Adolf Vögtlin
Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale
Adolf Vögtlin

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4. Der Neaopolitaner.

So war ich, entgegen meiner früheren Abneigung, durch das bloße Wohlverhalten eines fremden Menschen dazu bestimmt, Soldat geworden. Jetzt hatte ich niemand mehr um mich, mit dem ich ein vertrautes Wort sprechen konnte, niemand, der an meinem Geschicke Anteil nahm. Ich war auf mich selbst gestellt. Das fühlte ich vom ersten Augenblick an. Die Brücke zur Heimat war hinter mir eingestürzt. Niemand außer mir selber, der mir eine neue schlug; aber ich mußte erst ein anderer werden, das Schwindelhafte und Ungrade abstreifen, um solidere Pfeiler zu gründen.

Fürs erste ließ sich der neue Beruf gar nicht übel an. Vor sechs Wochen war ich barfuß und abgerissen, das nötige Schlafgeld für die erste Nacht mit Not erübrigend, in der Kaiserstadt eingetroffen; jetzt fuhr ich, vom Kopf bis zum Fuß neu bekleidet, 25 Gulden blankes Silber in der Tasche, mit dem Omnibus vom Gasthof zum Bahnhof, um auf dem nächsten Expreßzug dem schönen Triest an der Adria zuzueilen. Im Gasthof hatten wir herrlich und in Freuden gelebt. Der Feldwebel, ohne dessen Fürsorge wohl außer meiner aufgeputzten Wenigkeit keiner meiner Gefährten zur reichgedeckten Tafel zugelassen worden wäre – so wenig Vertrauen erweckend, schmutzig und zerlumpt sahen all diese Ebenbilder Gottes aus – waltete väterlich seines Amtes; er kam mir im kleinen vor wie der Heiland im großen, ohne dessen blutige Selbstaufopferung so viele, die im Sünderkleid um Einlaß bitten, von der Pforte zum Himmelssaal weggewiesen würden. 75

Unter wildem Gejohl, vor dem die Pferde beinahe scheuten, fuhren wir zum Bahnhof, wo viel hundert Schicksalsgenossen aus allen Windrichtungen zusammentrafen, daß ich glaubte, die Zuchthäuser ganz Europas hätten sich hierher entleert. Ich hatte nie zuvor in meinem Leben so viel menschliches Getier beisammen gesehen. Das wollte ich mir so viel als möglich vom Leibe halten, eingedenk der Worte Bachmanns, in dessen schönen Offiziersrock ich mich in gehobenen Augenblicken hineinversetzte. Ich empfand Abscheu vor meiner Umgebung und stellte mich ihr feindlich gegenüber, nicht bedenkend, daß man aus unsersgleichen das Menschliche nur durch Menschlichkeit herauslockt.

Interessanter als die Auffahrt zum Semmering, damals der kühnsten Bergbahn der Welt, war für mich die Niederfahrt durchs Karstgebirge mit dem beständigen Ausblick auf das herrliche Meer, dessen Großartigkeit ich mir nicht vorgestellt hatte. Und in diese Herrlichkeit hinein fuhr der Zug mit vielen hundert menschlichen Wesen, die der Hölle entsprungen schienen, und entgleiste nicht!

Im Triester Hafen zur Einschiffung aufgestellt, sahen wir mit Entsetzen, wie eben ein Dampfer über zweihundert verstümmelte Soldaten, die vom letzten italienischen Krieg her noch in den Spitälern zurückbehalten worden waren, auslud, fast jeder eines Gliedes, viele sogar mehrerer beraubt. Ihre Angehörigen waren anwesend, um ihnen ihre Liebe zu beweisen. Der Piemontese hatte gesiegt, sein Helfershelfer Napoleon hatte die Perle des Mittelländischen Meeres und die Provinz Savoyen als Lohn in die 76 Tasche gesteckt, und diese armen Krüppel bekamen ein paar Zigarren oder Orangen für ihre Hingebung.

Schon am ersten Tage erlebte ich eine Meuterei, die anhob, weil uns statt des versprochenen Weins nur abgestandenes Bier gegeben wurde. Im Nu wurden die zehn Faß Bier über Bord gerollt, und hätte der Kapitän nicht klüglich nachgegeben, so hätte man ihn sicher mitbefördert.

Da es nicht ratsam war, uns um die Halbinsel Kalabrien herum und durch die Meerenge von Messina hindurch nach Neapel zu führen, indem Garibaldi schon ganz Sizilien besetzt hatte, wurden wir in dem kleinen Nest Manfredonia ausgeschifft und in einem großen leeren Gebäude auf Stroh untergebracht. Abends erzwang sich die Bande den Ausgang in den Ort und benahm sich mit solch tierischer Roheit, daß uns die übrigens nicht mehr königlich gesinnten Bewohner andern Tags, als wir auf Fiakern weiterspediert wurden, mit Steinen bewarfen.

In sausendem Galopp ging's auf guter Heerstraße über Foggia und Avellino nach Nocera, wo unsere Garnison war. Noch mehrmals mußten wir solche Begrüßung durch die Bauern über uns ergehen lassen. Ob die Liebe zu dem nahenden Garibaldi daran schuld war, oder ob gerechter Eifer und Widerwille im Volke gärte, weil der König solch verdächtiges Gesindel, wie wir waren, anwarb, um seine Landeskinder unter dem Daumen zu halten, vermag ich nicht zu sagen.

Es gab unserseits einige blutige Köpfe.

Bei der Zuteilung zu den Bataillonen hatte ich Pech. Fast alle meine Landsleute kamen zum dritten; 77 mich verschlug es zu den Österreichern und Böhmen im ersten. Der Gedanke, vier Jahre unter diesen wilden Gesellen leben zu müssen, peinigte mich. Freilich hoffte ich auf Versetzung ins dritte, bei dem es gemütlich zuging. Doch hatte ich nicht viel Zeit, mich von Hoffnung und Verzweiflung hin- und herzerren zu lassen. Es wurde bald lebendig in unserer Kaserne. Kuriere kamen daher und gingen dorthin, man munkelte, Garibaldi sei in der Nähe, dann, er sei schon in Neapel und der König gefangen. Diese Neuigkeiten kümmerten uns wenig, da wir nicht glaubten, daß man uns, die wir das Gewehr noch nicht laden konnten, in Bälde verwenden würde.

In der Tat hatte Garibaldi, bevor man es erwartete, bei Reggio einen Teil seiner Truppen, die in Sizilien zu einem ansehnlichen Heer von mehr als 30 000 Mann angewachsen waren, ans Land gesetzt, was die größte Aufregung hervorrief. Da, eines Tages, es war nachts elf Uhr, wurden wir durch den Generalmarsch aus dem Schlafe geweckt und bei Pechpfannenbeleuchtung traten wir neugebackenen Rekruten im Hof an, lernten eine Stunde lang Bajonett aufpflanzen und abnehmen und faßten Patronen und auf jeden Mann einen halben Liter Wein, worauf in aller Stille abmarschiert wurde.

Wohin? Manch einem klopfte das Herz. Mir selber bangte, besonders da wir noch nicht einmal gelernt hatten, das Gewehr zu laden; anderseits war man ein bißchen stolz, daß man als Rekrut, der nicht mehr als zweiwöchentlichen militärischen Firnis hatte, schon gegen den Feind ziehen durfte. Wir machten einigemal Halt. Die Offiziere ratschlagten. Dann 78 marschierte man wieder bei stockfinsterer Nacht vorwärts und beim ersten Morgengrauen erreichten wir Castellamare am Golf von Neapel. Hart am Meere wurden wir im Lande aufgestellt, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Eine frische Brise wehte uns an. Erhitzt, durften wir uns nicht niederlegen. Das Stehenbleiben wurde uns aber bald noch aus einem andern Grunde widerwärtig; der Sand wimmelte von kleinen Erdflöhen, die uns gehörig ins Fleisch zwickten, daß es keinem möglich war, ruhig stehen zu bleiben. Hätte uns ein anderer Mann als der im Monde zugeschaut, so würde er, wie wir abwechselnd bald das linke, dann das rechte Bein hoben, gedacht haben, die ganze Kolonne wäre vom Veitstanz besessen.

Es tagte. Ein goldener Morgen brach an und breitete seinen Glanz aus über die tiefe, nur von einem durchsichtigen Silberton überhauchte Bläue des unendlichen Meeres. Schimmernde Felsenufer, besät mit Villen und Palästen, streckten sich dem Meer entlang und verloren sich in der Ferne. Der Vesuv schien seinen schweren Nachttraum abzuschütteln; eine mächtige Wolke hatte sich von seinem Haupte gelöst. Gott! wie schön und groß war das alles: man vergaß Hunger und Kälte und selbst die springenden Erdflöhe. Fischerbarken und Gondeln belebten den schimmernden Traum aus Gold und Azur und gaben ihm irdischen Reiz. Glücklich, glücklich mußte der Beherrscher dieses Paradieses sein!

Doch halt! Ihm nahte der Verräter, der ihm das Juwel entreißen wollte. Schon lauerte er in den benachbarten Wäldern. Wir selber wurden an unser irdisches Dasein erinnert durch den Befehl, Leute 79 zum Fassen von Brot und Wein zu schicken. Nach diesem Frühstück durften wir unsere Patronen unversehrt nach Nocera zurücktragen. Der erste große Feldzug, dessen Zweck mir nie recht klar geworden, war glücklich überstanden. Von jetzt an wurde wacker exerziert. Die Offiziere benahmen sich angesichts der drohenden Lage immer zutraulicher. Man hatte Geld und aß und trank nach Herzenslust; auch ein Theater wurde eingerichtet, auf welchem deutsche Lustspiele und Liebesdramen von »Künstlern« im Waffenrock aufgeführt wurden.

Trotzdem kamen täglich Ungehörigkeiten und allerlei Vergehen gegen militärische Zucht und menschliche Sitte vor, so daß jede Woche zweimal das Kriegsgericht im Kasernenhof zusammentrat, um über die Schuldigen Strafen zu verhängen. Dabei wurde die ganze Garnison im Viereck aufgestellt, damit jeder Gelegenheit habe, sich an dem Bestraften, der von der Wachtmannschaft vorgeführt wurde, ein abschreckendes Beispiel zu nehmen. Auf fünf, zehn oder zwanzig Jahre gelber, roter oder schwarzer Galeere lautete gewöhnlich das Urteil. Bei der letzteren Art wurden dem Bestraften außer den Ketten noch schwere Schleppkugeln am Fußgelenk befestigt, und die Kost war so schlecht, daß keiner mit dem Leben davonkam.

Leichte Diebstähle und derartige Vergehen wurden mit fünfundzwanzig bis hundert Stockstreichen auf den nackten Körper bestraft. Dabei sah ich solche, die schon nach dem ersten und zweiten Streich bei Gott und allen Heiligen jämmerlich um Gnade schrien, wenn aus den hochangeschwollenen Striemen das Blut herausspritzte, während andere nach dreißig 80 Streichen unglaublich unempfindlich und abgehärtet blieben, daß sie, den Schmerz zerbeißend, von selbst von der Bank hüpften, von welcher sie losgebunden worden, und höhnische Komplimente machend, vom Platz hinwegtänzelten.

Da Garibaldi mit seinen Truppen immer näher kam und auf uns, eine ganz undisziplinierte Schar, noch kein Verlaß war, – hatten wir doch schon zum zweitenmal gemeutert! – so wurden eines Morgens alle Vorräte auf Wagen verladen und nach Capua in Sicherheit und wir in der Umgebung auf Lager gebracht. Das dritte Bataillon, Deutsche und Schweizer, hatte schon mehrfach Anteil an Gefechten nehmen dürfen; uns traute man nicht, und so wurden wir anderweitig beschäftigt oder lungerten herum. Da man meine Fachkenntnisse entdeckte, hatte ich das Vergnügen, in Biniadoro meinen Kameraden als Kompagnieschuster die schadhafte Fußbekleidung zu flicken, welches Ehrenamt ich sechs Tage bekleidete, bis man endlich fand, ich arbeite nicht solid genug.

Eines Morgens früh hörten wir Kanonendonner von der Festung Capua her, blieben indes liegen bis Nachmittag zwei Uhr, wo Generalmarsch geblasen wurde. Es war kühles Herbstwetter und regnete in Strömen. Wir brachen auf, marschierten dem Donner nach auf die Festung zu, wurden jedoch nicht hineingelassen, mußten die Nacht hindurch im Freien kampieren und wurden gründlich getauft. Nahrung gab es Tag und Nacht keine; dagegen erhielt uns der feurige Rotwein warm. Andern Tags jubelten wir, als uns früh eine Suppe und ein halber Laib Brot verabfolgt wurden; noch lieber war es uns, daß wir 81 abmarschieren durften. In großer Eile ging es in südlicher Richtung, dem Volturno entlang, nach dem etwa vier Stunden entfernten Cajazzo, einer Stadt auf einem mit Ölbäumen bepflanzten Bergkegel. Sie war von der Südarmee Garibaldis unlängst erobert und besetzt worden. Unsere Straße führte uns seit ungefähr einer Stunde zwischen zwei Hügeln hindurch, als plötzlich von der Höhe rechts mit kleinen Sechspfünderkanonen auf uns gefeuert wurde, doch ohne zu schaden. In der Ferne begannen die Feuerschlünde noch gröber zu husten; da gingen wir im Sturmschritt vor, nicht wenig zum Kampf entflammt.

Je näher wir kommen, desto lebhafter wird das Feuer der Geschütze und der Gewehre. Die Stadt ist in Rauch gehüllt, einzelne Gehöfte außerhalb derselben stehen in Flammen. Endlich sind wir am Fuß des Berges angekommen. Kurzer Halt. Tornister ab! Die Patronen herausgenommen und Hosentaschen und Brotsack damit gefüllt! In Tirailleurlinie aufgebrochen! So geht's zur Feuertaufe. Die Knie zittern wohl manchem. Das Herz klopft stärker, der Schweiß perlt aus der Stirne hervor. Schnelle Gedanken fliegen der Heimat zu. Ich sehe Agathe. Nicht mehr als Kind. Ihre blonden Zöpfe trägt sie nicht mehr frei, sondern als schweren Kranz um ihren blühenden Kopf gewunden. Ihr Kleid ist um Handbreite länger geworden, ihre Formen sind voll und schön. Gruß dir und Lebewohl . . .

Nun aber hört das Träumen auf. Beim Hinansteigen werden in einem fort Verwundete und Verstümmelte an uns vorbeigetragen; die ersten Kugeln 82 fliegen uns pfeifend über die Köpfe hinweg; dann saust es links und rechts uns um die Ohren und zwischen den Beinen hindurch. Da und dort stürzt einer rücklings nieder und reckt seine Glieder im Todeskrampf. Nur langsam klimmen wir die Höhe hinan. Die garibaldinischen Rothemden lassen sich nicht so leicht aus ihrer Stellung vertreiben. Erst gegen vier Uhr abends geraten sie durchweg ins Wanken und wir erreichen die Höhe. Neben uns stehen italienische Regimenter. Die Eingänge zur Stadt sind haushoch verbarrikadiert mit Wagen, Baumstämmen und Erdsäcken. Um halb fünf brechen wir eine kleine Öffnung durch, und nun entspinnt sich ein grausiger Straßenkampf, während dessen aus vielen Häusern, die wir uns genau merken, auf uns geschossen wird. Gegen sieben Uhr räumt der Feind die Stadt; die Kavallerie verfolgt ihn. Wir stellen das Feuer ein.

Nun wurden die Häuser, aus denen man auf uns geschossen hatte, angezündet und es ging ans Plündern, wobei wir uns für die magern Tage in Capua entschädigten. Die Wiener, Prager und Bremer Erzspitzbuben fanden schnell eifrige Nachahmer ihrer Kunst. Mit meinem Freund Wettach, einem Appenzeller, und andern Kameraden quartierte ich mich im wohlgefüllten Keller eines Bischofs ein und wir taten uns mehr als gütlich, bis wir von einer größern Bande verdrängt wurden. Da fiel uns auf dem Hof die zweispännige Equipage in der offenen Remise auf; wir zogen sie heraus und erlaubten uns den weinblöden Witz, sie den steilen Berg hinuntersausen zu lassen, wobei sie an einem Baum in hundert 83 Stücke zerschellte. Eben führten wir eine größere Kutsche über die Straße, um ihr dasselbe Los zu bereiten, als ein preußischer Unteroffizier Einhalt gebot, da ein Einwohner auf einem Schiebkarren eine große Strohflasche voll Wein herbeischob. Beim Anblick unseres Streiches bekreuzigte sich dieser in einem fort und rief dazu »Jesu-Maria-Juseppe!« und verriet uns durch lebhafte Gebärden, daß dies die größte Todsünde sei. Wir bestanden jedoch darauf, die zweite Kutsche ebenso zu zertrümmern wie die erste. Da ließ er sich herbei, uns gegen dieselbe seinen Karren samt Inhalt auszuliefern. Wir zogen mit unserer Beute auf den Hauptplatz des Städtchens, wo wir kampierten. Möbel wurden aus den angrenzenden Häusern herbeigeschleppt und ein mächtiges Feuer angezündet. Auf einem Einspänner führte ein Kamerad den ganzen Vorrat einer Konditorei heran, andere zerrten ein paar Schweine aus einem Stall heraus; die wurden gebraten und dabei die ganze Nacht in ausgelassener Schwelgerei verbracht, indem die Keller der reicheren Bewohner besten Wein im Überfluß lieferten.

Als wir andern Morgens eine Runde in der Stadt und um dieselbe machten, waren wir nicht wenig erstaunt, zu sehen, daß all die herumliegenden Toten ihrer Kleider bis auf die Haut beraubt waren. Man sagte, die Einwohner hätten dies getan, um die Leichen des Feindes vor unserer Wut zu beschützen. Erst am dritten Tage wurde Befehl zur Bestattung gegeben. Ich hatte mit einigen andern die Leichen in den verbrannten Häusern aufzusuchen und beiseite zu schaffen. Nie werde ich diese schauerliche Arbeit 84 vergessen; noch heute stehen mir die halb und ganz verbrannten Gruppen von Menschengestalten deutlich vor den Augen. In all den verkrümmten Haltungen drückt sich der furchtbare Kampf mit dem entfesselten Element aus. Hier steht, an eine verschlossene Haustür angelehnt, eine Hünengestalt, die, um sich noch im letzten Augenblick vor dem Erstickungstod zu bewahren, den kürzern Todesweg vorzieht, indem sie sich mit der Rechten ein langes Dolchmesser ins Herz stößt, das darin stecken bleibt, von der Hand umkrallt. Da liegt eine Frau, die den Oberkörper durch eine kleine Maueröffnung in den nahen Hof hinauszwängen möchte. Die Rettung ist nahe. Da kann sie, entkräftet, weder vor noch rückwärts, die Beine verbrennen und verkohlen ihr, während der Oberkörper unversehrt bleibt. Was für Qualen mag sie ausgestanden haben!

In einem Hausflur liegen fünf Personen an einem Knäuel, darunter zwei ungefähr zehnjährige Kinder, alle einander in ängstlicher Liebe umschlingend, stehend erstickt und nachher verbrannt. In den Kellern trafen wir noch Lebende an, aus deren Angesicht uns Angst und Entsetzen anstarrten, als sie uns gewahr wurden. Allein unsere Wut hatte sich gelegt, mit Schonung ergriffen wir sie, brachten sie an die frische Luft oder in unversehrte Häuser, wo sie verpflegt werden konnten. Was ich mit leiblichem Auge da geschaut, muß ich seitdem mit geistigem im Traume oftmals schauen, und immer ist es hautschauerndes Entsetzen.

Die Leichen der Soldaten wurden in Massengräbern vor der Stadt zusammengebettet. Ich sah Helden mit fünf, sechs Kugeln im Leibe, von Säbelhieben 85 und Bajonettstichen greulich zerfleischt. Doch schrecklicher als das Erlebte war das, was folgte. Wir wurden am sumpfigen Unterlauf des Volturno auf Wache gestellt. Die giftigen Ausdünstungen des seichten Flusses rafften mehr von den unsrigen hin als die Kugeln des Feindes. Jeden Tag trug man etwa zwanzig Kranke in die Stadt hinauf ins Spital, von wo keiner mehr zurückkam. Es waren keine Heilmittel vorhanden; alle sollten mit dem Saft unreifer Zitronen kuriert werden. Manchen meiner Kameraden half ich dorthin tragen, ohne selber krank zu werden. Alle sechs Stunden wurde ich abgelöst und erhielt Schnaps und Kaffee zur Stärkung. Allein auf die Dauer konnte mich das nicht gegen Krankheit feien. Eines Morgens hatte ich heftige Dysenterie, dazu beständigen Brechreiz und Appetitlosigkeit, die untrüglichen Zeichen der gefährlichen Seuche.

Ich bekam Angst. Warum?

Der Tod ist, von vorn oder von hinten gelesen, halt doch der Tod. Jeder Wurm, der weder Herz, noch Seele, noch Gewissen kennt, krümmt und wehrt sich dagegen. Ich aber sah in weiter nebliger Ferne das schöne frische Bild eines Mädchens mit reinem Zornesblick, rosig überhaucht vom Morgenglanz einer neuen Lebenssonne. Und ich klammerte mich an das Leben, obschon ich sonst nichts zu verspielen hatte.

Ich wollte nicht sterben; ich hatte denjenigen gegenüber, die mir Liebe bewiesen, die mich aufgezogen wie ihr eigenes Kind, und deren Liebe ich mit Verdruß und Leid vergolten, noch eine schwere Schuld abzutragen, die ich nicht ins Grab mitnehmen mocht. Die Hoffnung, jene drei Menschen wiederzusehen, 86 lebte als wärmende Glut in meinem Innern, die um so mächtiger angefacht wurde, je näher mir der Tod vorschwebte.

Als der Arzt zum Morgenbesuch kam, hieß es: »Manesse ins Spital!« Meine Siebensachen wurden zusammengepackt und ein Inventar aufgenommen. Das war so viel als ein Todesurteil. Freund Wettach sollte mir, der lebendigen Leiche, das letzte Geleit geben und versprach mir, meinen Pflegeeltern Mitteilung zu machen.

Ich trat den schrecklichen Gang mit Angstschweiß an. Lieber wäre ich in die mörderische Schlacht gezogen, als in diese rettungslose Rettungsanstalt, Spital genannt. Den Weg kannte ich wohl und wußte, daß von den Dutzenden, die ich hinbegleitet hatte, keiner zurückgekehrt war. Es mochte etwa elf Uhr sein, als wir dort ankamen. Wettach drückte mir noch einmal die Hand und floh die unheimliche Stätte. Ich stand in einem langen Korridor. Welch jammervolle Gestalten lagen nebeneinander auf kargem Stroh ausgestreckt! Ein übelriechender warmer Dunstschwall schlug mir entgegen. Es schüttelte mich bis in die Eingeweide, als hätte ich das Malariafieber im Leibe. Da erbrach sich einer, dort wälzte sich einer in seiner Notdurft. Kein Wärter war zu sehen. Mich schüttelte es immer gewaltiger. Die ungewohnte Unreinlichkeit erzeugte in mir aufwühlenden Ekel, so daß auch ich mich erbrechen mußte. Jetzt trugen sie einen Toten an mir vorbei. Seine kalte Hand streifte mich. Unwiderstehliches Zittern fuhr mir durch die Glieder.

Da raffe ich mich auf, nehme den Tornister auf 87 den Rücken, das Gewehr zur Hand und fliehe. Wie neu belebt von dem Anblick der Schreckensbilder durcheile ich die Gassen und erreiche meine Kompanie.

Ich fühle mich plötzlich wohl und gesund. Schrecken und Ekel hatten mich geheilt. Zunächst floh mich alles, wollte mich nicht um sich dulden. Wie ich aber mich munter und hellauf zeigte und blieb, wurde ich wieder in Reih' und Glied genommen.

Der Tod hatte mir an die Tür geklopft, und da kam mir das Leben doppelt süß vor und ich empfand mit aller Innigkeit und Wärme eines jungen Herzens Dankbarkeit gegen jenes übermächtige Wesen, das mir die Kraft verliehen hatte, gegen den Tod anzukämpfen, ihn für einmal zu überwinden. Von kindlichem Dank gegen Gott war ich erfüllt und empfand seine Nähe und Liebe wie nie zuvor im Leben. Die folgende Zeit war aber so bewegt, daß ich bald alle seelische Sammlung wieder verlor. Nach der unglücklichen Schlacht bei Gaeta wurden wir versprengt, gelangten auf päpstliches Gebiet und wurden so lange gefangen gehalten und so schlecht behandelt und genährt, daß die meisten von uns am Hungertyphus starben.

Wir lagen über drei Monate lang in tiefstem Elend, unser sechshundert im Keller eines Klosters. Jeden Morgen erhielt jeder von uns ein Stück rohes Büffelochsenfleisch, so groß wie zwei Finger, das selten weich gesotten werden konnte, einen Eßlöffel rohen Reis, einen halben Fingerhut voll Salz, sowie zwei Scheiter grünes Korkeichenholz, womit man sieden oder braten konnte. Wehe jedem 88 Hund und jeder Katze, die uns vor die Augen liefen. Sie wurden rar in der Gegend, und trotzdem schmolz unsere Kompanie von 140 auf 40 Mann zusammen.

In welch widrigem Schmutz und Gestank wir unser Leben fristeten, wurde ich erst recht inne, als ich eines Morgens die Kellertür öffnete. Da standen eben drei hohe Geistliche davor, im Begriff, uns einen Trostbesuch abzustatten, denn es war Weihnachtstag. Ich mache ihnen ehrerbietig Platz. Doch im Begriff, die Schwelle zu überschreiten, weichen plötzlich alle drei zurück, die Hand vors Gesicht haltend und brechen in den gemeinsamen Ekelruf aus: »Jesu-Christo-Madonna!« Der fürchterliche Geruch, gegen den wir längst abgestumpft waren, wehrte ihnen den Eingang. Sie riefen den Offizier der Wache herbei und verhandelten mit ihm. Nach kaum einer Stunde fuhr ein großer Wagen voll Stroh vor. Wie freuten wir uns, die wir vom Hunger und vom Ungeziefer zu Skeletten abgemagert waren, über diese Weihnachtsgabe! Und doch war es nicht mehr, als was man sonst täglich den Schweinen unterlegt.

Endlich schlugen sich sechs von uns nach Rom durch und bewirkten bei den Gesandten der verschiedenen Nationen, daß sie unsere Befreiung an die Hand nahmen. Eingeschifft, kamen wir über Marseille nach Genf und wurden von da nach den verschiedenen Heimatländern transportiert. In welchem Zustande, kann Tinte nicht schildern; denn sie ist viel zu reinlich dazu.

In Münster bei meinen Pflegeeltern angekommen brauchte ich Wochen, um mich wieder als Mensch zu 89 fühlen. Tagelang aß ich fast in einem fort, ohne satt zu werden. Aber was für ein Himmel war mein Federbett und wie engelhaft kamen mir die Menschen wieder vor, denn diesmal war ich wirklich bei Menschen. Unter diesem Eindruck nahm ich mir vor, dem Herrgott nicht mehr aus der Schule zu laufen. Wie es im Reich des Teufels aussah, glaubte ich genugsam erfahren zu haben und verspürte keine Lust, jemals dahin zurückzukehren.

»Was meinst,« sagte der Pflegevater, als ich nach einigen Wochen wieder ordentlich stehen und gehen konnte, in seiner derben aber gutmütigen Art zu mir, »jetzt wirst die Hörner wohl abgestoßen haben, he?«

»Ja, wenn man nur nicht Angst haben müßte, daß sie einem wieder nachwachsen wie dem Rehbock!« entgegnete ich lachend und tat dabei den ersten Luftsprung vor Wohlbehagen, daß die Stube zitterte und das im Schafte stehende Werkzeug zu klirren anfing. Die Glaskugel auf dem Arbeitstisch wollte das Gleichgewicht verlieren. Da sah mich Berlinger mit großen Augen über seine Brille hinweg an und sagte mit Nachdruck: »Wenn's so steht, muß man dich halt gleich wieder ins Joch spannen, sonst wirst du zu übermütig.«

Die Pflegemutter aber bemerkte in ihrer nachsichtigen Art: »Ein paar Tage müssen wir ihn schon noch am Futter stehen lassen; sieh nur, wie die Kleider an seinem Leibe herumschlottern, gerade wie bei einer Vogelscheuche, wenn der Wind geht . . . . Nachher aber, Heini, nimm dich zusammen!«

»Jawohl,« ergänzte Berlinger, »du bist jetzt alt 90 genug, um auf eigne Rechnung zu leben. Jeder ist seines Glückes Schmied.«

»Aber ich bin noch lange nicht im Schwabenalter, wo die dummen Streiche so von Vernunft wegen von selbst aufhören.« Und wieder schlug ich eine Lache auf, so frei und ungehemmt, als ob ich wirklich so liederlich gedacht hätte.

Jetzt aber verbiß der Pflegevater seinen Ärger nicht länger und sagte drohend: »Na, wem nicht zu raten, ist auch nicht zu helfen.« Er schwieg und hämmerte erregt das Leder auf dem Klopfstein. Wie ich aufblickte, gab mir Agathe, die, bei der Tür stehend, zugehorcht hatte, einen Blick, so erfüllt von bangem Ernst, daß mir die Lust zum Lachen verging und ich kein Wort mehr zur Entgegnung fand.

»So bist du doch nicht, Heini. Tu doch nicht geringer als du bist!« raunte sie mir vorwurfsvoll zu, als ich an ihr vorbei und hinaus ging.

Das Wort gab mir einen Stoß. Ich rappelte mich auf und sah mich noch am selben Tage, obschon ich noch nicht ganz auf dem Damm war, nach Arbeit um.

Bei dieser Gelegenheit traf ich mit dem Jüngling zusammen, der in dem Handelshause, wo ich als Kaufmann meine Sporen unsauberen Angedenkens verdient hatte, angestellt war.

Er war bereits Reisender und fuhr mit flottem Pferd und glänzender Kutsche selbstherrlich im Lande herum. Scheu wich ich ihm aus, als ich seiner gewahr wurde, und trat in eine Seitengasse, wo ich an einer Ecke stehend ihn vorbeirasseln sah. Das also war meine Zukunft gewesen! Ich sagte mir das 91 und noch mehr dazu. Mein Prinzipal hatte mich lieb gewonnen, und die Andeutung, die er einmal gemacht hatte, daß er daran denke, einen vertrauten Angestellten zum Geschäftsteilhaber zu erheben, kam mir in den Sinn und drückte mir aufs Herz. Ich biß mich auf die Lippen: Donnerwetter! Du bist ein Kerl so gut wie der und der! Warum ward aus dem und jenem ein Mann und aus dir ein Lump? . . . Umkrempeln, dein ganzes Leben umkrempeln mußt du. Und zwar jetzt, von diesem Augenblick an; nicht morgen und nicht übermorgen. Nimm Arbeit an, und sei es die geringste, sie gibt dir Haltung, Selbstvertrauen und bringt deine Kraft zum Wachsen.

Dann sah ich den großen vorwurfsvollen Blick, den Agathe mir zugeworfen, und ich schämte mich vor ihr. Das Mädchen, so wahr, so tapfer und so schön, es schätzte mich trotz allem noch. Das fühlte ich der mütterlichen Sorgfalt ab, mit der sie mich pflegte, der Energie, mit der sie mich immer wieder das Auge zur Sonne erheben hieß, wenn es gottverlassen auf der niedern Erde haftete und sich in mein elendes Dasein verbohrte. Bei Gott! sie soll einmal Grund haben, mich zu achten. Mit diesem Entschluß begab ich mich auf einen großen Bauplatz Ich hatte ja das Italienische radebrechen gelernt und konnte mich vielleicht im Verkehr zwischen dem Meister und seinen Arbeitern, die zum größten Teil italienischen Ursprungs waren, nützlich erweisen. Zu meiner Freude traf ich den Florian Geyer wieder, der inzwischen zum Parlier vorgerückt war. Wegen seiner Tüchtigkeit genoß er das Vertrauen seines Meisters in solchem Maße, daß dieser ihn behielt, obschon er 92 oft mehrere Tage hindurch, namentlich zur Sauserzeit im Herbst, betrunken zur Arbeit kam.

Dieser Florian Geyer hatte offenbar von meinem Vorleben nichts vernommen, sonst hätte er als frommer Katholik, der allsonntäglich zur Kirche und regelmäßig zur Beichte ging, sich vor mir bekreuzt. Er kam aber freundlich auf mich zu, schüttelte mir die Hand, daß mir die Finger knackten und sagte lustig. »He, Gott grüß dich! Da kommt der Heini Manesse daher, wenn man an nichts Schlechtes denkt.« Dann lachte er einen Brocken.

Florian hatte kaum mein Anliegen gehört, so begab er sich zum Meister, und bewirkte durch seine Empfehlung, daß ich ihm, der in der Feder nicht bewandert war, als Kontrolleur beigegeben wurde. Als solcher hatte ich die Ablieferung von Materialien, Bausteinen, Kalk, Sand und Geräten auf dem Bauplatz, der etwa sechzig Arbeiter beschäftigte, zu überwachen und Gutscheine dafür auszustellen und daneben sollte ich da und dort zugreifen und mithelfen, um allmählich in die Obliegenheiten eines zweiten Parliers eingeführt zu werden.

Der Aufenthalt in der freien Luft sagte mir zu, ich kam wieder zu Kräften und lebte gemütlich auf. Weniger rosig war die Aussicht auf den Winter, indem ich vor Weihnachten vier Wochen Bezirksgefängnis abzusitzen hatte, als gesetzliche Strafe dafür, daß ich der Werbetrommel gefolgt war. Mit Rücksicht auf meinen Gesundheitszustand war die Gefangenschaft so weit hinausgeschoben worden. Immer hoffte ich noch, sie würde mir als Jugendtorheit überhaupt erlassen. 93

So schienen sich die Anlagen für eine neue und bessere Lebensführung vor mir auszubreiten. Ich tat meine Pflicht, war rührig und merkte bald, daß mich meine Vorgesetzten wohl leiden mochten. Zu Hause kam ein munterer, vertraulicher Ton obenauf, nachdem Berlinger sich über mein Verhalten erkundigt und guten Bericht erhalten hatte. Mit Agathe, die sich auf das Lehrerinnenexamen vorbereitete, stellte ich mich gut und trieb ich fast jeden Abend Französisch und Italienisch. Ich fühlte mich unter ihrem stillen Schutz auf geraden Wegen.

Da wollte es der Brauch, daß wir nach der Erstellung des Dachstuhls auf dem Neubau mit den Maurern und Zimmersleuten das Aufrichtemahl feierten. Es dauerte bis tief in die Nacht hinein, und ich weiß nicht, wie viele von uns, beim Aufbruch nach Hause, unfähig, von ihren Beinen Gebrauch zu machen, unterwegs übernachteten. Ich weiß nur, daß ich am folgenden Morgen bei der Arbeit einen fürchterlichen Durst verspürte und Florian auch. Den stillten wir in der nahen Wirtschaft zum Weißen Kreuz. Und nun zog eben ein Durst den andern nach sich, wie das zu geschehen pflegt, und er wuchs von Tag zu Tag rascher und rascher und verzehrte meine Willenskraft wie ein übles Geschwür die leibliche Gesundheit zerstört.. Als mir das Geld ausging, schoß mir Florian welches vor, nur damit er einen Trinkgenossen hatte. Als ich es nicht zurückzahlen konnte, meinte er, ich brauche es mit der Ausstellung der Gutscheine nicht so genau zu nehmen, und zeigte mir, wie ich es machen müsse, um jeden Tag ein paar Taler für mich zu erübrigen. Als er 94 auf der Rückzahlung beharrte und mich bedrängte, folgte ich seinen Weisungen und bereicherte mich auf Kosten meines Meisters. Florian schlug meine Bedenken nieder und behauptete, es machten es alle so. Das sei Brauch bei den Kontrolleuren; wozu denn das Vertrauen da wäre, wenn man es nicht mißbrauchen dürfte!

Als wir einst wieder beim Wein saßen und er immer ausgelassener wurde, während ich im Trunkenelend mich selbst anklagte und im Gefühl meiner Verworfenheit zu heulen anfing, stieß er mich an und sagte: »Heini, wirf's hinter dich! . . . Wirf's hinter dich!«

»Ja,« heulte ich, »wenn man's nur könnte!«

»Sei doch kein Kindskopf, Heini,« sagte er und gab mir wieder einen Puff mit dem Ellbogen. Roh und gemein wie nie zuvor kam mir jetzt seine Stimme vor. »Sag mir mal,« fuhr er fort, »wozu meinst, daß die Beicht' nütz ist? . . . Unser Herrgott nimmt alles auf sich, wir Menschenkinder brauchen uns nichts aus der Schlechtigkeit zu machen, an der er selber schuld ist. Wirf's hinter dich, Heini! Sei kein dummer Teufel!«

Eine grenzenlose Wut überkam mich. Ich stand auf und rief: »Mit dir stoß ich meiner Lebtag nie mehr an!« schmetterte ihm das Weinglas vor die Füße und stürmte zur Tür hinaus. Ich lief beinahe die ganze Nacht hindurch. Am andern Morgen – es war ein lichter Wintertag – stand ich vor dem Tor der Bezirkshauptstadt, wo ich meinen Arrest abzusitzen hatte und meldete mich bei der Behörde, die mir den Gefallen tat, mich sofort aufzunehmen. 95 Mein Wanderbuch war bereits als Haftpfand dort hinterlegt.

Es war mir eine Erleichterung, an einen Ort zu kommen, wo man für vergangene Verbrechen zu büßen pflegte. Ich gehörte hierher, und in der engen Zelle kam ein Frieden über mich, wie er mir bis dahin fremd gewesen. Der Ortspfarrer besuchte mich, erkundigte sich freundlich nach meinem Schicksal und brachte mir Bücher zum Lesen mit. Ich las mit Vorliebe Schiller. Wie leicht konnte ich mich in die Stimmungen und Anschauungen einer Maria Stuart hineinversetzen! Ich büßte wie sie für ein Vergehen, das die Menschen mehr als törichten Jugendstreich, denn als eine verbrecherische Übertretung des Gesetzes ansahen und welches kaum eine Bestrafung verdiente; willig nahm ich diese Buße als Sühne für eine andere Schuld auf mich, welche die Menschen nicht kannten. Allein erst dann begann meine Seele aufzuatmen, als ich meinem Meister Mitteilung machte, daß ich mich zu einem Betrug hatte hinreißen lassen. Dieser war kaum nachweisbar, das mochte ihn bestimmen, von einer Strafverfolgung abzusehen und mir zu verzeihen.

Daß sich aus der Lektüre einzelne Sprüche, besonders solche, welche zu meiner Entschuldigung vor meinem eigenen Gewissen dienen konnten, unauslöschlich meinem Gedächtnis einprägten, will ich nicht unerwähnt lassen. So das Wort Octavio Piccolominis: »In steter Notwehr gegen arge List bleibt auch das redlichste Gemüt nicht wahr«, das er zur Entschuldigung seiner eigenen krummen Schliche seinem aufrichtigen Sohne Max gegenüber anwendet. Die 96 furchtbare poetische Gerechtigkeit, welche der Dichter im ganzen walten läßt, die endlich auch den alten Piccolomini demütigt, entging damals meinem Geiste, der sich an Einzelheiten anklammerte und in kindlicher Weise die Äußerungen einzelner Personen für die Ansichten des Dichters nahm. Allerdings fiel mir sehr bald auf, daß sich auf diese Weise aus den Werken eines Dichters die verschiedenartigsten Welt- und Lebensauffassungen herausklauben ließen und daß die Persönlichkeit des Dichters dem Chamäleon gleich sehen mußte. Der freundliche Pfarrer bestätigte meine Wahrnehmung und leitete mich an, wie man dazu komme, ein Kunstwerk in seiner Ganzheit zu verstehen, und so war denn der Gesamteindruck, den ich von der »Braut von Messina« empfing, ein gewaltiger. Den Cajetan sah ich als Erzengel Michael vor mir stehen; auf seinem blanken Schwerte stand blutrot leuchtend der Spruch: Der Übel größtes ist die Schuld.

Agathe, der ich vom Gefängnis aus meine Schuld bekannt hatte, schrieb mir einen erschütternden Brief. Nicht, daß sie mich mit Vorwürfen überhäuft hätte, nichts von alledem; aber in stillen Nächten, wenn von den feuchten Wänden des Kerkers das Wasser abfiel und auf den Boden aufschlug, war mir's, als hörte ich das Blut aus ihrem Herzen tropfen, das ich aus der Ferne verletzt hatte.

Am Weihnachtstage aus der Haft entlassen, wagte ich es nicht, nach Münster zurückzukehren und Agathe unter die Augen zu treten.

Einige Tage nachher befand ich mich mit einem Berufskameraden, der sich Felix nannte, auf der 97 Landstraße nach Tuttlingen. Da fanden wir einen großen Sack Hafer liegen. Was damit beginnen? Der Name des Eigentümers war angeschrieben; allein der Sack war zu schwer, als daß wir ihn so weit hätten tragen können. Eine Strecke weit schleppten wir ihn, bis wir abseits vom Wege eine Ziegelhütte entdeckten. Dort wollten wir ihn als redliche Finder abgeben und den Finderlohn einziehen. In der Tat erhielt jeder von uns einen halben Gulden. Felix gab sich jedoch damit nicht zufrieden, sondern wollte aus der Gelegenheit noch mehr Geld herausschlagen. So erzählte er zwei Fuhrleuten, die uns begegneten, von dem Funde, erklärte, der geizige Ziegler hätte uns nichts gegeben, und erhielt von den barmherzigen Seelen zehn Kreuzer. In Tuttlingen angekommen, begab er sich ins Haus desjenigen, der den Sack verloren hatte, und erweckte bei der Frau desselben solches Mitleid und Dankgefühl, daß sie ihm einen guten Imbiß auftischte für seine Ehrlichkeit und obendrein einen Gulden schenkte, da er ihr vorlog, er hätte keinen Finderlohn erhalten. Endlich meldete er noch bei der Polizei den Fund und ließ sich den gesetzlich vorgeschriebenen Finderlohn mit vierundzwanzig Kreuzer ausbezahlen, da er nicht auf die Rückkehr des Fuhrmanns warten könne. Da gefiel mir der edle Ritter nicht mehr und ich wandte ihm den Rücken.

Es fiel mir ein, wie schön und angenehm es um diese Jahreszeit im Lande der Zitronen sein müßte, und so wanderte ich südwärts, der Schweiz zu. Bei der freundlichen Ursula in der Herberge zu den »Drei Königen« in Chur, die keinen Handwerksburschen verhungern ließ, kehrte ich ein, nachdem ich wegen 98 des großen Schneefalls umsonst versucht hatte, über den Splügenpaß nach Italien zu gelangen. Ursula, der ich viel von Stromern und Handwerksburschen, die sie kannte, zu erzählen wußte, erwies mir viel Freundlichkeit. Da sah ich, wie die unerschöpfliche Liebenswürdigkeit eines wackern Mädchens imstande ist, rohe Gesellen zu bändigen und im Zaum zu halten. Es blickten alle mit Verehrung zu der Jungfrau auf und keiner wagte ein unsauberes Wort an sie zu richten; denn jeder wußte, daß sie dafür nicht zu haben war, sondern jeden Frechling vor die Tür setzen ließ. Ich benahm mich artig und sie sagte beim Abschied zu mir, ich dürfe ungescheut wiederkommen und werde immer ein warmes Süpplein vorfinden. Diese Worte taten mir unsäglich wohl und mein Herz zehrte noch lange von Ursulas menschenfreundlicher Liebe.

Von Chur dem Walenstadter See entlang über Einsiedeln nach Schwyz wandernd, von Brunnen bei grausigem Wintersturm den Urner See hinauffahrend, wobei ein wahrer Tell unser sechs Handwerksburschen das Leben rettete, kamen wir triefend und frierend in Flüelen an und übernachteten im Spital zu Altdorf. Der Marsch über den Gotthard war beschwerlich, da tiefer Schnee auf der Straße lag. Doch kam ich gesund, wenn auch mittellos nach Mailand. Der Dom tat es mir an und ich war ergriffen von dem Reichtum des Riesenbaus sowohl als auch von der feierlichen innern Ausstattung, dem stummen Kommen und Gehen der vielhundert Menschen, von denen jeder lautlos in irgendeiner Nische vor einem Heiligenbild niederkniete und Gebete murmelte. Hier war 99 alles Andacht, während ich in der berühmten Stiftskirche zu Einsiedeln ganze Scharen Gaffer und Schwätzer sich hatte herein- und hinausdrängen sehen, nur Neugier, aber keine Andacht bekundend.

Da ich die Heiligen nicht verstand, wollten sie auch von mir nichts wissen und keiner gab dem armen Schustergesellen nur einen roten Soldo an seine Reise nach Genua. Ich meldete mich deshalb, da ich keine Arbeit fand, beim Konsul. Der aber unterstützte nur solche, die sich auf der Heimreise befanden, und so mußte ich wohl oder übel, wollte ich eine Unterstützung bekommen, mich verpflichten, bei hartem Winterwetter über den Gotthard zurückzupilgern. Ach, weder Zitronen noch Orangen waren für mich reif geworden. Vielleicht, daß mir im Osten ein Röslein blühte! Kaum gedacht, war auch schon ein Plan gemacht. Trotz der großen Ebbe in meiner Kasse beschloß ich eine Reise nach dem Orient über Wien und durch den Banat und die Walachei nach Südrußland und Odessa, wo, wie ich von einem Kameraden hörte, ein Landsmann in wenig Jahren sein Glück gemacht hatte. Freilich mußte ich zu diesem Zwecke an der österreichischen Grenze mich über den Besitz von fünf Gulden ausweisen. Ich schrieb nach Hause und bat die Pflegeeltern um eine letzte Unterstützung, die sie mir ins »Weiße Kreuz« nach Einsiedeln schicken sollten. Beim Aufstieg zum Gotthard wehte uns ein kalter Wind beständig seine Schneenadeln entgegen, so daß unsere Mützen mit dem Haar zusammenfroren und wir im Hospiz geraume Zeit hinter dem warmen Ofen sitzen mußten, bevor wir die Kopfbedeckung zum Gruß abnehmen konnten. Arg war es auf der 100 Straße, den Postschlitten immer und immer wieder auszuweichen und im Schnee zu waten, bis sie vorbei waren. Trotzdem ließ uns die grandiose Herrlichkeit des Hochgebirges, dessen Silberfirnen, von blauen Schatten abgegrenzt, uns von allen Seiten entgegenstrahlten, nicht gleichgültig. Die Bergkolosse, die ringsherum blitzblank in den blauen Himmel hineinragten, bestaunend, rief mein Weggenosse auf einmal aus: »Du, Heini, jetzt nimmt mich's nimmer wunder, daß der liebe Herrgott die Welt in sechs Tagen geschaffen hat, wenn er solche Brocken mit der Hand hinwerfen konnte!« Mich selber überkam der Schauer der Größe, und ich fühlte, daß noch irgendwo in meiner Seele ein Zusammenhang mit der Herrlichkeit Gottes vorhanden war. Ich lehnte mich vor ihr auf einen Felsblock zurück und schrie: »Herr, Herr, laß mich dich begreifen und weise mir den Weg durch das Dunkel dieses Erdentales; denn ich bin ein blinder Tor!«

Im Hospiz aber, wo man uns unentgeltlich und doch liebreich verpflegte, war's in der warmen Stube wie ein Auftauen in meinem Herzen. Ich ließ mir Papier und Tinte geben und schrieb einen Brief, den ich, trunken vom Glauben an mich selbst, also schloß: »Viele waren verworfen und sind doch erhöret worden. Agathe, ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!«

Und als ich den Umschlag sorgfältig zumachte, erfüllte es mich wie stolze Hoffnung, als hätte ich mich einer guten Macht verbrieft und versiegelt. 101

 


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