Ich aber wußte, daß all das, was ich andern zuliebe tat, mir selber zugute kam; je mehr ich ausgab, desto reicher fühlte ich mich, und es gab Tage, da mir eine Ahnung von der Seligkeit des größten Kinderfreundes aufging. Dazu gewann ich ein wachsendes Interesse an der Gärtnerei, am Pflanzen und Pflegen, und lernte dabei Geduld und Beharrlichkeit üben, jene Kraft, die besonders augenscheinlich im Lehrberuf die Hälfte des Könnens bedeutet. 390 Die beiden alternden Leute, meine großmütigen Gastgeber, konnten nicht begreifen, daß ich für die Arbeit in Garten und Park eine so ausgesprochene Neigung habe, glaubten, ich wolle mir ihre Gastfreundschaft abverdienen, und suchten mich durch Zerstreuungen und Ausfahrten von der Betätigung abzuhalten. Dabei mochte noch ein anderer Umstand eine Rolle spielen. Sie hatten mich durch reiche Kleiderspenden äußerlich so herausgeputzt, daß ich als Gast dem Hause nicht übel anstand. Nun vertrug es sich in ihren Augen mit der Ehre des Gastes nicht, daß er die Arbeit von Angestellten verrichtete. Das Kleid hatte wieder einmal den Mann gemacht. Ob auch den Menschen? Ich hoffte, ja, ich hatte gewisse Anzeichen, daß dieser jenem vorgearbeitet und gewisse Wandlungen zur Veredlung durchgemacht habe.

Wohlgelitten war ich eigentlich überall und immer gewesen; allein die Flüchtigkeit meines Daseins hatte es mir nirgends erlaubt, Wurzel zu schlagen und die Kräfte keimen zu lassen und zu blühender Entfaltung zu bringen. Jetzt aber fühlte ich, wie mich Sympathien umgaben und zum Verweilen und Schaffen einluden. So wurde mancher Trieb, der in mir bereits starr geworden und sich verkrustet hatte, unter der Wärme und Sonnigkeit meiner Umgebung wieder lebendig.

Mit der wachsenden Harmonie in meinem Innern hatte auch das äußere Glück Schritt gehalten. Es war mir nachgeeilt und hatte aus seinem Füllhorn reiche Saat in mein Gärtchen gestreut. War's da zum verwundern, wenn sich zur Eitelkeit der Übermut gesellte und ich in meinen Briefen an Agathe, die 391 bislang von Sehnsucht nach baldiger Vereinigung erfüllt waren, zu Neckereien überging, welche die Eifersucht der Unnahbaren wecken sollten?

Einen besondern Anlaß hierzu bot die Anwesenheit von Master Harrys Schwester, der jungen Witwe eines abenteuerlichen Lords, die sich unter der nichtssagenden Obhut ihrer Eltern in dem lockenden High-Life Brightons von dem Untrost des Trauerjahres erholen und ihrer Selbstherrlichkeit erfreuen wollte.

Das schien ihr nicht übel zu gelingen. Ohne es zu wollen, hörte ich oft, wie sich die Dienerschaft, wenn sie sich allein glaubte, über die Ausgelassenheit der Dame aufhielt und sie nur die lustige Lady nannte. Es gingen böse Redensarten in Rätselform von Mund zu Mund. Der Kutscher sagte: »Vorgestern hab' ich die lustige Lady wiederum mit noch einem nach Hause gefahren; aber die Pferde zogen nicht schwerer. Weißt du, warum?«

Das Kammermädchen antwortete: »O, sie hat ihm heute bereits den Abschied gegeben. Bei der ersten kalten Dusche ging er auf und davon; aber niemand sah ihn fliehen, und doch stieg er nicht zum Fenster hinaus!«

Sie verstanden einander und bekräftigten ihren rohen Spaß mit einem dicken Gelächter.

Oft gaben die alten Herrschaften Gastmähler, wozu sie auch ledige gesetztere Herren einluden; um als salonwürdig erachtet zu werden, bat mich die lustige Lady, mich als französischen Major außer Dienst vorstellen zu dürfen; ich hatte das Vergnügen, mit der Erzählung meiner Abenteuer die Geladenen zu unterhalten. Sie selber sprach mit Ausnahme des 392 Deutschen fast alle Sprachen, die mir bekannt waren, und machte sich einen Scherz daraus, mich in verschiedenen Idiomen zu meinen Rhapsodien anzuspornen und mir französische, italienische, spanische und sogar russische Brocken über den Tisch zuzuwerfen, so daß ich mir manchmal vorkam wie ein Zirkuspferd, das von den Clowns mit drolligen, vielsprachigen Redensarten angerufen wird, bis es sich entschließt, irgendeinen gewünschten nationalen Tanz aufzuführen.

Als ich die Geschichte von der lieblichen Trinidatis in Venado erzählte, rief sie mir auf spanisch zu, der Held sei ungalant gewesen; das holde Mädchen hätte von ihrem Ritter einen ganz andern Dienst verlangt. Aber es gäbe eben Männer, die sich zeitlebens nie in einer Frauenseele auskennen lernen. Der reine Tor Parzival sei ein Lebemann gewesen gegen jenen unbeholfenen Ritter. Der habe frisch zugegriffen.

Dabei warf sie mir einen scheuen Blick zu, der mich beunruhigte. Ich wußte nicht, wie ich Ton und Blick auslegen sollte.

Noch gleichen Abends gaben mir ihre Eltern den Auftrag, die lustige Lady, wenn sie mit einem ihrer flachshaarigen Hofmacher ausritt, gewissermaßen als Ehrenwächter zu begleiten. Sie war keine üble Gestalt, wenn sie auf ihrem hochbeinigen arabischen Rappen im roten Reitkleid über die grüne Heide dahinsauste und die langen goldenen Locken wie eine feurige Lohe hinter sich herwehen ließ. Wir hatten Mühe, ihr zu folgen. Aber wenn wir zurückkehrten, fiel es mir auf, wie weit und glanzlos ihre Pupillen, wie bleich ihr Antlitz und wie erschöpft ihre Züge waren. 393

Eines Tages blieb der Hofmacher aus. Die Eltern sprachen ihre Verwunderung darüber aus, daß er keine Entschuldigung geschickt habe.

»Warum sollte er denn?« rief die lustige Lady, »er bedarf keiner Entschuldigung, denn ich hab' ihm ja gesagt, ich ziehe die Schwarzen den Blonden vor.«

Über solche Freiheit des Benehmens entsetzten sich die guten Eltern; sie wußten aber auch, daß sie der selbstherrlichen Tochter nicht gewachsen waren; mußten sie es sich doch gefallen lassen, daß sie die gesamte Tagespost erlas, bevor Vater und Mutter daran rührten. Sie warfen einander ratlose Blicke zu. Ich selber befand mich in nicht geringer Verlegenheit, da ich der einzige Schwarze in der flachshaarigen Umgebung der Lady war und deshalb Grund hatte, jenes Bekenntnis auf mich zu beziehen.

Eines Tages ließ sie mich durch ihre Gesellschafterin einladen, ihr behilflich zu sein bei der Übersetzung eines spanischen Buches. Es war Tausendundeine Nacht, und zwar nicht in der Kinderausgabe. Die Stelle, die sie angeblich nicht verstand, war das Saftigste im ganzen Werke, und ich fühlte wohl, wie ich in Gegenwart der schönen Frau – die Gesellschafterin hatte sie durch einen Auftrag entfernt – in schamhafte Verlegenheit geriet, und als ich einzelne Ausdrücke, die mir unbekannt waren, im Wörterbuch nachschlug, fand ich Unsagbares und mußte es ablehnen, weiter zu übersetzen.

Als sie mein Erröten sah, bemerkte sie drollig: »O, ich liebe die keuschen Männer. Bei den andern gibt's nichts zu verführen.«

Als Entschädigung las sie mir hernach aus 394 Chaucers »Canterbury Tales« vor. Hier war doch alles derbkräftig und volkstümlich natürlich, so daß ich als ehemaliger Soldat mich über die unflätigen Schwänke, wie sie auch das deutsche Volk zu Tausenden hervorgebracht hatte, nicht sonderlich empörte. Nur berührte es mich unangenehm, daß die äußerlich sich so fein gebende Dame über den derbsten Stellen in unbändige Freude ausbrach und der Wildheit ihres Empfindens keine Zügel anlegte.

Ich ließ es über mich ergehen, daß die lustige Lady mir sogar den Arm um die Schulter legte und mich sanft an sich zog, wenn sie mir eine der schönsten Stellen zeigte, damit ich sie mit ihr läse und genösse.

Als ich sie verließ, hatte ich den Eindruck, daß ihr Geist gelitten habe, und daß sie zu bedauern sei. Die schrankenlose Selbstherrlichkeit, nach der ich selbst und nach der die Jugend vor allem strebt, erschien mir angesichts der Folgen, die ich an diesem zweifellos begabten Geschöpf wahrnahm, als ein Verhängnis. Ich machte die Eltern auf den Zustand ihrer Tochter aufmerksam und riet ihnen, sie unter die Aufsicht eines Arztes zu stellen.

Sie sahen die Zweckmäßigkeit meines Rates ein, hatten aber keine gesetzliche Handhabe, um die Lady zur Annahme einer Kontrolle zu zwingen, und mußten den Dingen ihren Lauf lassen.

Sie bekannte ihren Eltern, daß alles, was ihr fehle, ein männlicher Gesellschafter sei. Den weiblichen quälte sie mit Nadelstichen so, daß sie die Stelle Knall und Fall aufgab.

Eines Tages verreiste ihr Vater nach London, um bei einem berühmten Juristen Rat zu holen, indem 395 er mich zum Schutze der beiden Frauen zurückließ. Beim Mittagessen war die lustige Lady außergewöhnlich aufgeräumt und brachte ihre Mutter durch drollige Späße zum Lachen, daß sie, eine ungebildete und geistig wenig entwickelte Frau, selbst guter Dinge ward und ihre Befürchtungen wegen des Benehmens ihrer Tochter als übertrieben und unnötig ansah. Es mochte gegen die Dämmerung gehen, als mich die Lady zum Vorlesen zu sich rufen ließ. Als ich anklopfte, rief sie aufgeregt: »Herein!« und wie ich eintrat, zog sie die Tür ins Schlafgemach hinter sich zu und sagte: »Bitte, einen Augenblick!«

Ich hatte Muße, mich im prunkvoll ausgestatteten Gemach zum erstenmal recht umzusehen. Auf nachgedunkelten Gemälden leuchteten von allen Wänden schöne nackte Frauengestalten zu mir herab. Rubens war hier zu Hause: Die drei Grazien, das Jüngste Gericht, Venus und Adonis, die Nymphen der Diana von Satyren überrascht, Perseus und Andromeda konnte ich erkennen, die Üppigkeit der Sinnenlust, gebändigt vom strengen Gesetz der Anmut und der Schönheit. Und dennoch geriet mein Herz in Erregung und meine Phantasie erglühte an dem Feuer, das in den überquellenden Formen und in dem schwelgerischen Geiste des Künstlers brannte, der sie schuf und mit dem Zauber seiner eigenen Kraft die irdischen Schönheiten zu unverwelklichen Göttinnen erhob.

Ob man gut daran tat, die einsame Lady solche Prunkräume bewohnen zu lassen? Ich wollte mich bemeistern und mit ernsthaften Gedanken den leicht zu entzündenden Nachschaffungseifer meines eigenen 396 Geistes daniederhalten, als die Tür des Schlafgemaches aufging und aus dem dunkeln Hintergrund die weiße Gestalt der Lady hervortrat, der die goldene Flut ihres reichen Haares über die Schultern herabfloß.

War es ein glänzendes Bild meiner eigenen Phantasie?

Langsamen Schrittes kam sie auf mich zu.

Schaudernd trat ich zurück.

Da breitete sie die Arme aus und ein tierischer Schrei der Begierde entrang sich ihrer Brust. Eh' ich fliehen konnte, hatte sie mich umschlungen und mit übermenschlicher Kraft an sich gepreßt. Was sie keuchte, was sie mir in die Ohren schrie, würde mir die Besonnenheit genommen haben, wenn es nicht der Furcht und Ekel erregende Ausdruck krankhaft erregter Sinne gewesen wäre. Ich schwieg, suchte aber einen Arm freizubekommen und stemmte mich rücksichtslos gegen ihre zarte Brust.

»Du tust mir weh!« rief sie. »Sei mein! . . . Ich gebe dir alles . . . Sei mein . . . oder ich töte dich!«

»Nein!« schrie ich in Angst. »Ich liebe eine andere.«

»Das geht mich nichts an; liebe, so viel du willst.«

Und als ich mich weiter wehrte und sträubte, faßte sie mich plötzlich im Rücken, griff mit beiden Händen nach meiner Kehle und suchte mich zu Boden zu werfen.

Dadurch hatte ich meine Arme freibekommen und konnte mit ihr ringen und meine überlegene Kraft gebrauchen.

Sie fühlte ihre Schwäche und ließ ab. 397 Hochatmend lag sie auf dem Teppich, und ihr Blick fiel auf das Bild des Perseus und der Andromeda. Keuchend sagte sie zu mir: »Sie dort . . . hin . . . und sag mir, ob du ein Mann bist! . . . Jener befreit das Weib aus seinen Fesseln . . . du willst es binden!«

»Sie sind krank, schwer krank . . . Ein Verbrechen wär's an Ihnen, an mir, an ihr . . . die ich liebe!«

»O, ein süßes Verbrechen!« . . .

Sie schlug mit allen Gliedern um sich, um frei zu werden, und versuchte mich zu sich niederzureißen.

Da machte ich von einem Kunstgriff Gebrauch, den ich in der Irrenanstalt gelernt hatte; und sofort lag sie wie erschöpft da.

Nun konnte ich entfliehen. Aber kaum war ich unten, als sie unter furchtbarem Geschrei alles, was in ihrem Schlafgemach nicht nagelfest war, zu zertrümmern begann.

Nachdem die Arme ausgetobt hatte, konnte die Dienerschaft die Halbgelähmte ohne Widerstreben zu Bette bringen.

Nach einigen Tagen erholte sie sich so vortrefflich, daß sie ihre Eltern über den eigentlichen Zustand ihrer Nerven vollkommen zu täuschen verstand. Ich selber aß nicht mehr am Familientisch und mied es, von ihr gesehen zu werden. Am liebsten wäre ich weggezogen; allein meine Gastgeber betrachteten mich als ihren Beschützer und wollten es nicht zulassen.

Mein Erlebnis konnte ich Agathe nicht mitteilen, doch mußte sie zwischen den Zeilen meiner Briefe herausfühlen, was in mir vorgegangen war, und 398 wunderte sich über die sinnliche Glut meiner Beteuerungen, den Sturm und Drang in meiner Bitte nach baldiger Vereinigung.

»Ach!« seufzte sie in einer Antwort, »wenn es nur das wäre, was dich an mich fesselt – dann wäre deine zweite Ehe gerade so töricht wie die erste. Ich will um meiner selbst willen geliebt sein, nicht um dessentwillen, was dir jedes weibliche Wesen gewähren kann . . . Wenn wir zusammen das Haus des Lebens bauen, verlange ich überall mitzuwirken, und mein Geist soll nicht nur darin walten, sondern auch zum Ausdruck kommen. Was ich in meiner ersten Ehe erlebt habe, ist zu grauenhaft öde, als daß ich es nochmals erleben möchte. Die Hausfrau gehört ins Haus – danach heißt sie ja –, nicht nur ins Schlafgemach.«

Was konnte ich darauf entgegnen? . . . Ich fing an, meine Abenteuer aufzuschreiben, um sie ihr einmal zu lesen zu geben, kam aber nicht ganz bis zum Ende. Dann forderte ich sie auf, sowohl beim Vorsteher der Anstalt als bei meinen Gastgebern, die mich nun lange genug kannten, sich zu erkundigen. Ich sei überzeugt, daß ich mit ihr glücklich würde, denn sie sei der Stern gewesen, nach dem ich die Fahrt meines Lebens gerichtet habe, seitdem ich den Kurs zu lesen verstände und wisse, wie der Einklang zwischen Leib und Seele, zwischen Müssen und Wollen, Kraft und Bedürfnis, oder der Himmel auf Erden zu erzielen sei. Ihre Liebe hätte mich allezeit aufgerichtet, also könne sie mich ergänzen; ihre Worte hätte ich nun nach Menschenmöglichkeit in Tat umgesetzt, den Segen der Arbeit für andere an mir 399 erfahren und die Feindschaft gegen die Menschen in Freundschaft mit ihnen verwandelt.

Nach einigen Wochen – die lustige Lady hatte inzwischen wieder Annäherungsversuche gemacht, die ich milde zurückwies – erhielt ich von Agathe einen trostlosen Brief:

»Nun ist mein Traum ausgeträumt. Daß ich Dich noch liebe, was kann ich dafür? Aber nach dem, was ich über Dich erfahren, bleiben wir nun zeitlebens getrennt. Bemühe Dich nicht weiter um mich. Ich verreise noch heute. Leb' wohl und suche in Deiner Weise das Beste aus Dir zu machen. Was Du zustande gebracht hast, ist schon ein Wunder. Aber kein Mensch kann über sich selbst hinaus! Leb' wohl, für immer!«

Ich war wie gelähmt. Wenn ich nicht zusammenbrach, so war die Liebe meiner Schüler, die mir den Schmerz und die Enttäuschung von den Augen lasen, daran schuld. Bald erfuhren sie, daß die Briefe, die mich so munter und frei gemacht hatten, so gegenwartsfreudig und zuversichtlich, die mir den Glauben an die Menschen und ans Leben gestärkt hatten, ausgeblieben seien. Die lieblichen, versteckten Anspielungen auf meine stille Verlobung hörten auf und damit zugleich so manche Wallung meines Herzens, das in solch wohltuender, froher Wirksamkeit gesundet war.

Doch meine Losung war: »Empor!« Ich hatte den Segen der Goetheschen Worte: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen«, wie ein Evangelium in meine Seele aufgenommen, weil ich ihre Wahrheit buchstäblich an mir, wenn nicht gerade als 400 Erlösung, so doch als Befreiung vom Druck der Unvernunft erfahren hatte, und war weit davon entfernt, diese Errungenschaft preiszugeben. Ich las Herbert Spencer und Thomas Carlyle und stürzte mich mit feurigem Eifer auf die Bewältigung ihrer Werke, was mir auf Grund meiner Lebenserfahrungen jedenfalls besser gelang als manchem Studenten, dem nur Wissen und logisches Denken zur Verfügung stehen.

An Hamlet erkannte ich, in welche Abgründe das Träumen und Sinnen führt. Ich wollte nicht auf die Schönheit des Lebens verzichten, das seinen Zauber geheimnisvoll und allgegenwärtig vor mir auszubreiten begann. Ich wollte nicht verzweifeln, weil ich es unmännlich, ja unmenschlich fand.

Und in meinem Ringen stand mir Carlyle zur Seite, der im Gegensatz zu mir, der ich von Kraft strotzte, körperlich erschöpft nur noch von der Größe seines Geistes lebte und trotzdem ein Verkünder, ein Verheißer, ein Befreier für ungezählte Tausende wurde. Die Macht des Geistes, wie sie sich in Schillers Leben und Werken offenbart, aber nur hervorgeht aus unablässiger Arbeit an sich selbst wie aus unablässiger Aneignung des Schönsten und Herrlichsten, was die menschliche Kultur ausmacht, verwandelte sich in die rettende Gottheit, an die ich bislang nicht glauben konnte, weil ich sie in kindischer Unvernunft außerhalb meiner Seele gesucht hatte.

Ach, was man nicht kennt,
Danach das Herz nicht brennt
Und bleibt kalt dafür in Ewigkeit. 401

Und als ich Goethes ganzes Lebenswerk kennen lernte, von dem mir einzelne Bruchstücke schon früher einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hatten, fand ich, daß ich ihn erst jetzt, als gereifter Mann, ordentlich verstand. Ich bewunderte die unerschöpfliche Fülle von Lebenswahrheit, die in seinen Dichtungen ausgegossen ist, den ungeheuren Ernst, der den wahrhaftigsten aller Dichter beseelte, und schloß diesen in mein Herz. Das hausbackenste Sprüchlein atmet bei ihm Lebensweisheit, und ich weiß noch eine »Zahme Xenie« von ihm auswendig, die ich lange Zeit auf meinem Schreibtisch in großer Schrift als Menetekel aufgestellt hatte, bis ich zu immer schönern und tiefern Wahrheiten durchdrang:

Wer mit dem Leben spielt,
Kommt nie zurecht;
Wer sich nicht selbst befiehlt,
Bleibt immer Knecht.

Was ich in Bitternis an mir selber erfahren hatte, ward mir durch einen Weisen mit erlösender Kraft bestätigt. Es mußte wahr sein. Aber ebenso stand bei mir fest, daß ich über die Mittel verfügte, um über mich selbst Herr zu werden.

So half denn eine Schar von guten Geistern mit, um mich der Verzweiflung zu entreißen, in die mich die Absage Agathes gestürzt hatte.

Freilich sah ich bald ein, daß ich nicht länger in dem Land verweilen durfte, das mich um das Endziel meiner Wünsche gebracht hatte. Die Liebe, die ich der mir anvertrauten Jugend und überhaupt meiner Umgebung spendete, war doch nur ein Ausfluß und ein Abglanz jener größeren, die ich von 402 Agathe genossen hatte. Ob ich die Menschen wirklich liebte und selber dieses Namens würdig war, mußte eine neue Selbstprüfung dartun. Ich war mir diese schuldig.

Fort also zu Menschen, denen ich ohne Verbindlichkeit und ohne den Schutz einer höheren irdischen Liebe gegenüberstand. Der Entschluß war rasch gefaßt, da ich nunmehr einen sittlichen Rückhalt besaß. Ich, der ich das rätselhafte Wesen Gottes weder als Liebe noch als Allmacht je hatte begreifen und fassen können, fühlte jetzt seine Gegenwart und Stärke; denn ich ahnte ihn in der Vollendung, wie ich das Göttliche in mir als heiligen Werdedrang empfand, der mir wiederum, ins Allmächtige vergrößert, überall in der Natur, im Menschengeschlecht am ausgesprochensten, als Trieb zur Entwicklung erschien. Und jetzt war ich in viel höherem Sinne mit der Menschheit verbunden, nachdem ich die Herrschaft meiner Tierheit überwunden und die wahre Menschenliebe geübt hatte, und ich wußte: Nun kann ich weder Gott noch mir selber je wieder abhanden kommen!

Aber ich hatte die Rechnung ohne mein Herz, mein unberechenbares Herz gemacht. Wie schmerzvoll war es, all die feinen Bande zu zerschneiden, durch welche ich mit der Jugend verwachsen war, die mir meine eigene Kindheit wieder geschenkt hatte. Der Abschied von den lieben treuen Jungen schmerzte mich so, daß ich nach einer kleinen Anrede an die Schüler, aus deren Mitte einer Worte des Dankes gesprochen hatte, laut aufheulen und den Saal ungestüm verlassen mußte. Die Bewegung meines Innenlebens war nun so stark und reich geworden, wie es ehedem die meines äußern Lebens gewesen war. 403

Wieder fand ich eine Ablenkung und damit Erholung für mein Herz. Es galt, die lustige Lady zu überreden, sich freiwillig in eine Nervenanstalt zu begeben. Ich konnte ihr mit ermunternden Beispielen von raschen Heilerfolgen dienen und erreichte das von ihren Eltern gewünschte Ziel, daß sie in eine Anstalt übersiedelte. Freilich sah ich dabei, daß sie ihren Groll gegen mich unversöhnlich mit sich nahm.

Mit lobenden Zeugnissen in der Tasche und einem großmütigen Geschenk meiner Gastgeber im Beutel verließ ich England und suchte jenes Volk auf, das mir aus meinen Jugendwanderungen am freiesten und vorurteilslosesten gegenübergetreten war.

Ich erinnerte mich meiner Reise nach Südrußland, der fromm-ehrwürdigen Gastlichkeit, die ich genossen, und meiner Gönnerin in Petersburg, ganz überzeugt, daß die vornehme Russin mir Wort halten und den Weg in der Weltstadt ebnen würde. Dort wollte ich meinen Wanderstab in die Erde stoßen und sehen, ob er noch einmal grüne und blühe.

 


 


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