Adolf Vögtlin
Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale
Adolf Vögtlin

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14. Heimfahrt.

Es war im September. Auf dem Hauptplatz von Venado standen die Soldaten in Gruppen umher und ergingen sich in Mutmaßungen aller Art. Maximilian hat abgedankt! . . . Maximilian ist geflohen! . . . Nordamerika rückt mit mächtigem Heere heran! . . . Eine Kriegsflotte liegt bereits in Veracruz, um uns an der Einschiffung zu verhindern! . . . Etwas Außergewöhnliches mußte geschehen sein. 290 Tatsache war, daß alle höheren Offiziere der Belgier abgereist waren, indem sie ihre Truppen führerlos dem Schicksal überließen.

Es fielen merkwürdige Redensarten unter uns. Die einen wollten revoltieren, die andern die Waffen niederlegen; allein beides schien gewagt.

Der General Jeanningros schaffte Ordnung, sammelte seine Truppen und marschierte ab. Diesmal war das Wandern leicht; denn als Abgedankten ließ man uns das Gepäck nachführen. Er sorgte auch dafür, daß wir genügend Rasttage hatten und überall einquartiert wurden. In Dolores z. B. beherbergte uns ein großes, prunkvolles Kloster. In Queretaro, wo nicht viel später der Schlußakt des Trauerspiels von Mexiko mit der Erschießung des Kaisers gespielt wurde, drang man in uns, wir sollten uns neu anwerben lassen und zum mexikanischen Heere stoßen, indem man uns sofort den Unteroffiziersgrad anbot. Viele ließen sich verlocken.

Im Oktober erhielten wir, in Mexiko angekommen, unsere Zeugnisse, Medaillen und Pässe. Dreimal begab ich mich zum Palast, um den Kaiser noch einmal zu sehen. Auf der Straße merkte ich, daß hier eine andere Luft wehte als früher, und fing viele verächtliche Blicke von den Einwohnern auf. Überall steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten einander geheimnisvolle Dinge zu. Einen kaiserlichen Braten hätte ich mir gerne nochmals munden lassen; aber mit dem Kaiser hätte ich nur ungern den Stand getauscht. Er saß auf einem Pulverfaß. Wir hatten Befehl, alle Zusammenrottungen zu verhindern. Es mußten schlimme Berichte eingelaufen sein, die man 291 uns vorenthielt. In San Martino hatten wir die Nationalgarde zur Verstärkung mit uns zu nehmen, da die Gendarmen überfallen und gefangen genommen wurden.

Endlich rückten wir in Puebla ein. Nur noch wenige Tagereisen und wir waren auf der Eisenbahnstation und auf der Heimreise.

Wie wohl war uns! Viel wohler als vor zwei Jahren, da uns Bazaine mit drei Musikbanden entgegenkam. Gott! es gab wieder einmal Kartoffeln! Ein Engländer, namens Harrison, reicher Leute Kind, konnte sein Pferd verkaufen und spendete, bis er nichts mehr hatte; durfte er doch in Veracruz hundert Pfund Sterling erwarten.

Nun folgten beschwerliche Märsche übers Gebirge bis hinunter in die Tierra Caliente. Über den Cumbres nach Orizaba. Bei unserm Abmarsch vernahmen wir, daß wir den Kaiser hierher begleitet hatten, der sich ebenfalls wie seine Gemahlin nach Europa einschiffen wollte, da ihm der mexikanische Boden unter den Füßen brannte. Leider ließ er sich durch die Überredungskünste seines Hofkaplans, des württembergischen Jesuiten Fischer, zum Bleiben bestimmen. Kuriere von allen Farben reisten fast täglich hier durch, Minister, Generäle und andere Größen. Auch Truppen rückten an. Es wurde uns unheimlich.

In Cordova erhielten wir wieder täglich ein Quart Rotwein. Das verhinderte nicht, daß das gelbe Fieber Dutzende hinwegnahm. Täglich hatten wir mit zwölf Mann die Wache beim Platzkommandanten zu bestellen und wurden alle vierundzwanzig Stunden abgelöst; aber jedesmal hatten wir zwei bis 292 vier Gelbfieberkranke, die in das Spital verbracht wurden, um nicht mehr lebend herauszukommen. Niemand wollte mehr die Wache beziehen. Wer Geld hatte, kaufte sich einen Stellvertreter. So verdiente ich dreimal zwei Dollar.

Ein lieber Kamerad, der Badenser Günther, der aus Liebesgram von zu Hause geflohen war, freute sich kindlich auf die Heimreise, da er von den Seinigen einen Brief erhalten hatte, sie werden ihn versöhnt in Frankreich abholen; er erkrankte aber, als er zum letzten Male die Wache bezog. Es tat mir leid um den wackern, stillen Jüngling und ich tat alles, um ihn vor dem Eintritt ins Spital zu bewahren, vor welchem er mit Recht einen unüberwindlichen Abscheu hatte. Geld hatte er noch und so konnte ich ihm alles verschaffen, wonach er begehrte. Leider fehlte ihm der Appetit zu fast allem. Hoffnungslos lag er auf seinem Teppich. In der Morgenfrühe mußten wir abmarschieren, mit dem strengen Befehl, keine Fieberkranken mitzunehmen. Da war guter Rat teuer. »Wenn ich nur aufs Schiff komme, werd' ich gewiß wieder gesund,« beteuerte der Arme. »Wenn ich nur das Meer sehe!« Er beschwor mich um seiner lieben Mutter, fast noch mehr als um seiner Liebsten willen, ihn mitzunehmen.

Wir hatten nur noch einen Tagemarsch bis zur Eisenbahnstation. Abends konnten wir ihn bei der Visite des Arztes wirklich durchschmuggeln, so daß er nicht auf den Rapport kam. Da leuchteten seine Augen auf vor Freude.

Am Morgen bei der Tagwache galt mein erster Blick Günther; er konnte nicht aufstehen. Mörike 293 und ich hüllten ihn in einen Mantel und schafften ihn mit List auf einen Wagen, indem wir behaupteten, er sei fußkrank.

»Nur ans Meer! dann bin ich gesund!« stöhnte Günther. Dann mußten wir unserer Abteilung nacheilen.

Bei dem nächsten großen Halte sah ich nach Günther. Er war nicht mehr da, und einer behauptete, Günther habe sich entfernt. Der Adjutant, der den Schluß des Zuges überwachte, trieb mich, als ich bemerkte, es fehle einer, weg mit den Worten: »Vorwärts! Wegen eines Mannes bleibt niemand zurück. Jeder soll sehen, daß er nachkommt!«

Absichtlich blieb ich etwas zurück, in der Hoffnung, Günther irgendwo auftauchen zu sehen. Doch als der Rastort hinter dem Horizont hinabsank, schwand mir alle Hoffnung.

Als wir in Paso del Macho ankamen und unser Lager in einer regennassen Wiese aufschlagen mußten, eilte ich zum Wagen zurück, um Günthers Bündel zu retten, für den Fall, daß er in der Nacht nachkäme!

Folgende mexikanische Gendarmen brachten die Nachricht, sie hätten zwei unweit vom Wege liegen sehen, unfähig mitzukommen. Ich machte mich auf, während die andern schliefen, eilte zurück und fand ihn, indem ich häufig seinen Namen rief und lautlos auf Antwort horchte. Beim Morgengrauen brachte ich ihn ins Lager und hüllte ihn neben mir in warme Decken ein. Wie dankbar war er! Er wollte in der Heimat seinen schönen Hof mit mir teilen und verschrieb ihn mir am gleichen Tage noch. 294

In Veracruz als abgedankter Grenadier. Vor dritthalb Jahren war ich dort als neugebackener Rekrut. Jetzt harr' ich der Rückfahrt nach Europa, die Zukunft ein rosiger Traum, der sich erfüllen muß.

Ich ahne es. Damals eine Fahrt ins lebensgefährliche Reich kriegerischer Abenteuer; jetzt breitet sich der Friede vor mir aus wie das weithinglänzende Meer . . . das mich von der Geliebten trennt.

Die Gewehre wurden uns abgenommen. Wir waren Männer des Friedens und durften uns auf einem Postdampfer einschiffen. Wir fühlten uns reich, als arme Teufel das reichste Land der Erde verlassen zu dürfen! Und wie gönnten wir den Mexikanern ein freies Heimatland!

Freilich, wenn sie es nur frei machen könnten! Das war unsere Sorge, wenn wir an die Macht des Klerus dachten.

Nach Osten ging unser Blick.

Heimat, o Heimat, wie bist du so schön!

Leb wohl, du Land der Dornen und Stacheln, mit den weglosen Bergen, mit den Affen und Papageien, Schlangen und Alligatoren . . .

Leb wohl, du liebliches Venado mit deiner süßen Trinidatis! . . . Zum erstenmal nach achtundzwanzig Monaten wieder gut gekochte französische Kost, zum erstenmal wieder ein eigenes Bett, Kopfpolster und Wolldecken, ein reinlicher Schlafraum. Ich konnte zuerst nicht schlafen vor lauter Wohlbehagen. Dazu ein prachtvoller Himmel Tag und Nacht.

Am dritten Tage entdeckten wir, daß sich das Gespenst des gelben Fiebers mit uns eingeschifft hatte!

Günther, der liebe Günther, war sein erstes Opfer. 295 Zwei Matrosen nähten ihn auf einem Brett in ein Segeltuch ein, kaum daß sein Körper recht kalt geworden war. Zwei schwere Eisenstücke wurden ihm an die Füße gebunden, damit der Leichnam nicht aus der Tiefe des Meeres, in das er durch eine Luke hinausgeschoben und versenkt wurde, an die Oberfläche zurückkehre. Ein Schiffsoffizier murmelte ihm ein paar Abschiedsworte nach.

Arme Mutter, arme Braut! Ihr sehnt euch vergebens das Herz aus nach dem Geliebten!

Den ganzen Nachmittag saß und sann ich über den Dingen des Diesseits. Ich war Zeuge davon gewesen, wie der brave Mensch, der nun den Fischen ein Mahl geworden, in einer Reihe von Gefechten den Tod gesucht und nun, da er ihm hundertmal in offenem Kampf und tückischen Gefahren entronnen, das Leben so unaussprechlich lieb gewonnen hatte, daß seine Augen es voll Sehnsucht verzehrten. Mir selber, der ich es wahllos aus der Fülle der Leidenschaft empfangen und es aus tiefem, wenn auch unbewußtem Verdruß über meine Enterbung und Verstoßung hundertmal weggeworfen hatte, war es ebenso oft aus der milden Hand des Schicksals wiedergegeben worden. Ja, ich hatte, obschon es mir nichts mehr zu gelten schien, mich immer zu behaupten gesucht und darum gekämpft, die offene Brust den Pfeilen des Geschicks entgegenhaltend. Ja, erbeutet hatte ich es, nicht weil ich wollte, sondern weil ich mußte. Jeder hat seinen Dämon, dem er gehorcht.

Und so nahm ich mir vor, ihm fernerhin zu gehorchen und das Leben zu leben. Aber wohin ich blickte, sahen meine Augen, daß alles wirkliche Leben 296 in einer dem Organismus entsprechenden Umsetzung der Stoffe und Kräfte bestand, beim unscheinbaren Pflänzchen anfangend bis zu jenen Menschen, welche auf der Höhe der Kultur standen. Und nun ging mir ein Licht auf, wie mein Land noch völlig brachlag, wie ich es nicht bebaut, sondern die Zeit in fruchtlosem Spiel nach Knabenart vertändelt hatte. Und wie ich so saß und sann, umhüllte mich eine Traumwolke; ich sah den Gedanken, den ich gedacht, in einem Bilde. Agathe, die tausend Meilen fern von mir lebte, stand in göttlicher Unnahbarkeit vor mir und redete mit stummen Lippen zu mir: »Nicht wandern, sondern graben! Nicht in die Weite, in die Tiefe! Hilf mir!«

Die Welt hätte ich hingegeben, um sie zu umarmen. Und mein Herz war voll reiner Sehnsucht. Agathe hatte mich wieder.

*

Immer größer wurde das Lazarett, immer unheimlicher ward es auf dem schönen Schiff. Bald der, bald jener legte sich, um nicht mehr aufzustehen. Vera Cruz! hieß es nicht umsonst.

In Havanna, welchen Hafen wir zum Schrecken der Bewohner mit gelber Flagge anliefen, verkaufte ich ein Hemd, um doch von einem der vielen Händler, deren Barken unsern Dampfer umschwammen – ans Land durften wir nicht –, ein paar echte Havannazigarren zu erstehen.

Hier sah ich auch die ersten Sklaven, Chinesen und Neger, die unter den Peitschenhieben ihrer Aufseher auf einem schmalen Brett am Ufer Steinkohlen 297 auf unsern Dampfer in Kisten herübertragen mußten. Verkaufte Menschen! Wie freute ich mich in meinem fadenscheinigen Gewande, das all mein Hab und Gut vorstellte, der Freiheit als eines unerschöpflichen Reichtums!

Und doch! Diese armen Sklaven verrichteten eine nützliche Arbeit. Sie standen, wenn auch unwillig, im Dienst jenes riesigen Verkehrs, der dem Westen die abendländische Kultur vermittelt. Und es schien, als ob gerade die Arbeit, so schwer sie war, sie für die Freude fähig machte.

Auf dem Schiff wurde ihnen nämlich mancher gute Bissen zugeschoben, den sie bei der Arbeit in der Stadt oder in den Plantagen vermißten, Brot, Zwieback, Fleisch. Obendrein kochte man in der Schiffsküche einen dicken Reisbrei für sie, den ihnen der Koch einfach in die geleerten Holzkisten warf und den sie während des Laufens mit den Händen zum Munde führten. Zum Schlusse sorgte der Kapitän dafür, daß allen leer zurückkehrenden Kisten noch eine besonders schöne Portion Reis zugeteilt wurde, die sie dann am Land mit wahrem Genuß verschlangen, da ihnen hierzu nun auch die nötige Zeit gewährt wurde. Zum Danke brachen sie in Hurrarufe aus.

Auf dem Schiffe peitschte die Geißel der Krankheit alle fröhliche Stimmung nieder. Zwei Franzosen starben dahin, dann eine junge Mexikanerin, die einem Unteroffizier als Gattin gefolgt war. In lautem Weinen machte er sich Luft, um den Schmerz, der ihm die Brust zerwürgte, zu entfernen. Zwei Tage später war er selbst eine Leiche.

Das schauerliche Paketmachen wollte kein Ende 298 nehmen, und der vierte Teil der Passagiere war im Lazarett. Eine allgemeine Stumpfheit befiel diejenigen, welche von der Krankheit verschont blieben, die fröhlichen Lieder verstummten, die Sehnsucht nach Land! Land! steigerte sich von Tag zu Tag. Ein Ereignis war das Zusammentreffen mit einem Schiffe, das von Gibraltar kam, mit dessen Offizieren die unsrigen durch das Sprachrohr Grüße und Meldungen tauschten.

Endlich, im Dezember, schon wehten kalte Lüfte, landeten wir in dem französischen Hafen St. Nazaire, nachdem wir die Quarantäne bestanden hatten. Noch am gleichen Tage erhielt jeder die Marschroute, die er begehrte. Um die Gefahren eines allzu raschen Klimawechsels zu umgehen, begab ich mich mit einem der Brüder Mörike nach Nizza. Wiederum waren die Betten zu weich, als daß wir anfänglich hätten schlafen können. Es fehlte die harte Unterlage. Einen festern Schlaf schlief der Kaiser, dem wir gedient, als er anderthalb Jahre später zur Beisetzung im Friedhof zu Görz in Österreich hier übergeführt wurde, nachdem ihn Juarez in Queretaro hatte gefangen nehmen und erschießen lassen.

Über Turin kamen wir nach Como, wo wir eines Abends in einer Osteria einkehrten, um uns äußerlich und innerlich zu wärmen. Ein graubärtiger Zollwächter setzte sich zu uns, als er hörte, wie wir mit der Wirtin französisch sprachen, und fragte uns, woher wir kämen. Als wir ihm erzählten, daß der Kaiser wahrscheinlich schlimme Dinge erleben werde, da die Franzosen ihn im Stiche ließen und abzögen, da perlten dem alten Manne die Tränen in den Bart. 299 Mit Begeisterung und Rührung erzählte er, wie es unter Maximilians Statthalterschaft in der Lombardei eine herrliche Zeit gewesen, wie man ihn im ganzen Land geliebt und verehrt habe. Die Wirtin kam herbei, bestätigte die Aussagen des Graubarts und berichtete uns, daß die Kaiserin Charlotte in Rom geisteskrank geworden sei.

Der Laune des Polizeidirektors gehorchend, mußten Mörike und ich, als verschiedenen Ländern angehörend, uns hier trennen, so weh es uns tat. Ich teilte mit ihm, da er nichts mehr besaß, zum Abschied meine kleine Barschaft. Noch weiß ich, wie wir in dieser wehmütigen Abschiedsstunde uns aneinander aufrichteten. Wir hatten ein schweres Leben hinter uns und gleichsam dem Tod eine Nase gedreht. Sollten wir nichts von der Zukunft erwarten?

Wir waren in allen Ehren verabschiedete Grenadiere, geschmückt mit der mexikanischen Medaille; sollten wir keine höhern Ehren zu erwerben imstande sein? Wir waren ja noch im triebkräftigen Alter! Zuversichtlich schritten wir der Heimat zu, auf verschiedenen Wegen über die Alpen und den Rhein, mit dem festen Entschluß, brave Männer zu werden, dem frühern Leichtsinn zu entsagen, und ich schwor es Mörike in die Hand, daß ich als ehrlicher Arbeiter mich bescheiden wolle, wenn ich nur noch meine Lieben zu Hause antreffe.

In Lugano und Bellinzona, auch in den tessinischen Dörfern, fand ich überall freundliche Unterkunft, da ich vieles zu erzählen wußte; da und dort nahm mich ein gutmütiger Fuhrmann auf seinen Wagen und so 300 gelangte ich bei guter Witterung und ohne Mangel zu leiden zum Gotthard-Hospiz.

Jenseits des Berges war es rauh; aber in Altdorf und Schwyz, Zug und Zürich waren dafür die Menschen barmherzig und mitteilsam.

Endlich, endlich kam ich über den langen Berg, von dessen Höhe ich tief unten die smaragdgrünen Wasser des heimatlichen Sees liegen sah und jenseits derselben die trauten Dörfer im goldenen Schein der Abendsonne, die schmucken Kirchen auf ihren Hügeln sie überragend und im Glanz des Sees sich spiegelnd. Am Ausfluß des lichtflimmernden Wasserbeckens dann im goldenen Dunst ihrer traumhaften Schönheit die Tore und Türme, die aus laublosem Baumwerk hervorschimmernden Häusergruppen meiner Vaterstadt und den großen Münster. Dort mußte die Kirchgasse den Hügel hinaufsteigen und dort . . . dort . . . Es wollte mir weich werden ums Herz. Auf einmal aber fühlte ich Flügel an den Füßen. Sie trugen mich hinunter, ich wußte nicht wie und jenseits wieder die Kirchgasse hinauf, an den Herbergen und Erfrischungshäusern vorbei. Agathe, Agathe! sang es in meiner Seele, als wäre darin mitten im Winter der Frühling angebrochen, mit hundert zarten Stimmen.

Obschon ich halb erfroren war, nur schlechte Sommerkleidung trug und fast mittellos war – also übler daran, als zur Zeit, da ich Münster zum letztenmal verließ – wollte ich doch Agathe begrüßen, im Bewußtsein, innerlich ein anderer geworden zu sein. Die Reisläuferei und die eitle Wandersucht hatte ich nun doch gründlich überwunden.

Zu meiner Überraschung fand ich den Schuhladen 301 jedoch nicht mehr vor; ich suchte um ein paar Häuser auf und ab und erkannte dann, daß man die Schaufenster verändert und ein neues Magazin eingerichtet hatte, das nicht mehr in Engels Namen geführt wurde. Endlich erfuhr ich, daß Agathe den Laden schon längere Zeit, sofort nach dem Tode ihres Kindes, aufgegeben und Münster verlassen habe. In Paris oder London müsse sie sein.

Es wurde mir schwarz vor den Augen; aber nachdem ich in einer Wirtschaft eine Stärkung zu mir genommen, machte ich mich wieder auf den Weg zu Agathes Eltern. Ich brauchte das Berlingersche Haus nicht lange zu suchen. Allein, wie ich aufs die Haustür zuschritt, erkannte ich im Laternenschein einen gelben Anschlag an derselben, worauf die schaudererregenden fettgedruckten Worte standen: »In diesem Hause herrscht die Cholera!«

Das Haus war gesperrt.

So schloß mich das Schicksal selber zum zweitenmal aus dem Kreise derjenigen aus, die mir trotz allem noch einige Teilnahme bewiesen hatten, obschon ich sie nicht verdiente. Und hatte ich denn selber auch nur einen ernsthaften Versuch gemacht, etwas Besseres um das Schicksal zu verdienen? Alles hatte ich, wie bisher fast stets im Leben, auf den günstigen Zufall abgestellt, mich nicht um meine Leute bekümmert, sogar Agathe nicht mehr geschrieben, aus einer unbewußten Selbstüberhebung und dem Glauben heraus, sie werde mich jederzeit mit offenen Armen empfangen.

Aus einer dumpfen Betäubung tauchten solche Gedanken allmählich in mir auf. Ein arger Frost begann an mir zu rütteln und trieb mich in die 302 nächste Herberge, wo ich, unbekümmert um die Sorgen des kommenden Morgens, zu Tode ermüdet und stumpfen Sinnes, ins warme Bett kroch.

Am folgenden Morgen begab ich mich früh nach dem Absonderungshaus beim Spital, wo ich vernahm, daß meine Pflegeeltern in der Nacht der Epidemie erlegen seien. Ich ließ es mir nicht nehmen, sie bestatten zu helfen. Ich besorgte dieses düstere Amt, ohne Tränen zu vergießen oder meine völlige Verlassenheit besonders bitter zu empfinden. Vielmehr war mir dabei wohl ums Herz, als hätte ich den beiden Menschen, von denen ich wiederholte Beweise der Liebe erfahren, im Tode irgendeine Schuld abgetragen, welche ich vielleicht, wären sie am Leben geblieben, niemals getilgt hätte. Ich hatte die sanfte Empfindung, als müßten sie meinen Liebesdienst, den ich ihnen an Agathes Statt erwies, fühlen, und nahm ihr heiteres Lächeln, das durch die schwärzliche Hautfarbe seltsam gehoben wurde, dankbar als ihre Quittung für meine Schulden hin.

Vom Verwalter der Anstalt erfuhr ich auch Agathes Aufenthalt als willkommensten Überlohn für meine Pietät. Ich nahm mir vor, ihr zu schreiben, wagte es aber einstweilen nicht. Meine Unerschrockenheit gefiel dem Spitalarzt so sehr, daß er mich als Leichenbestatter anstellte. So kam ich schnell zu anständiger Kleidung, nahrhaftem Essen und schönem Verdienst. Überdies erhielt man beständig vom besten Rotwein in den Trauerhäusern, wo ich täglich einkehrte, vorgesetzt, was mir nicht wenig behagte. Doch hielt ich mich gut, tat meine Pflicht pünktlich und glaubte schon, endlich über den Teufel der Berauschung 303 triumphiert zu haben, indem ich nicht merkte, daß er mich schon wieder beim kleinen Finger gefaßt hatte.

Als die Epidemie im Erlöschen begriffen war, erhielt ich, vom Spitalarzt empfohlen, eine Stelle in einem großen Holzmagazin der Südbahn, mit der Aussicht, bei guter Haltung später Abwart im Hauptmagazin zu werden. Ich griff mit Freuden zu. Die Arbeit, obschon nicht gerade meiner Natur angepaßt, verschaffte mir Brot und warme Hände und konnte wohl geschirmt gegen die Unbill des Winters verrichtet werden.

Da immer noch mehrere Bahnhofarbeiter krank lagen, mußte ich eines Tages aushilfsweise Steinkohlen abladen. Ich wollte mich von den auf diese schwere Arbeit eingeübten Angestellten nicht beschämen lassen, nicht langsamer als sie erscheinen und überanstrengte mich derart, daß ich vor Schwäche auf dem Kohlenwagen plötzlich umfiel. In übergroßem Eifer schütteten meine Nebenarbeiter aus der in der Nähe stehenden Gießkanne mir Wasser über das kohlenstaubgeschwärzte Gesicht, daß ich einem Kannibalen gleichen mochte. Der Aufseher, der herbeieilte, bestätigte bei mir sofort Erkrankung an der Cholera, ließ sofort eine Tragbahre herbeischaffen und mich ins Absonderungshaus bringen, wo dann allerdings, nachdem man mich sauber gewaschen, festgestellt wurde, daß ich cholerafrei sei. Immerhin erhielt ich auf diese Weise sehr angenehme Ferien, da ich als choleraverdächtig drei Wochen lang nicht auf dem Arbeitsplatz erscheinen durfte. Nachher wurde ich Abwart im Hauptmagazin. Das ging so zu. Mein Vorgesetzter, 304 der Verwalter, hatte die Stelle einem Verwandten zugedacht, obschon er mir Hoffnungen machte. Ich reichte gleichwohl meine Bewerbung beim Betriebschef ein. Dieser erkundigte sich beim Verwalter, warum er mich nicht vorgeschlagen habe, und dessen Antwort lautete, weil er mich, seinen fleißigsten Arbeiter, im Holzmagazin nicht entbehren könne. Das hatte nun die glückliche Wirkung, daß ich als Abwart angestellt und damit auf einen ruhigen und einträglichen Posten zu stehen kam, um den mich mancher gelernte Kaufmann beneidete. Ich hatte das Bureau imstande zu halten und in der Stadt Aufträge zu besorgen. Aber gerade die Leichtigkeit, mit welcher ich mein Auskommen fand, die geringe Anstrengung, wurde mir zum Fallstrick. Die Ausgänge führten mich an zu vielen Wirtshäusern vorbei, als daß ich den Lockungen hätte widerstehen können; es war bald keine Seltenheit mehr, daß ich schon des morgens betrunken aufs Bureau kam, und einmal fand man mich in hilflosem Zustande auf den Eisenbahnschienen.

Wiederum war es aus mit Amt und Würden, wiederum mußte ich's mit der Fremde versuchen. Niemand war da, an dem ich einen Halt gefunden hätte; Agathe weilte in der Ferne. Doch gelang es mir, durch Verkauf meiner Habseligkeiten meine Trinkschulden zu bezahlen, und ich wanderte mit leichtem Gepäck, aber mit Überzieher, Handschuhen und Spazierstock ausgerüstet, eines Frühlingsmorgens Konstanz zu, wo ich von der großen Druckerei und Weberei der Gebrüder Herosé gehört hatte. Ich stellte mich dem Chef des großen Etablissements, der eben die 305 Zeitung lesend im Garten saß, geziemend vor und bat als Handlanger um Arbeit.

Herr Herosé musterte mich vom Scheitel bis zur Sohle, sagte dann langsam und Hoffnung erweckend, er könne wohl Arbeiter brauchen, aber, fügte er nachdrücklich hinzu, indem er meine Handschuhe ins Auge faßte, nur solche, welche schaffen können. Ich verstand den Wink, streifte meine Handschuhe ab und zeigte dem Herrn die harten Schwielen, die ich mir zur Winterzeit bei der Holzarbeit erobert hatte. Dies Adelszeichen wirkte. Herosé stellte mich an, und am nächsten Morgen war meine erste Beschäftigung, ein Schiff voll Torf auszuladen, wobei mein Herr beständig zugegen war und mich beobachtete. Er schien mit meiner Hantierung nicht übel zufrieden zu sein, fragte mich des weiteren aus über meine Vergangenheit und meine Neigungen und erfuhr dabei, daß die grobe Arbeit nicht meine Lieblingssache sei. Auf einmal sagte er: »Gut, versuchen wir's mit einer leichteren, bei der's aber etwas Kopf braucht!« Er bot mir den Vertrauensposten als Gehilfe des Koloristen an und führte mich alsbald zu diesem in die ganz neu eingerichtete Farbküche, wo in zwölf Kupferkesseln am Dampf die Farben gekocht wurden, welche man zum Drucken der Stoffe, meistens Taschentücher, benötigte.

Mit dem Koloristen Bach verkehrte ich bald in Freundschaft; nicht nur, daß wir die Woche hindurch wacker und mit wahrer Hingebung einander in die Hand arbeiteten, sondern er nahm mich jeden Sonntag nach Egelshofen, wo er mit Weib und Kind wohnte, und hielt mich auch beim Trunke frei. Bei 306 der Arbeit war er mir ein eifriger Lehrer, der mir nicht nur beibrachte, was zu tun und zu lassen sei, sondern zugleich auch erklärte, weshalb. Da ich jedesmal, wenn ich nach eigenem Willen etwas ankehren und etwa ein Verfahren abkürzen wollte, Enttäuschungen erlebte, glaubte ich ihm bald aufs Wort und nahm alle Weisungen und Anleitungen von ihm willig an. So wurde ich nach einem Vierteljahr bereits ein brauchbarer Gehilfe, dem er gelegentlich eine Arbeit gänzlich überlassen konnte. Um diese Zeit jedoch nahm Bach eine Stelle nach Pisa in Italien an, wo von einem Schweizer eine neue Fabrik eingerichtet wurde. Da die Farbenbereitung in jedem derartigen Geschäft mehr oder weniger Geheimnis ist, stetsfort an neuen Farben und Dessins herumgepröbelt wird, um mit immer schönerer und eigenartigerer Ware konkurrieren zu können, so sieht man einen Wechsel des Farbenkochs, der gewöhnlich auch etwas Chemie versteht, sehr ungern. Deshalb verschwieg Bach den Stellenwechsel so lange als möglich, um Auftritte zu vermeiden, führte mich in die Geheimnisse seiner Kunst ein und ließ mich alle Rezepte aufschreiben und auswendig lernen, so daß ich unter seiner Aufsicht selbständig arbeiten und nach seinem Austritt die Tätigkeit meines Lehrmeisters ohne Bedenken fortsetzen konnte. Im Laboratorium wie in der Farbküche war ich ordentlich bewandert. Angesichts der Mannigfaltigkeit in der Zusammensetzung, bei welcher ein paar Gramm Chemikalien zu viel oder zu wenig einen mächtigen Kessel voll Farbe unbrauchbar machen können, freute ich mich meiner Errungenschaften und wurde meiner Verantwortlichkeit mit 307 jedem Tage mehr bewußt. Es brauchten bloß einige tausend Tücher mit der fehlerhaft zusammengesetzten Farbe bedruckt zu werden und der Fehler erst bei der nachfolgenden Prozedur zum Vorschein zu kommen, so war ein enormer Schaden gestiftet. Wahrhaftig, ich fühlte einen freudigeren Stolz, als wäre ich Major geworden bei einer französischen Legion. Und die Wärme dieses Stolzes war nachhaltig.

Aus solchem Glücksgefühl heraus schrieb ich an Agathe, die als Erzieherin bei einer Pariser Familie in der Weltstadt lebte. Was alles in dem Brief stand, ist mir nicht mehr im Gedächtnis. Der Hauptzweck aber war, mich ihr in Erinnerung zu bringen und von ihr ein Wort der Anerkennung zu hören. Danach sehnte sich meine Seele.

Eine aufmunternde, Freude atmende Antwort blieb denn auch nicht aus; allein ebenso deutlich war ihre Meinung darin ausgesprochen, daß ich zu edlerer Arbeit berufen sei; sie sehe das gegenwärtig von mir verrichtete Amt nur als einen Notbehelf an; ich werde bald fühlen, daß mein Geist sich damit nicht zufrieden geben könne. Das Glück komme erst dann über den Menschen, wenn er einer Tätigkeit obliegen könne, die ihn in der innersten Seele befriedige. Sie erinnere sich noch immer mit warmer Freude der Stunden, da sie auf meinen Knien gesessen und mir in die Augen blickend, viel Schönes und Tiefes von meinem Munde gelernt habe. Ich möge es nicht vergessen, daß ich alle Reichtümer der Welt besitzen könne und doch ein armer Mensch dabei sein müsse, so lange ich mich nicht selbst gefunden habe.

»Mädchenhafte Phantastereien! Überspannte 308 Hühnerphilosophie!« dachte ich, als ich Agathes Brief gelesen hatte. Aber seltsam: je mehr ich den Kopf dazu schüttelte, wenn ich den lieben Brief wieder las, desto lebendiger wurde es darin von Gedanken, gerade so, wie wenn man mit dem Stock in einen Ameisenhaufen stößt.

Als ich mit Bach über die Sache sprach, sah er mich einen Augenblick prüfend an und bemerkte dann langsam: »Die ist nicht dumm! Am Ende könnte sie recht haben!« Das war nun ein neues Thema, über welches ich mit meinem wohlwollenden Lehrmeister häufig sprach.

Und je öfter ich es tat, desto deutlicher wurde ich es inne, daß mir Agathe, die als Lehrerin den Weg der Bildung eingeschlagen hatte, weit vorausgeeilt war und meinen Reichtum an bloßer Erfahrung überholt hatte.

Eines schönen Montags blieb der Lehrmeister für immer aus. Mein Chef, Gabriel Herosé, der allein etwas von Chemie verstand, war gerade in Frankfurt. Kein Wunder, daß ihm sein Bruder sofort telegraphierte und daß Gabriel die Sachlage für kritisch genug ansah, um sofort zusammenzupacken und nach Hause zu eilen, wo er am Dienstag samt Reisetasche, wie er vom Bahnhof kam, in die Farbküche stürzte. Als er sah, daß ich einige Kessel voll Farbe angesetzt hatte und braute, schrie er laut: »Abstellen, sofort abstellen! Ums Himmels willen, was machen Sie für dumme Streiche!«

Trotz meiner Versicherung, daß alles genau gewogen, gemischt und auf die richtige Temperatur erwärmt worden sei, mußten die Kessel geleert werden. 309 Für den folgenden Tag hatte ich zu den zu bereitenden Farben die verschiedenen Chemikalien schon alle genau abgewogen, als mir der Prinzipal strengen Befehl gab, nichts zu beginnen, ehe er selber dabei sei. Alles mußte alsdann genau nachgewogen werden. Und siehe da, es stimmte vollkommen. Nun war es meinem Herrn unbegreiflich, daß ich alles in so kurzer Zeit erfaßt und gemerkt hatte; obschon nichts fehlte, durfte ich jedoch vierzehn Tage lang ohne Aufsicht von seiten meines Prinzipals weder wägen, noch mischen, noch kochen. Als er dann sicher war, daß alles klappte, ließ er mich gewähren und verlangte nur, daß ich ihn, sobald ich irgendwo unsicher sei, erst fragen solle, bevor ich anrichte.

Als ich während der nächsten Wochen meine Sache gut machte, ohne daß ich ihn zu Rate zog, hielt er mich für einen rechten Hexenmeister. Mein Rezeptbuch, in welchem ich alles pünktlich aufgeschrieben hatte, ließ ich nie blicken. Da ich immer zum voraus wußte, was den folgenden Tag in Angriff genommen wurde, konnte ich abends die Rezepte gehörig studieren und mir alle Vorbereitungen gründlich überlegen. Immer wußte ich Bescheid und erregte bei meinem Herrn oft bewunderndes oder wenigstens verwundertes Kopfschütteln. Sicher aber war es, daß ich Tag für Tag bei ihm und seinen Mitarbeitern an Ansehen gewann und mich zu einem unentbehrlichen Gehilfen auswuchs. Abgesehen von den Oberaufsehern in den verschiedenen Zweigen der Fabrik hatte ich entschieden die unabhängigste und schönste Stelle. Nur der Chef des Hauses konnte mir befehlen, da sonst niemand die Zubereitung der Farben 310 kannte. So war ich also in verhältnismäßig kurzer Zeit, infolge der trefflichen Anleitung meines Freundes Bach, zu der Vertrauensstelle eines Koloristen vorgerückt. Allein gerade unter dem Einfluß Bachs war ich wieder meiner alten Leidenschaft anheimgefallen und ließ mein Geld in Wein und Bier aufgehen. Schon hatte mir mein Chef zu verstehen gegeben, daß er gehört habe, ich mache in den Wirtshäusern Schulden, und er dulde das nicht. Ich nahm den Wink entgegen und ging in mich. Da schlug ein böser Zufall dem Faß den Boden aus. Es war beim Besuche, den der Großherzog von Baden samt seiner Familie unsern Fabrikanlagen abstattete. Als die hohe Familie nämlich die Farbküche besichtigte, erklärte ihr der Chef des Hauses das Kochen der Farben. Der Großherzog trennte sich von der Gesellschaft, betrachtete die übrigen Gegenstände, darunter auch die in der Mitte stehende große Kufe, die mit einer dunklen Flüssigkeit angefüllt war, und fragte mich, was das sei. Ich erklärte bereitwillig, daß es eine Mischung von Alaun, Bleizucker usw. sei und Mordant genannt werde. Die Lösung sei zur Bereitung der meisten Farben unerläßlich und bilde gewissermaßen den Grundstoff. Kaum war ich mit der Darlegung fertig, so traten auch die andern Glieder des hohen Besuches herbei und die Großherzogin fragte Herrn Herosé ebenfalls, was sich in der Kufe befinde. »Das ist nur Wasser,« sagte er, um sich nicht lange dabei aufhalten zu müssen, da er den Besuch gerne länger in den interessanteren Räumlichkeiten der Druckerei und Weberei herumgeführt hätte und befürchtete, die Herrschaften könnten ihren 311 Besuch abbrechen, ohne das Interessanteste gesehen zu haben.

Nun gab sich aber der Großherzog mit der ausweichenden Auskunft meines Chefs nicht zufrieden und bemerkte ihm gerade heraus, ich hätte ihm soeben erklärt, da drinnen sei die Hauptsache, der Grundstoff gewissermaßen zu allen Farben, ob dem denn nicht so sei.

Der Chef erbleichte, faßte sich jedoch schnell und fragte mich: »Manesse, ist dieser Mordant schon angemacht?« Ich bejahte die Frage und Herosé entschuldigte sich, er habe geglaubt, es sei bloß das Wasser eingefüllt und bereit gestellt worden; dabei stieg ihm aber so glühende Röte ins Gesicht, daß die Herrschaften sich fragend ansahen.

Nachdem die Zeremonie vorbei und die großherzogliche Familie abgereist war, kam mein Chef in hellem Zorn zu mir, beschuldigte mich in groben Ausdrücken, ich hätte ihn jämmerlich bloßgestellt. Da ich mich vollständig unschuldig wußte, verteidigte ich mich. Er aber behauptete in einem fort: »Nun stehe ich vor der königlichen Hoheit zeitlebens als ein Lügner da!« Und es regnete Schimpfwörter auf mich herab.

Da brauste ich auf: »Herr Herosé, ich bin ein Mensch!«

Er aber schrie: »Ja, seit wann denn?« Und jetzt begann er mir meine vergangenen Sünden vorzuhalten, die ihm irgendwie hinterbracht worden waren.

Da konnte ich nicht mehr an mich halten und schrie ihn halb wütend und halb weinend an: »Sind Sie ein Mensch? . . . Warum halten Sie gebildeter Mann mir denn meine Sünden vor, für die ich 312 gebüßt habe. Wissen Sie, was ich gelitten, was ich ertragen, wie ich gerungen habe, um ein Mensch zu werden? Hab' ich Ihnen nicht treu und ehrlich mit ganzem Herzen gedient, war ich nicht Tag und Nacht um Ihr Geschäft besorgt? Und nun behandeln Sie mich wie einen schlechten Kerl! Warum nehmen Sie mich nicht für das, was ich bin? Bloß, weil Sie in der Eile eine Unwahrheit verbrachen! Wer von uns beiden ist der Unmensch?«

Da wurde Herosé von neuem bleich und sah mich mit stechenden Augen an. Die Hände ballten sich ihm, und einen Augenblick schien es, als wolle er tätlich werden. Dann ließ er die Arme sinken, wandte sich der Türe zu und sagte tonlos: »Lassen Sie sich den Lohn auszahlen bis heute über vierzehn Tage und dann packen Sie sich!«

So war ich denn neuerdings brotlos. Um mein Elend rasch zu vergessen, wandte ich mich, mit Hinterlassung nicht gerade beträchtlicher Schulden, die ich später tilgen wollte, München zu. Zu dieser Zeit wurde wie alljährlich das berauschende Salvatorbierfest gefeiert. Tag für Tag fand ich mich in dem wohlbekannten Brauhaus, jenseits der Isar, allwo das Trinken früh um sechs Uhr begann, um ohne Unterbrechung bis zehn Uhr abends zu dauern. Eine Schwadron Kürassiere hatte Befehl, die Ordnung in der Brauerei aufrecht zu halten. Jeden Abend sah ich mich in dem langen Zuge wankender Gestalten, der sich johlend nach der Stadt zurückbewegte.

Eines Tages saß ich wieder beinahe mittellos an einem der langen Tische, den edlen Gerstensaft in geübten Zügen schlürfend und einer böhmischen 313 Harfenspielerin lauschend, die ein Liedchen sang, das so recht für die Bevölkerung der Bierstadt paßte. Zuweilen traf mein Auge am nächsten Tische einen jungen Mann mit kräftigem blondem Vollbart, der auffallend häufig nach mir blickte, bis er sich endlich erhob, auf mich zukam und zu mir sagte: »Freund, wir haben uns auch schon irgendwo gesehen!«

Blitzschnell fuhr ich auf, als ich den wohlbekannten Klang der Stimme hörte und fiel dem Sprecher voller Freude um den Hals: »Mörike, du bist's!«

Es war wirklich mein Freund, mein Leidensgefährte in Afrika und Amerika, den ich seit unserer wehmütigen Trennung in Como nie mehr gesehen hatte. Mitternacht war längst vorüber, als ich ihn heimbegleitete. Sein Zimmer war zu ebner Erde an der Karlsstraße, und ich war seit Wochen da vorbeigegangen, ohne die Nähe meines Freundes zu ahnen. Als ich Abschied nehmen wollte, öffnete Mörike eine Kommode, entnahm ihr eine Brieftasche und überreichte mir einen Zehntalerschein mit den Worten: »Da nimm den! Schon längst hatte ich gewünscht, meine Schuld abtragen zu können.«

»Welche Schuld?« Ich war erstaunt und wollte nicht zugreifen. Da erinnerte er mich daran, daß ich in Como meine letzte Barschaft brüderlich mit ihm geteilt hatte, obschon der Rest nicht zu meiner Heimreise ausreichte. Gern, sagte er, gäbe er mir mehr, um mir meine freundschaftliche Handlung zu vergelten. Er freue sich sehr, daß er jetzt wenigstens so viel tun könne.

Noch öfter saßen wir zusammen. Er versprach mir auch, er wolle sich Mühe geben, um mir eine Stelle 314 zu verschaffen, die mir zusage. Einmal lud er mich auf einen Sonntagabend in ein feineres Restaurant ein. Als ich erschien, saß Augusts Bruder Hermann schon am reich gedeckten Tisch. Beide waren, so erfuhr ich jetzt, in guter Stellung. August, mein Freund, war eben Werkführer in einer Maschinenfabrik geworden und durfte daran denken, sich zu verloben, was er sich schon lange vorgenommen hatte.

Nach einiger Zeit erschien er mit einem freundlichen und schöngebauten Mädchen und stellte sie mir als seine Braut vor, wobei sie errötete.

Wir saßen und tranken und waren guter Dinge. Vieles gab's ja immer noch zu erzählen, da wir so weite Landstrecken gesehen und so vieles erlebt hatten miteinander. Ich merkte wohl, daß sie es darauf abgesehen hatten, mich zu bestimmen, irgendwo ansässig zu werden. Aber je deutlicher diese Absicht hervortrat und je mehr Vorschläge sie machten, desto übermütiger wurde ich, höhnte die Enge des spießbürgerlichen Lebens und pries die schöne Weite und Herrlichkeit der Welt, die einem zu Taten Gelegenheit gebe und freien Spielraum lasse. Darauf erzählte ich, wie August unter Gefährdung des eigenen Lebens mich einmal dem Lasso eines mexikanischen Reiters entrissen hatte. Als ich das ausführlich geschildert hatte, sah ich, wie es seiner Braut schmerzlich um die Lippen zu zucken begann. »August,« rief ich dann, »war das nicht ein großer Augenblick? Wirst du ihn je vergessen können? Nur in Kampf und Gefahr erweist sich der Mann!«

Ich glaubte schon triumphieren zu können.

Allein, da sah er mir fest ins Auge und sagte: 315 »Ja, Heinrich, wenn die Größe einzelner Momente unserem Glücke Dauer geben könnte, müßtest du sehr glücklich sein und nicht mehr unstet auf der breiten Erde umherschweifen. Allein das Glück, das dauernde, ist nicht dort und nicht hier, sondern allein im Herzen eines Menschen, der uns liebt und den wir lieben!«

Dabei schlang er den Arm um seine Geliebte; sie schlug die Augen nieder und legte ihr von zierlich gewundenen Flechten umglänztes Haupt an seine Brust. Und wie sie da wortlos weilte, sah ich, wie ihr große Tränen aus den Wimpern hervorquollen in übermächtiger Bewegung.

Da dachte ich an eine, die mir fern war. Mein Herz ging hoch. Ich wußte mich nicht mehr zu fassen. »Lebt wohl, lebt wohl!« schrie ich auf, »und werdet glücklich!« Und eh' sich meine Freunde dessen versahen, war ich hinausgegangen in die Nacht.

 


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