Adolf Vögtlin
Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale
Adolf Vögtlin

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8. Himmlisches Reisegeld.

Der Kamm fing mir schon wieder an zu schwellen. Weder das Leben im allgemeinen noch die Seefahrt im besonderen hatten mich zu bescheidener Einkehr, welcher vielleicht eine vernünftige Rückkehr in die Heimat gefolgt wäre, zusammenzurütteln vermocht. Es mußte ein echt orientalischer Schüttelfrost über mich kommen, bis diese Sehnsucht in mir erwachte; doch ließ ich ein Briefchen an Agathe abgehen.

Acht Tage lang hatte ich meine Herrlichkeit in 163 Stambul spazieren geführt und sie alles sehen lassen, was es da an Merkwürdigkeiten gab, von den verachteten bissigen Hunden, die herrenlos herumlaufen, bis hinauf zu der Majestät des Sultans, als ich es an der Zeit fand, meinen Paß visieren zu lassen. Nach Scutari, von da zu Fuß nach Brussa, Damaskus und Jerusalem wollte ich mit meinem Schneider aus Odessa. Beim eiligen Gang nach der Kanzlei erhitzte ich mich; im Hause standen Tür und Fenster offen; ich mußte über eine Stunde im scharfen Luftzug warten, und als ich die Treppe hinuntersteigen wollte, packte mich ein solcher Frost, daß ich keinen Schritt mehr tun konnte. Nach einer halben Stunde ließ der Fieberanfall nach und ich konnte mich, allerdings schwach und schwankend, nach Hause begeben. Damit war es jedoch nicht vorbei. Immer in verstärkter Form wiederholte es sich, jeden Tag genau eine Stunde später eintreffend, und dauerte eine Stunde, worauf ich so matt war, daß ich zu Bette bleiben mußte, während ich am Vormittag meistens etwas ausgehen konnte. Dabei sah ich einmal, wie die Söhne des Königs Viktor Emanuel, die auf Besuch waren, unter dem endlosen Jubel der Landsgenossen im goldenen Wagen des Sultans spazieren fuhren. Zum Glück hatte ich noch einige Rubel und konnte mir Mittel anschaffen. Sie hatten jedoch den einen kleinen Fehler, daß sie nichts nützten, sondern mich nur noch mehr schwächten. So sehr kam ich herunter, daß ich bei einem furchtbaren Brand, der in der Nähe unseres Gasthofes wütete und über fünfhundert Häuser verzehrte, mich nicht aus dem Bett erheben konnte. Das schöne Stambul erschien mir 164 nachgerade grau in grau, die vermummten Gestalten der schönen Frauen, die wie Schatten durch die Straßen wandelten, erinnerten mich an Bilder aus der Pestzeit, und meinem guten Wirt – das drückte mich nicht wenig – schuldete ich bereits zweihundertfünfzig Piaster. Da im Spital kein Platz für mich war, riet er mir, nach Smyrna zu fahren, das ich in zwei Tagen erreichen könne.

Eines Abends raffte ich mich auf, nahm Kognak mit Pfeffer zu mir, um das Fieber zurückzuhalten, und begab mich in die »Locanda Topf«, wo sich meine Landsleute zu versammeln pflegten. Sie waren von meinem schlechten Aussehen ergriffen, und als ich ihnen erzählt hatte, wie es mir ergangen, erklärten sie sich sofort bereit, mir die Seereise sowie die Schulden bei dem Wirt zu bezahlen. Einer von ihnen anerbot sich, mir am Morgen für das »Gepäck« einen Knecht zur Verfügung zu stellen.

Zufällig kam ein griechischer Hausierer ins Lokal, und nun erhielt ich die mannigfaltigsten Geschenke: ein Taschenmesser, Taschentücher, Hosenträger, Zigarettenpapier, Hemden und Strümpfe. Der Verein stattete mich aus wie eine sorgsame Mutter ihren Sohn, wenn er auf die Reise geht. Nichts fehlte mir und ich vergaß das Fieber ob diesen Menschenfreundlichkeiten so lange, bis es sich meiner von selbst erinnerte und mich gehörig beutelte.

Wie ich beim Abschied von meinem Wirt erfuhr, hatte er dem Verein für mich doppelte Rechnung gemacht, damit er mir die Hälfte des Betrages als Reisepfennig aushändigen konnte. Es fügte sich auch glücklich, daß ich am selben Tag von Agathe einen 165 kleinen Brief erhielt, worin sie ihrer Angst rührenden Ausdruck gab, daß ich bei den schrecklichen Türken umkommen möchte. Ich trug jenen Brief lange auf der Brust verwahrt in der Nähe des teuren Geldbeutelchens und las ihn so häufig, daß er bald durch das Auf- und Zuknittern in Fetzen ging. Aber auch in den Fetzen war noch so viel Liebe und Teilnahme, daß ich immer wieder frischen Lebensmut daraus schöpfte und damit auch die Hoffnung, die treuen Menschen in der Heimat wiederzusehen.

Ich verließ die Türkei nicht ungern, weil ich an vielen Zeichen merkte, daß sich der Sultan besser aufs gewalttätige Kommandieren als aufs kunstvolle Regieren verstand, und weil ich hörte, wie mancher Kopf schon auf Befehl den Hals und damit den Halt unter sich verloren hatte. Das untertänige Wesen der Türken behagte mir gar nicht.

Von der Fahrt nach Smyrna habe ich keinen Eindruck. Ich weiß nur, daß mich die Matrosen mit einer hohen Schicht wollener Decken zudeckten und daß ich in einem fort vor Kälte mit den Zähnen klapperte. Eines Morgens schrieb ich einen Abschiedsbrief an Agathe, bat denjenigen, der in Besitz desselben gelangen würde, ihn meinen bekümmerten Pflegeeltern, deren Adresse ich genau aufschrieb, durch die Post zustellen zu lassen, und stattete dem Betreffenden den Dank eines Sterbenden zum voraus ab. Vom Spital in Smyrna aus, hieß es darin, würden sie Näheres oder das Letzte von mir erfahren. Ich weiß, wie ich darauf dem Tod ruhiger ins Antlitz sah; aber alles, was mir die Welt, die mich um das Glück der Kindheit betrogen, noch bieten konnte, 166 vereinigte sich in dem Wunsche, die Heimat, Agathe und die Eltern nochmals sehen zu dürfen. In diesem beseligenden Wunsche schlief ich ein.

In Smyrna angekommen, begrüßte ich, der ich von Italien her sonst einen unüberwindlichen Abscheu vor Spitälern hatte, das »Hospizio Sant' Antonio« wie der Schiffbrüchige ein Rettungsboot.

Der Pförtner begriff freilich nicht, was ich wollte. Ich setzte mich einfach, zu Tode matt, auf die breite Treppe und wartete auf das Fieber. Die ganze Dienerschaft ging so gleichgültig an mir vorbei, als wäre ich eine Katze. Mein einziger Gedanke: werden die zu Hause dir vergeben, wenn du hier unbetrauert in fremder Erde verscharrt wirst?

Endlich kam das Fieber, auf das ich mit Sehnsucht gewartet hatte. Sobald es mich zu schütteln anfing, kamen zwei Wärter und trugen mich hinauf in einen geräumigen, sauber gehaltenen Saal und legten mich auf ein gutes Bett. Ein englischer Arzt erschien und verschrieb mir ein Mittel, nach dessen Genuß ich schlafen konnte.

Am folgenden Morgen hatte ich ganz angenehme Eindrücke von meiner Umgebung. Leider verstanden die Wärter, von denen wohl zwölf bei mir erschienen, weder Deutsch noch Französisch noch Italienisch, obschon die meisten in mehreren Sprachen heimisch waren.

Der Arzt probierte ein eben von ihm erfundenes Fiebermittel. Er brachte mir Chinin in flüssiger Form durch Einspritzung bei. Aber da schwoll mein Arm unter furchtbaren Schmerzen zu doppeltem Umfang an. Trotz meinem Widerstreben stach er mir in 167 den andern Arm und vollzog die Einspritzung. Jetzt war das Fieber wie weggeblasen; nur erforderte der entzündete Arm eine mehrwöchentliche Pflege.

Der Arzt suchte seinen Fehler gutzumachen, indem er mich herrlich und in Freuden leben ließ. Die feinste Küche, die es gab, wurde mir vorgesetzt: Gesottenes, Gebratenes, Fische, Krebse, Hühnchen und Täubchen und dann süße Trauben, wie ich sie noch nie in meinem Leben gekostet hatte.

Aber fünf volle Wochen mit keinem Menschen sprechen zu dürfen, war eine Qual. Einmal brachte mir ein Wärter ein Büchlein; das war deutsch; aber es besaß einen unnennbaren Titel und muß zum Verfasser ein Schwein gehabt haben, obschon er sich »Müller von Romanshorn« nannte. Da führte eines Tages die Vorsteherin eine schwarzverschleierte Dame an mein Bett. »Sind Sie ein Deutscher?« fragte sie sanft. »Wo sind Sie zu Hause?« Gott, ich konnte vor Rührung zunächst nicht antworten. Als sie dann erfuhr, daß ich von Münster sei, erklärte sie, sie sei Mitglied der Basler Mission und in Münster wohlbekannt.

»Wie wunderbar sind doch Gottes Fügungen!« fuhr sie seufzend fort. »Ich sollte von Brussa nach Tunis fahren, wohin ich eben versetzt worden bin. Da erhebt sich ein Sturm, ich kann nicht abfahren und besuche hier meine Freundin, die Vorsteherin des Spitals. Ich erfahre, daß hier ein Fremder krank liegt, der mit niemand sprechen kann, offenbar ein Deutscher, lasse mich zu Ihnen führen und erkenne nun in Ihnen einen Landsmann. Der liebe Gott hat jedenfalls durch mich etwas für Sie auszurichten.« 168

Sie fragte mich dann über meine Verhältnisse aus und griff auch nach dem abscheulichen Büchlein. Mit Gewalt mußte ich ihr dasselbe entreißen, ehe sie den Titel las. Ich entschuldigte mich, ein Wärter habe es mir gebracht, ohne zu wissen, wovon es handle.

Sie anerbot sich dann, einige deutsche Kaufleute in Smyrna aufzusuchen und sie auf meine Lage aufmerksam zu machen.

Von mir unter freundlichen Tröstungen und guten Ermahnungen Abschied nehmend, übergab sie mir ein frommes Schriftchen. Das hatte zum Motto:

Wer nur mit seinem Gott verreiset,
Der findet immer Bahn gemacht,
Weil er ihn immer Wege weiset,
Auf welchen stets sein Auge wacht.
Hier gilt die Losung früh und spat:
Wohl dem, der Gott zum Führer hat.

Dann gab sie mir noch zwei türkische Taler. Und wahrhaftig, ich faßte die Gabe als eine wirkliche Aufforderung zum Wandern auf, als eine Art himmlisches Reisegeld.

Die Dame war kaum zwei Stunden verreist, als ich mehrfachen Besuch von Landsleuten empfing, die sich im Kreis auf Stühlen um mein Bett herumsetzten und erzählten und fragten. Sie kamen öfter wieder. Einer brachte mir ein dickes Buch: »Das Leben Mohammeds«. Ich las darin eifrig und verwunderte mich über die guten Vorschriften, die es enthielt, später jedoch noch mehr über die treue Befolgung derselben durch die Anhänger des Propheten. Ich erfuhr es oft: wenn ein Mohammedaner »beim Barte des Propheten« schwört, er könne eine Ware nicht 169 billiger verkaufen, so hält er diese Beteuerung so wert, daß er auf keinen Fall darunter geht. Ja, wenn man ihm die Beteuerung nicht glaubt, so verkauft er die Ware überhaupt nicht, auch wenn man ihm den doppelten Preis bezahlen wollte. Und wie ruhig und sittsam geht es zu in ihren Kaffeehäusern! »Schreit nicht, denn die Esel schreien!« lautet's im Koran. Die Besuche der guten Herren wirkten Wunder in meiner Lage. Da mich der Wärter für einen vornehmen Kerl zu halten begann, erwies er mir allerlei köstliche Aufmerksamkeiten. Auch der Arzt war liebevoll und hielt mir das Beste zu, so daß ich eine Zeitlang den frevelhaften Wunsch hegte: wenn nur mein Arm nicht so rasch heilte!

Von meiner Reise nach Damaskus und Jerusalem wurde ich durch die Berichte eines Welschberners abgebracht, der lungenkrank ins Spital kam. Er führte mir nicht nur die Gefährlichkeit einer solchen Fußwanderung vor, wobei einzelne Reisende oft bis auf die Haut beraubt wurden, sondern schilderte mir auch die Geschäftsschwindeleien der Geistlichen in Jerusalem in so grellen Farben, daß der fromme Trieb nach der heiligen Stadt in mir erstickte. Ihm habe man ein Kreuz gezeigt, bei welchem der Mutter Gottes die Schürze abgefallen sei, dann einen Stein, auf welchem der Engel Gabriel eine Feder aus den Flügeln verloren habe. Viele Handwerksburschen lassen sich dort drei- bis viermal bekehren, um den Segen der verschiedenen Wohltätigkeitsanstalten auszunützen.

Als ich dann an der Küste Palästinas entlang fuhr, juckte es mich doch im Herzen. Hätte unser Schiff 170 in Jaffa angelegt, wäre ich sicher ausgestiegen zu einem Abstecher nach Jerusalem. Einstweilen war ich jedoch in Smyrna, zunächst im Schutze eines Herrn Kramer, der dort mit seinem Bruder ein großes Speditionsgeschäft betrieb. Er schrieb mir alle deutschen Firmen auf und gab mir einen Dragoman mit, der mich überall einführte. In weniger als drei Stunden waren Reisebeiträge im Umfang von zweihundertachtzig Franken gezeichnet, die mir Herr Kramer sofort bar ausbezahlte. Am gleichen Tage war eine Mitteilung von Agathe eingetroffen, wie ich denn oft erfahren habe, daß das Glück meist nie allein, sondern fast immer in Begleitung zu uns kommt. Mein vermeintlicher Sterbebrief mußte, ich weiß nicht durch wen, an seine Adresse gelangt sein. Nun schrieb sie mir einige liebe Zeilen voll fröhlichen Gottvertrauens. Sie könne nicht daran glauben, daß ich früh zum Sterben bestimmt sei, sonst wäre ich schon längst gestorben. Ich kenne übrigens – da lachte mich der Schalk an – das heimische Sprichwort, daß ein wackeres Unkraut nimmer verderbe. Sie hoffe und sei sogar sicher, daß ich einmal als gemachter Mann in die Heimat zurückkehre, sobald ich meine etwas hartgewordenen Hörner abgestoßen habe.

Der Reichtum, mit dem ich von guten Menschen überschüttet wurde, ließ in Verbindung mit Agathes sonnigem Briefchen die gute Laune in mir aufkommen. Ich ging zur Post und sandte meinen Pflegeeltern »als Vermächtnis« die Hälfte meiner Ernte mit der Bitte, sie möchten das Geld für die Ausstattung oder die weitere Ausbildung Agathes verwenden. Was ich mir darunter vorstellte, war mir selber nicht klar. 171 Ich wollte einfach einem lieben Menschen eine Wohltat erweisen. Nachdem ich die Sendung adressiert hatte, war's mir, als sei ich um ein gutes Stück gewachsen. Besonders glücklich machte mich der Gedanke, das Vermächtnis im Namen des heiligen Antonio, in dessen Segen das Spital gedieh, zur Post gegeben zu haben.

Um meinen Gönnern zu beweisen, daß ich kein ausgemachter Vagabund sei, nahm ich in der Nähe der Stadt bei dem Bierbrauer Brotkopf Arbeit. Da mußte ich nach wenigen Tagen die bittere Erfahrung machen, daß mein rechter Arm durch den großen Substanzverlust infolge von Eiterung die nötige Kraft nicht mehr oder noch nicht besaß. Ich war wieder zum Herumlungern verurteilt und eignete mir, um doch etwas in der Fremde zu lernen, allmählich die morgenländische Lebensweise an.

Ich hörte davon, daß in der Nähe von Smyrna, welch schöne Stadt ich mir acht Tage lang besah, ein Karawanenbrunnen sei, wo die Kamelzüge halt machen. Täglich ging ich da hinaus, um die Kamele zu sehen, hatte aber nicht so viel Glück wie beim Sultan in Konstantinopel. Am sechsten Tage endlich traf ich im Hofe der Brauerei an die zwanzig Kamele, die Gerste gebracht hatten, und konnte mir die Wüstentiere aus der Nähe besehen. Die meisten lagen, zum Entlasten bereit, am Boden, und ich brauchte nicht mühsam emporzugucken, um ihre lieblichen himmelgrauen Äuglein zu betrachten.

Weiß Gott, wie ich die folgsamen, nützlichen Tiere, obschon der Hunger sie quälte, nach der großen Reise so sanft daliegen sah, ohne zu brüllen oder sich 172 bemerkbar zu machen, wie das bei unsern Haustieren der Fall ist, sagte ich mir, wie ich stolz auf mich selber hätte sein dürfen, wenn ich auf meinen großen Reisen etwas mehr von der schweigsam-harrenden Kamelsnatur in mir gehabt hätte. Ich kam mir klein und unnütz vor gegenüber diesem still tragenden Tier; eine Schmeißfliege war ich, die ihr Leben mit Schmarotzen fristet.

Täglich ging ich ins griechische Kaffeehaus, bestellte meine Wasserpfeife und meinen Kaffee und nahm in der Sofaecke eine möglichst bequeme breite Stellung ein, ungefähr wie die Kamele im gegenüberliegenden Hofe, und bedauerte bloß, daß ich nur zwei Beine von mir zu strecken hatte statt vier. Doch hatte ich soviel Selbstbeherrschung von dem Kamel gelernt, daß ich den Pfeifenanzünder nicht schalt, wenn er, ohne meinen gnädigen Wink abzuwarten, sich von mir entfernte; daß ich den Kaffeebrauer nicht auszankte, wenn er mein Kupfertöpfchen überkochen ließ und mich so um zwei Löffel des köstlichen Getränkes verkürzte. Ich frischte meine Kunst im Dominospielen wieder auf und ließ mich bedienen wie ein Pascha. Der Wirt selber machte mir die Honneurs, nahm auf meinen Wunsch eine Handvoll ganzer Tabakblätter, zerrieb sie, tunkte sie ins Wasser, drückte sie aus, stopfte die Pfeife damit und setzte eine Kohlenglut darauf. War er guter Laune, so saugte er die Pfeife an. Es ist kein kleines Stück Arbeit, den feuchten Tabak in Brand zu bringen; ist es jedoch vollbracht, so kann man wohl eine Stunde lang vergnüglich an einer solchen Pfeife rauchen. Ist das Feuer ausgegangen, springt gleich ein Junge herbei, der eine neue Glut aufsetzt. 173

Mit untergeschlagenen Beinen zu sitzen und zu speisen lernte ich erst auf dem Schiff während der Fahrt nach Alexandrien, wo mich eine Gruppe Türken und Perser zu ihrer Mittagstafel einzuladen pflegten. In dem mächtigen Hafen angekommen, fiel mir an den Reisenden und Eingebornen die ungeheure Farbenpracht der Trachten auf; es sah aus wie ein bunter Karneval unter Goldlicht ausstrahlendem, azurblauem Himmel. Aber gleich darauf bekam ich Angst vor dem Anblick des Quarantänehotels, einer großen unheimlichen Baracke mit Gitterverschlägen, die ziemlich an ein Gefängnis erinnerte. Zum Glück war keine Seuche ausgebrochen im Verkehrsbereich unseres Schiffes und so wurden wir mit dem interessanten Besuch dieses Hotels verschont. So nahm ich einen Führer, der deutsch sprach und ließ mich ins Hotel Steyrer bringen. Freilich hatte er mich immer zum Gehen zu nötigen, denn ich mußte nur staunen ob dem Seltsamen, der schönen Farbigkeit und der Größe des Lebens in Alexandrien. Da wird ein Knäblein, Musik voran, auf einem stolzen Pferd durch die Straße geführt, hinterher tollt sich ein Haufen Weiber, die ein gellendes Geschrei verführen. Es sind die Frauen seines Vaters, die sich unbändig freuen, nicht sowohl wegen der Beschneidung, die an dem Knäblein vorgenommen worden, als wegen des freien Festtages, der sie wieder einmal aus der quälenden Enge des Harems herausgeführt hat.

Unter einem Baldachin, ganz in rotes Tuch gehüllt, so daß man vom Kopf nichts sieht, schreitet das neuerwählte Weib eines Mohammedaners, von zwei Sklavinnen geführt, die ihr Luft zufächeln, daher, 174 ein paar Musikanten voraus, während die übrigen Gattinnen, das Tamburin schlagend, hinter ihr her ausgelassenen Lärm erheben.

Ich war in einer neuen Welt, im Wunderland Ägypten. Wie in Konstantinopel das Italienische als Umgangssprache galt, so herrschte hier das Französische, so daß ich besser vorankam. Auch hatte ich hier Gelegenheit, mein Ohr an die verschiedenen Idiome zu gewöhnen, wie es die eingebornen Knaben auch tun, die hier mit der größten Leichtigkeit vier bis fünf Hauptsprachen in der Schule und im Umgang lernen. Werden sie zum Bäcker geschickt, so lernen sie Russisch, beim Fleischer Armenisch, beim Krämer Griechisch, im Restaurant Französisch usw.

Um nachzuholen, was ich versäumt und schon öfter bitter bereut hatte, indem ich in der Fremde mit niemand verkehren konnte, ließ ich mich in der Locanda Steyrer als Kellner anstellen und trieb in den frühen Morgenstunden emsig Sprachstudien. Bei den vornehmen deutschen Gästen, die hier verkehrten, ließ ich, um meiner brachliegenden Phantasie Arbeit zu geben, dann und wann ein Wort fallen, ich sei hierhergekommen, um meinen Vater zu suchen, der bei einem Pascha in Alexandrien oder Kairo als Gärtner angestellt sei; wegen Krankheit seien mir die Mittel ausgegangen und darum hätte ich mich als Kellner verdingt, um das nötige Geld für weitere Reisen zu verdienen. Man hatte Mitleid mit mir und stellte Nachforschungen an; natürlich vergebens.

Eines Abends wurde ich von einem der Herren Gäste in den Schweizerklub eingeladen, wo es heiter zuging und ich als benachbarter Rheinanwohner und 175 Schweizer Reisender freundlich begrüßt wurde. Die lieben Leute kramten in heimatlichen Erinnerungen und sangen ihre Volkslieder. Ein Züricher von Höngg war unter ihnen. Dieser forderte seine Landsgenossen auf, ihm den Spruch zu nennen, der auf einer Gedenktafel stand und noch steht, welche ein Höngger Bauer an seinem aus einem einzigen roten, aus seinem Acker gefundenen Irrfelsblock erstellten Haus hatte anbringen lassen. Keiner wußte den Wortlaut. Da kam mir mein Gedächtnis zu statten; ich besann mich bald auf den Anfang und deklamierte zur maßlosen Freude meiner Gastgeber:

Ein großer roter Ackerstein,
In manches Stück zerbrochen klein
Durch Menschenhand und Pulvers G'walt
Macht jetzt aus dieses Haus' Gestalt.
Vor Unglück und Zerbrechlichkeit
Bewahr' es Gottes Gütigkeit.

Damit hatte ich mich gewissermaßen als Halbschweizer legitimiert; man sympathisierte mit mir, und ich ließ mich in fröhlichste Stimmung bringen. Mehrere versprachen mir bei den Nachforschungen nach meinem Vater behilflich zu sein, an den ich kaum mehr dachte. Jetzt galt es natürlich wieder Trauer zu heucheln, was mir auch gelang. Ein Neuenburger namens Ducommun, seines Zeichens ein Uhrmacher, tröstete mich und bat mich, morgens zu ihm zu kommen.

Er empfing mich überaus liebenswürdig und führte mich ins gegenüberliegende vornehmste Kaffeehaus Alexandriens. Ich hatte die Genugtuung, auf demselben Diwan Platz zu nehmen, wo vorher der Kronprinz von Belgien und der Suezkanal-Erbauer Lesseps 176 geruht hatten, wie mir Herr Ducommun erzählte. Ich fühlte mich aus der Rolle des Bettlers plötzlich in die höhere Region des Schwindlers emporgehoben, weil es mir so trefflich erging, und ich machte allerlei unwahre Angaben, um wieder zu Geld zu kommen und meiner Leidenschaft, dem Reisen, frönen zu können.

Vorerst nahm ich freilich bei Herrn Ducommun eine Stelle als Uhrmachergehilfe an, allerdings mit der vorsorglichen Bedingung, daß ich nur für kürzere Zeit bleiben dürfe, da meine Aufgabe eben eine andere sei: den lieben Vater zu finden. Wenn ich ihn hier nicht finde, müsse ich weiterziehen. Er war mit meinem Fleiß und meiner Geschicklichkeit zufrieden. Ich putzte Räder, lernte Löcher bohren, Zapfen drehen, hütete den Laden. In mehreren Türmen hatten wir Uhren zu reparieren.

Inzwischen wurde eifrig nach Heinrich Manesse gesucht. Sogar der Konsul wurde in Anspruch genommen. Ohne Erfolg.

Da wurde man schlüssig, mich mit Empfehlungen nach Kairo zu schicken. Ich ging, obschon mir ein Bierbrauer Schwarz den Vorschlag machte, mir ein Lokal zu mieten, wo ich sein Bier hätte ausschenken und so mein reichliches Brot hätte verdienen können. Solches Vertrauen genoß ich. Und es wurmte mich, daß ich desselben nicht würdig war. Deshalb war die Fahrt nach Kairo für mich eine Befreiung von arger Beklemmung.

Ich sah Kairo mit seinen vierhundert Moscheen, sah die heiligen Wasser des Nil und die vieltausendjährigen Pyramiden. Sollte ich mit einer Karawane ans Rote Meer und von da nach Asien vordringen? 177 Ich hörte von den Afrikaforschern und es reizte mich nicht wenig, mich endlich in den Dienst einer großen Unternehmung und einer höheren Idee zu stellen, angesichts der ungeheuren Denkmäler, die mir als ein eindrucksvolles Gleichnis menschlicher Energie und ihrer dauernden Wirkung erschienen.

Ein Herr Zollikofer, ebenfalls ein Schweizer, der hier eine Papier- und Kunsthandlung besaß, gab mir Adressen an Gärtner bei reichen Herrschaften, bei denen ich Nachfrage halten sollte. Ich hatte nun Gelegenheit, die herrliche Stadt nach allen Richtungen hin kennen zu lernen, indem ich gemächlich meinen Nachforschungen oblag.

Eines Nachmittags nahm ich einen Mietesel und ritt zu einem mir empfohlenen Herrn Paschka, einem Böhmen, der schon viele Jahre bei Soliman Pascha Obergärtner war. Ich ritt anderthalb Stunden, ohne aus dem Bereich der Villen zu kommen.

Und siehe da! Dieser alte Gärtner empfing mich mit fast schmeichelhafter Freundlichkeit, ließ mir aus dem Harem seines Herrn ein feines Mittagessen in den Garten hinausbringen, plauderte mit mir am Tisch, der im Schatten einer Palme stand, indem er seine klugen Blicke immer auf meinem Angesicht spielen ließ, fragte mich dieses und jenes, und endlich rückte er heraus: »Jawohl, Ihren Vater habe ich gekannt; der ist dagewesen!« Er beschrieb mir meinen Vater vom Scheitel bis zur Sohle, sagte, er sei vor etwa dreiviertel Jahren nach Damiette zum Kanalbau verreist, um dort an den verschiedenen Stationen die Gärten anzulegen.

Dann gab er die kleineren und kleinsten Merkmale, 178 Wärzchen und Haarbüschelchen, Eigenheiten im Gang und Benehmen, und zwar in solcher Fülle an, daß ich kaum mehr folgen konnte.

Es regnete nur so von väterlichen Kennzeichen auf mich herab. Ich durfte mich nicht besinnen und fand die Beschreibung in allen Teilen passend. Dann kamen Kreuz- und Querfragen, ob die Wärzchen auf der linken oder rechten Wange, ob eine Narbe oberhalb oder unterhalb des rechten Auges saß, ob die Farbe des Haares mehr ins Blonde oder ins Braune ging.

Da geriet ich in Verwirrung und errötete gegen meinen Willen. Der Obergärtner sah mich immer schärfer an, stand endlich auf und sagte:

»Nein, einen solchen Herrn Manesse hab' ich nicht gekannt; Sie aber auch nicht!«

Dann schlug er eine übermütige Lache auf, ging weg, nahm langsam eine Peitsche von der Wand und kam in wortlos drohender Haltung auf mich zu. Da merkte ich, was er mit mir vorhatte, löste schnell meines Esels Halfterband, schwang mich auf das Tier, und wie der Gärtner zum Hieb ausholte, traf er dieses statt seinen Herrn.

Um so rascher kam ich vom Ort des Verhängnisses. Weder Herr Zollikofer in Kairo, noch Herr Ducommun in Alexandrien sahen mich je wieder. Der Sand Ägyptens war mir zu heiß unter den Füßen geworden. Ich schiffte mich sofort nach Marseille ein.

Während der Überfahrt hatte ich in der Kellerei genügend Zeit, um auf meine Odyssee mit Überlegung zurückzublicken. Vor der Peitsche des Obergärtners Paschka in Kairo war die Weisheit Athenes, die mir 179 so manche List eingegeben und aus so mancher verwickelten Lage herausgeholfen, jämmerlich zuschanden geworden. Sein spöttisches Gelächter traf mich schärfer als seine Peitsche den Esel.

»Dummer Junge, dummer Junge!« wiederholte ich für mich. »Was für ein Kindskopf bist du doch gegenüber einem geriebenen Alten!« Wie einfältig, wer da glaubt, sich mit Lügen und Schwindeln durch die Welt zu helfen! Vielleicht sind sie gut genug, um für einmal einem Hungrigen den Mund zu füllen; aber was hernach? Lügen und Schwindeln sind sogar vom Standpunkt der baren Nützlichkeit aus zu verwerfen.

Tatsächlich war ich ganz mittellos; nur die Kleider und die »guten Schriften«, die ich auf dem Leibe trug, waren mein. Alles übrige hatte ich durch die notwendig gewordene Flucht verloren. Um keinen Preis wäre ich Ducommun wieder unter die Augen getreten. »Schäme dich, schäme dich, dummer Junge!«

Der Kapitän belohnte meine Arbeit mit zwanzig Franken, aber sie gaben mir nicht lange warm. Auf meiner Fußreise nach Lyon und an die Schweizergrenze litt ich sehr unter der Kälte. Als ich im Fort de l'Ecluse ankam, hatten die Soldaten mit mir Erbarmen und ließen mich, nachdem ich meine Leiden erzählt hatte, auf der Wachtstube schlafen. Einer schenkte mir ein Paar alte Gamaschen.

Als ich am folgenden Morgen an der Westgrenze der lieben Schweiz, deren Ostgrenze ich vor zwei Jahren mit dreißig Kreuzer Reisegeld verlassen, mein Vermögen zählte, siehe, da hatte es sich um 180 fünfhundert Prozent vermehrt. Ich besaß noch etwa zwei Franken. Ich hatte doch mit meinem Pfund gewuchert! Mehr als diese Bilanz hob mich jedoch das Bewußtsein, bald wieder unter meinen Leuten weilen zu dürfen. Und dann staunte man den Wanderer in Neuenburg, der aus seinem Reisebuch eine ungewöhnlich große Fußtour nachwies und allerlei märchenhafte und wundersame Erlebnisse erzählen konnte, als ein Meerwunder an. »Das ist der richtige Handwerksbursche,« hieß es, »der noch die Welt anzusehen wagt.« »Vor einem solchen muß man Respekt haben!« rief der Wirt aus, bei dem ich eingekehrt war. Er ließ eine Flasche vom echten Neuenburger auftragen, spendete ein Voressen und noch ein Stück Reisegeld. Die Gäste, die dasaßen und mir zuhörten, ließen sich auch nicht lumpen.

Ich war noch jung und eitel genug, um mich zu fühlen und mich für mehr als den ersten Besten zu halten. Je näher ich der Stadt Münster kam, desto heißer wurde es mir ums Herz, desto hochgemuter schritt ich einher. Ich war abgebrannt, ja wohl! aber ich hatte ein Stück Welt erobert. Ist man reich, solange man keine Erlebnisse hat? Auf die Alltagswanderburschen konnte ich nun lächelnd herabsehen; welcher unter ihnen konnte mir etwas Neues sagen? Das war so meine Stimmung, richtiger Schusterhochmut. Diese Verfassung eines Triumphators, der sich bis auf den letzten Mann mit dem Feinde geschlagen und diesen besiegt hat, kam auch in meinem Äußern zum Ausdruck. Ich trug südländische Hosen, hohe Gamaschen, grellfarbiges Flanellhemd, eine Ledermütze und langes, auf die Schultern 181 herabwallendes Haar. Mein Gesicht war verbräunt und zigeunermäßig.

Was würde Agathe sagen? Ach, die Erinnerung an sie war doch das einzige Schöne und Reine, das es in der Welt für mich gab. Sie und die Heimat waren für mich eins. Ihre Ehre war unangetastet geblieben in meinem Herzen. In Münster angekommen, hatte ich das Berlingersche Haus bald aufgefunden. Die Zugvögel besitzen ja einen untäuschbaren Ortssinn.

»Agathe, Agathe!« rief es in meiner Seele. Es war gegen Abend, als ich dort anklopfte. Ich mußte stillstehen bei der Tür und mein pochendes Herz halten. Da, wie ich öffne und eintrete, riefen die Pflegeeltern wie aus einem Munde und wie zu Tode erschrocken, aus: »Herr Jesses, der Heinrich!«

Sie gaben mir die Hand, ohne mich anzuschauen. »Wo ist Agathe?« fragte ich, durch diesen Empfang schier geängstigt.

Keine Antwort. Die beiden wandten sich von mir ab.

»Ach Gott!« fand Frau Berlinger zuerst das Wort und seufzte. Da war auch ihrem Manne die Zunge gelöst und er sagte tonlos: »Der Engel hat sie geholt!«

»Was?« schrie ich, »dem habt ihr sie verschachert?«

»Er ist ein rechter Mann,« sagte Berlinger fest und bestimmt. »Du kennst ihn ja. Er hat während deiner Lehrzeit bei mir gearbeitet, hat fleißig gespart und kürzlich an der Kirchgasse ein kleines Schuhwarengeschäft aufgetan. Was aber ist aus dir geworden? Ein Abenteurer!« 182

»Ein Lump, wollt Ihr sagen!« schrie ich. »Aber Agathes . . . Herz gehört mir!« und ich raste die Stube auf und nieder.

Bald war mein Entschluß gefaßt. Ich wollte Agathe aufsuchen, von ihr selber den Hergang der Dinge vernehmen, und stürmte zum Hause hinaus.

Ich hörte noch, als ich die Türe hinter mir ins Schloß warf, wie die Pflegemutter ihren Mann aufrief: »Geh ihm nach, Berlinger, sonst gibt's noch ein Unglück!« . . .

 


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