Adolf Vögtlin
Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale
Adolf Vögtlin

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5. Mit 30 Kreuzern nach dem Orient.

Meine bewegliche, weitfliegende Phantasie hatte einen Plan entworfen, ohne das stetere Herz zu Rate zu ziehen. Ich brachte es nicht über mich, dem mächtig wirkenden Drang in die Ferne zu gehorchen, fremdes Land mit unbestimmten Zielen aufzusuchen, ohne noch einmal zu jenem Stern aufzublicken, der eigentlich meine Sehnsucht war. Das fühlte ich immer, sobald ich den heimatlichen Boden betrat; und dann kam ich mir mit meinen zwecklosen Wanderungen als ein vergröberter Parzival vor, der, von träumerischer Sehnsucht nach irdischer Seligkeit erfüllt, es versäumt, sich nach dem ewigen Heil zu erkundigen, in die Irre geht und erst spät würdig erachtet wird, Hüter des heiligen Grals zu werden. Angezogen wurde ich unwiderstehlich von Agathe; aber mein eigenes Schuldgefühl verstieß mich immer wieder aus ihrer Nähe und wies mich in die öde Welt hinaus, an deren Härte ich meine Torheit erst abstreifen und abschleifen sollte.

Wie lange noch? Wie lange?

Kaum schlugen die trauten Laute der deutschen Muttersprache wieder an mein Ohr, so stand es bei mir fest: du mußt sie noch einmal sehen!

Als ich dann in Einsiedeln ankam und die gewünschte Unterstützung im »Weißen Kreuz« nicht vorfand, so war kein Zögern mehr. Noch am selben Abend brach ich nach Münster auf. Niemand um mich, als am blauen Himmelsgewölbe die flimmernden Sterne, kein Laut, als das Girren des hartgefrornen Schnees unter meinen Füßen. Dann und wann 102 schlug ein Hund an. Es kümmerte mich nicht. Ich eilte fürbaß, das Herz voll süßer Gefühle, den Kopf voll hoffender Gedanken.

Es war ein kalter, aber sonniger Morgen, als ich beim Hause meiner Pflegeeltern ankam. Durchs Fenster sah ich Berlinger mit seinen Gesellen bei der Arbeit sitzen, und beneidete ihn jetzt um die warme Stube, wagte aber nicht, bei ihm einzukehren, sondern schlich ums Haus herum, um irgendwo einen Blick von Agathe zu erhaschen. Da fiel mir ein, daß sie sich um diese Zeit in der Lehranstalt befinden mußte. In einer Wirtschaft, wo ich eine warme Suppe genoß, wartete ich auf sie, und als sie mit zwei Gefährtinnen die Anstalt verließ, folgte ich ihr in einiger Entfernung, immer darauf bedacht, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie sich von ihren Freundinnen trennte und einen einsamen Weg einschlug, eilte ich ihr nach und holte sie ein. Ich rief sie leise bei ihrem Namen. Sie kehrte sich um und stand still. »Gott, wie hast du mich erschreckt, Heini!« hauchte sie.

»Warum denn, Agathe!«

»Ich dachte eben an dich, wie du jetzt Not leiden müssest bei diesem kalten Wetter, vielleicht frieren und hungern. Da stehst du vor mir!«

Das rührte mich; allein ich hielt an mich und fragte sie:

»Du sorgst dich um mich? . . . Wie geht es dir und deinen Eltern?«

»Es ginge alles gut, wenn nur die Angst um dich nicht wäre, Heinrich! Sie wollen und können dir kein Reisegeld mehr geben, wollen überhaupt nichts mehr 103 von dir wissen, solange du deinen Lebenswandel nicht besserst.«

»Steht es so mit ihnen? Und so zwischen ihnen und mir?«

»Ja, aber wenn du um zwölf Uhr bei meinem Fenster vorbeikommst, kann ich dir helfen. Es sitzen dann alle beim Mittagessen.«

O, das stand ihr immer zu vorderst in den Gedanken: helfen! Ich wollte ihre Hand fassen, um ihr stumm zu danken; denn ich konnte nicht reden. Doch sie entzog sie mir und sagte leise:

»Bitte, verlaß mich jetzt; es könnte leicht jemand von meinen Vorgesetzten dazukommen und unrecht von mir denken!«

Das sah ich ein, sagte nur kurz:

»Ich danke dir, Agathe. Um zwölf Uhr!« und wandte mich rasch von ihr weg. Aber dann mußte ich bald stille stehen. Das Herz schlug mir in schweren Stößen und das Weinen würgte mich im Halse.

»Mutterlos! Heimatlos!« jammerte es in mir, und ich mußte an dem Pfosten einer Gartentür Halt suchen. »Und doch, und doch! Da war noch ein Wesen auf dieser Welt, das mir sein Herz geschenkt hatte, und es gab noch ein Glück für mich, ich mußte es nur redlich verdienen! Dort schritt es in lieblicher Gestalt leicht, aber sicher dahin!«

In dieser Zuversicht begab ich mich um zwölf Uhr hinter Berlingers Haus, das ich so lange als mein Vaterhaus betrachtet hatte und dem ich nun für immer fremd werden sollte. Als ich um die Ecke bog, schwirrte eben ein Flug rostbrauner Tauben auf, denen Agathe Brosamen in den Schnee streute. Ich 104 hatte die Tierchen aufgestört und wollte stillstehend zuwarten, bis sie sich wieder vertrauensvoll niederließen. Agathe hatte mich bemerkt und flüsterte mir zu: »Komm nur! Die finden ihren Futterplatz schon wieder!« Dann ging sie ins Zimmer zurück, und als sie wiederkam, reichte sie mir, in einem Papier eingewickelt, ein paar schwere Geldstücke aus dem Fenster, ihr Erspartes. »Da nimm, Heinrich, und mach das Beste daraus. Gott behüte dich und führe dich wieder zu mir, sobald dein Herz sich nach meinem Schwesterherzen sehnt.«

Ich griff nach ihrer Hand, tat, was mir in Österreich als etwas Ungewohntes lächerlich erschienen war: ich drückte einen Kuß darauf. Agathe zog mich an sich, faßte mich am Kopf und küßte mich wie segnend auf die Stirn. Taumelnd vor Freude ging ich von dannen, nachdem sie das Fenster geschlossen und mir noch einmal Abschied gewinkt hatte, und mit leichtem, ja fröhlichem Herzen nahm ich den Weg unter die Füße, als hätte mir die Liebe selbst und nicht die Stadtkanzlei ein neues Wanderbuch ausgefertigt.

*

Nun zieht er, frisch aufgetakelt, äußerlich ein forscher Geselle, in silbergrauer Manchesterkleidung, die der Unbill des Wetters besser trotzte als seine Seele den Anfechtungen der Welt, an einem Sonntag früh im Februar die Landstraße von Lachen am Zürichsee gegen Weesen dahin. Ein großes blauseidenes Halstuch ist vorn keck zu einem Matrosenknoten geschlungen; mit dem Stock in der Rechten, greift er rüstig aus und mit der Linken läßt er, 105 wenn ihm jemand begegnet, ein rotes Taschentuch flattern, aber nicht etwa, um sich Kühlung zuzufächeln oder den Schweiß abzutrocknen, sondern um die frischen, nicht unbeträchtlichen Blutspuren auf Weste und Hosen zu verdecken. Alle Mühe, die er sich am Brunnen gegeben, um diese verdächtigen Makel zu tilgen, waren umsonst gewesen. Darum spähte er jetzt im Dorfe an allen Häusern empor, ob er irgendwo die Firmatafel eines Schneiders entdecken könne. Schnurstracks ging er auf ein bescheidenes Häuschen zu, stieg die Treppe hinan, und trat in die Werkstube des Inhabers. Hier war es so still und feierlich und aufgeräumt wie der heilige Tag selbst. Hier wurde nicht, wie in so vielen Stuben, drauflos genäht und gebügelt, alles war sauber gescheuert und die Sonne spiegelte sich behaglich auf dem, was da glänzte.

Der dampfende Kaffee duftete wetteifernd mit einem großen Teller voll goldigbraun gebackener Kartoffeln auf dem Tisch. Zwei Kinder bestaunten neugierig den Eindringling; die sonntäglich geputzte Hausfrau war mit einer weißen Küchenschürze angetan und fragte den Jüngling in freundlichstem Ton, als hätte der große Menschenfreund Jesus ihn ihr selbst eingegeben, nach seinem Begehren. Ehe dieser mit einer Antwort bereit war, erschien in der Nebentür der Schneidermeister, der soeben seine sonntäglichen Beinkleider angezogen hatte und jetzt wahrscheinlich kam, um sich von seiner Ehefrau im brettsteifen Hemd die Knöpfe eintun zu lassen; doch wie er den Fremdling erblickte, zog er die Tür wieder zu und rief dem einen Kinde zu, es möge ihm die Schuhe bringen. Da eilte die Frau selber mit dem 106 Verlangten hinaus, wie es schien, arg erschreckt; denn sie hatte auf den Kleidern die Blutspuren entdeckt. Bald darauf trat der Meister mit ernster Miene ein. Die Frau rief die Kinder zu sich, denn es lag bei ihr außer Zweifel, daß da etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein müsse. Deshalb wollte er zuerst allein mit dem Fremden sprechen. Die Kinder gehorchten, die Frau stellte noch schnell das Frühstück in das warme Ofenloch, vermutend, es setze eine längere Unterhandlung ab. Nun fragte der Meister den Jüngling, was er wünsche. Und dieser erzählte: »Auf der Herberge zu Lachen wollte ich übernachten. Da traf ich mit zwei Reisenden zusammen, die ich einige Tage zuvor in Einsiedeln kennen gelernt, und war darüber so erfreut, daß ich ihnen gleich einige Maß Apfelwein bezahlte. Man wurde lustig und fing an zu singen, und gleich füllte sich die Zechstube mit Ortsbürgern; auch zwei Polizisten fanden sich ein. Wir schlugen immer forschere Melodien an und wähnten, die Bürger seien gekommen, um sich an unserer Lustigkeit zu weiden. Als der zweite Polizist eintrat, empfingen ihn die zwei Gefährten mit dem höhnischen rotwelschen Gaunerlied:

Hinter der Kammertür
Hangen drei Ochsengeschirr,
Kommen drei Schucker rein,
Die spannt man ein.
Den Brigadier unterm Sattel,
Den Schucker an die Hand,
Und den Stationsmichel voraus,
Weil er gar so doft spannt. 107

Ich wußte nun, mit wem ich es zu tun hatte, und verhielt mich schweigend. Als sie hernach das Lied anstimmten: ›Ein freies Leben führen wir‹, sang ich mit; da gab mir einer der Bürger einen leichten Puff mit der Faust und schrie:›Man hat gut singen vom freien Leben, wenn man vom Betteln und Stehlen lebt.‹

Hierauf fragte ich etwas herausfordernd: ›Unter was für eine Sorte von Leuten sind wir denn geraten, daß wir um unser gutes Geld nicht mehr lustig sein dürfen?‹

Der hinter mir stehende Metzgermeister gab mir mit der verkehrten Hand statt jeder Antwort eine solche Maulschelle, daß mir das Blut aus Mund und Nase sprang und ich ohnmächtig vom Platze getragen wurde.

Heute morgen erzählte dann die Frau Wirtin, daß die Bürgerschaft aufgeregt gewesen sei, weil einer meiner Kumpane einem Schneidermeister eine funkelnagelneue Kleidung gestohlen, die dieser an seiner Ladentür ausgestellt gehabt habe. Die Polizei habe ihn mitgenommen, ich dagegen sei auf ihre Fürsprache als ein unschuldiger, junger Bursche, der nur zufällig mit diesen Gaunern zusammengetroffen, frei ausgegangen und zu Bette gebracht worden. Die gestohlene Kleidung habe man in einem Baumwipfel hängend gefunden.

Ich hätte mich geschämt, einem Einwohner von Lachen zu begegnen und verließ deshalb das Städtchen heute so früh als möglich. Aber nun, lieber Meister, seid so gut, und reinigt mir die Kleider. So kann ich nicht weiterziehen, und ich bezahle, was es kostet.« 108

Der Schneidermeister schüttelte bedenklich den Kopf und fragte nach dem Namen des Erzählers.

»Heinrich Manesse heiße ich und bin aus Münster.«

Dann verlangte er das Wanderbuch zu sehen, blickte hinein und sagte: »Es stimmt!« fuhr aber in ernsthaftem Tone fort: »Junger Mann! Was Ihr mir da erzählt, kann wahr sein, es kann aber auch erlogen sein, und darum will ich nichts mit der Sache zu tun haben. Blut an fremden Kleidern abzuwaschen, ist immer etwas Heikles. Auch würde Euer schwerer Manchesterstoff kaum vor Abend trocknen. Ihr habt keine andern Kleider bei Euch und könnt doch nicht so lang im Hemd dastehen. Ferner ist es heute Sonntag, da wird bei mir grundsätzlich nicht gearbeitet, denn das ist der Tag des Herrn; was dem lieben Gott gehört, will ich ihm nicht wegstehlen.

Wie Ihr seht, sind wir gerüstet, um zur Kirche zu gehen. Das kann und will ich nicht versäumen um meiner lieben Kinder und meiner eigenen Seligkeit willen. Ich kann Euch nicht helfen, bedaure euch aber wirklich, daß Ihr als junger Mann den Vorabend des heiligen Tages in solch schlechter Gesellschaft zubringt. Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist, heißt ein Spruch.«

Der Schneidermeister rief seiner Frau, sie möge das Frühstück auftragen, und lud mich dazu ein. So sehr ich vor den Kindern befangen war, da sie immer mein blutiges Kleid betrachteten, nahm ich an. Jetzt sagte er zu seiner Frau: »Nicht wahr, Lisbeth, du bist auch meiner Meinung: den Sonntag dürfen wir nicht entheiligen?« Da gab die überaus gutmütig 109 aussehende Frau ihm zur Antwort: »Lieber, denk an Lukas 10. 33.«

Anstatt Aufklärung zu geben, kehrte sie sich um und nahm vom Schafte hinter ihr die Bibel, schlug sie auf und gab sie ihm zu lesen, wobei sie holdselig lächelte. Er las still, schaute sein liebes Weibchen an, reichte ihr die Hand über den Tisch und sagte: »Du hast recht!« Man verzehrte wortlos das Frühstück, ein Kind betete den Dank. Dann holte der Schneider eine Kleidung aus dem Schrank und führte mich in eine Kammer, wo ich mich umkleiden sollte. Als ich in die Stube zurückkehrte, war der Schneider im Arbeitsraum, und Mann und Frau wetteiferten miteinander, mir das Kleid zu waschen. Endlich siegte er und die Frau ging mit den Kindern zur Kirche.

Während er emsig wusch, saß ich auf der Ofenbank und erzählte ihm vieles aus meinem Vorleben. Er benützte jede Gelegenheit, um mir wohlgemeinte Lehren zu geben, und so wurde es Mittag. Die Schneidersfrau kehrte aus der Kirche zurück und war zufrieden, als sie hörte, daß die Kleider bereits zum Trocknen an der Ofenstange hingen. Als dann das ältere Mädchen bei Tisch zu beten anfing: »Aller Augen warten auf Dich, o Herr« wurde mir ich weiß nicht wie zumute. Die zartesten Erinnerungen aus meiner Kindheit wurden in mir rege und umgaben mein Herz mit ihrer Weichheit. Mir war, als hörte ich Agathe beten; das Gefühl übernahm mich so, daß ich aufschluchzte: »Meister, wär' ich doch ein Schneider und könnte bei Euch bleiben!« So sehr hatte es die Liebe dieser Menschen und ihr freundlicher Verkehr untereinander mir angetan. 110

Nach dem Essen sprachen mir die braven Leute wacker zu, vom Wege des Verderbens umzukehren, wozu ich immer noch jung genug sei. Ich sollte, meinten sie, von meiner Orientreise abstehen, einen christlichen Lebenswandel anfangen, seßhaft werden und arbeiten. So werde man glücklich auf Erden.

Er wies mein Geld zurück, als ich seine Arbeit bezahlen wollte, und begleitete mich noch ein Stück Wegs vors Dorf hinaus. Ein Schlitten kam unter munterm Schellengeläut daher. Wir drückten uns an den Straßenrand und mein Gastgeber hielt immer noch meine Hand in der seinen, um mich auch äußerlich zur Umkehr, zur Umkehr in die Heimat zu bewegen. Ich war bereit, ihm zu folgen. Aber als der Schlitten näher kam, erkannte ich in seinem Lenker zu meinem Schrecken meinen Nachfolger im Kurzwarengeschäft des Herrn Fischer zu Münster, der sich auf einer Geschäftsreise befand. Als er an uns vorbeifuhr, rief er dem Schneider, den er mit Namen nannte, zu: »Siebner, da habt Ihr mit einem saubern Vogel angebändelt! Gebt acht auf Eure Hosentasche!«

Der Schneidermeister ließ meine Hand fahren, als wäre ich der Gottseibeiuns, und ich, der ich mich eben unter diesen guten Menschen heimisch gefühlt hatte, war wieder aus ihrer Gemeinschaft verstoßen und wanderte unsäglich traurig der österreichischen Grenze zu.

In Feldkirch befaß ich noch ganze dreißig Kreuzer. Das war das Vermögen, mit welchem ich nach dem Orient reisen wollte. Ich floh die Heimat, wo meine Jugendsünden mich wie Gespenster verfolgten. 111

Über Vorarlberg durchs schöne Land Tirol war es ein angenehmes Reisen; da die Leute im allgemeinen freigebig sind, waren sie es zur Zeit der Fastnachtspiele doppelt, und dann gab's überall Klostersuppen, wenn auch schlecht, so doch viel.

Nun aber stellte sich für die Weiterreise ein Hindernis ein. Die Hauptstraße von Innsbruck nach Salzburg führt bei Reichenhall etwa drei bis vier Stunden durch bayrisches Gebiet. Als ich bei Wasserberg wieder österreichischen Boden betreten wollte, wurde ich vom Grenzjäger zu einem höheren Beamten geführt, bei dem ich mich über den Besitz von Schriften und Reisegeld ausweisen sollte. Da ich nur einige Kreuzer besaß, wurde ich über die Grenze zurückgewiesen, gelangte aber dennoch nach Wien, wo ich mich aus den fünf Gulden, die ich vom dortigen Konsul erhielt, einige Tage erholen und mir die schöne Kaiserstadt besehen konnte, worauf im Staatsschatze wieder Ebbe eintrat. Doch schlug ich mich bis nach Preßburg behaglich durch, nur daß ich immer im Freien übernachten mußte. In Stockungarn dagegen war ich als Deutscher schon mehr auf Dornen gebettet. Die Ungarn haßten unsere Sprache, waren selber geplagte Leute, da sie unter dem Joch der Juden seufzten.

Über Raab und Waitzen, das mit seinen vielen Schiffsmühlen einen eigenartigen Anblick gewährte, kam ich nach Gran, wo ich wieder Floßgelegenheit fand, die mir bis Pest sehr willkommen war.

Bis Maria Theresiopel passierte mir nichts Erwähnenswertes, als daß ich auf einem Floß zweimal Schiffbruch litt, da der Steuermann ganz 112 unzuverlässig war. Ein Böhme teilte das Schicksal mit mir, dann ein Welschtiroler, seines Zeichens ein Hutmacher, der mir viel Spaß machte und eine treue Seele war. Er lehrte mich den Zunftspruch, den man, Arbeit suchend, den Meistern peinlich genau hersagen mußte, und unterrichtete mich, wie man auf die Fragen der Meister zu antworten hatte, um sich nicht verdächtig zu machen. Wir lebten aus gemeinschaftlicher Kasse und keiner suchte irgendwie den andern zu übervorteilen.

Vorn auf seinem Rock hatte dieser Hutmacher ein großes Loch, das ihm die Mäuse hineingefressen hatten. Überall wo man eintrat, wurde diese Blöße natürlich sofort beachtet, und dann war es urkomisch, wenn der Welschtiroler in seinem gebrochenen Deutsch erklärte: »Die Mies hat mir gefressen das Rock!« Niemand verstand ihn und wenn man ihn dann so fragend anblickte, fuhr er schnell weiter mit der Frage: »Sie nicht weiß, was ist die Mies?« und erörterte umständlich: »Der ganz kleine Tier, wo spazier in der Stub, wo freß der Katz!«

Daß ich kein Hutmacher war, mich aber als solchen ausgab, schien ihn nicht zu drücken; aber daß ich keinen Hut besaß, das ärgerte den Zünftler, und ich belächelte ihn wegen der Äußerlichkeit seiner Anschauung. Dabei bedachte ich gar nicht, vielleicht weil sie gar zu häufig gebraucht wurde, daß ich mit der falschen Angabe, ein Hutmacher zu sein, einen viel gröbern Verstoß gegen das beging, was Sitte und Recht hieß.

Ich sollte es auf grausame Weise inne werden. 113

*

Lange Tage durchquerten wir mächtige Wälder, kämpften uns durch diebisches Zigeunervolk hindurch, das zum Teil in unterirdischen Dörfern hauste, und überwanden die tödliche Langeweile der Wanderung durch Öde und Wildnis. Je näher wir aber dem großen Dorf Hatzfeld kamen, desto besser erging es uns. Hier ernteten wir an einem Tage von den Bauern über zweihundert Eier, zwei Taschentücher voll Mehl und wohl ein Dutzend Speckstücke. Da wußten wir wieder, was Prosit Mahlzeit! heißt. In der Gegend von Temesvar kamen wir durch einen Völkerwirrwarr von Stockungarn, Tschechen, Serben oder Razen und Kroaten und freuten uns darauf, wieder einmal das Weichbild einer geordneten, sauberen Stadt zu betreten. Denn wir wußten zum voraus, daß unser beim Verlassen des Banats in dem weniger guten Siebenbürgen und vollends in der wilden Walachei noch schlimme Tage harrten. Besondere Entbehrungen und Beschwerlichkeiten stellten uns die Reisenden für Bessarabien in Aussicht, wogegen das Land der Pußten und des Paprikas ein Paradies sein sollte. Das klang nicht gerade verheißungsvoll, wenn wir uns die schier endlosen steppenartigen Ebenen vorstellten, die wir bei heißer Tageszeit, vom Durst gequält, durchwandert hatten.

Sollte es von Vorbedeutung sein, was wir einen Tagemarsch vor Temesvar erlebten?

Wir schleppten uns, vom Wandern ermattet, auf der einförmigen Ebene dahin, auf der die Hitzwellen zitterten. Nirgends winkte das Grün eines Waldes, nirgends rauschte ein Fluß, nirgends murmelte ein Wasser. Kein Schatten, kein Luftzug, nichts als Licht 114 und Wärme ausstrahlender sandiger Boden ohne Rasen! Wir glaubten verschmachten zu müssen. Keiner sprach mehr ein Wort, schlaff und schwer gingen die Schritte. Da! was war das? Plötzlich ward die Erde blau wie der Himmel, und darin tauchte ein grünes Tal auf mit einem See, in welchem sich die Bäume und weidende Tiere abspiegelten, nur alles verkehrt. War unser Auge überreizt? Aber woher war denn das Bild gekommen, das sich so lieblich vor uns ausbreitete, obschon wir die weite Strecke her nichts Grünes gesehen hatten?

Wir glaubten uns in die süße Heimat zurückgezaubert. Wunderbar, wie uns der Anblick stärkte! Wir strengten unsre Kräfte an, um so bald als möglich an den Rand dieses Paradieses zu gelangen. Aber wie wir näher kamen, schwand vor uns das grüne Feld, und der See und die Bäume waren geflohen und die Tiere davongegangen. Immer wieder Sand und Sand!

Es war ein Gaukelbild, eine Luftspiegelung.

Endlich, als wir, zu Tode gehetzt, in die Festung Temesvar einzogen, begegnete uns ein Zug Gefangener, die an den Füßen schwere Ketten trugen. Schauerlich klirrten diese über das Pflaster dahin.

Den Beutel leer, den Magen voll Hunger, fühlten wir uns im Vollbesitz der Freiheit glücklich und waren gerüstet, den Kampf ums Dasein neuerdings aufzunehmen, nachdem wir eben schier verzweifelt waren. Ach, wie war es uns wohl in der schmutzigen Herberge »Zu den drei Laubfröschen«!

So verlockend es gewesen wäre, als der Zunft der Hutmacher angehörend, Obdach und Verpflegung 115 umsonst zu erhalten, wagte ich es nicht mehr, unter fremder Flagge zu segeln, im Glauben, die Schriften würden mir abverlangt. Als das nicht geschah, bereute ich meine allerdings von der Furcht eingegebene Redlichkeit.

Arbeit war fast überall, allein mein Freund behauptete, er sei nach Hermannstadt eingeschrieben.

Während dort alles reitet, tappten wir zwei auf Schusters Rappen vorwärts, tagelang nur von Wasser, Brot und gelegentlich etwas Milch lebend, da wir häufig von den Hütten der meist armen Leute wie räudige Hunde weggewiesen wurden. Aber einmal erging es uns herrlich.

Wir klopften bei einem einfachen Häuschen an und baten um ein Nachtlager. Ein junger, schöner Walache mit seinem ebenfalls jungen, hübschen Weibchen erschien in der Tür, besah uns, erkannte unser Elend, und hieß uns in die Stube treten. Junge Bauern kamen vorbei, um mit den offenbar Neuvermählten ihren Spaß zu haben. Einer davon wollte dem andern die Haare schneiden, tat es aber sehr ungeschickt, so daß sich mein Hutmacher anerbot, die Sache besser zu machen. Es gelang ihm und er gewann das Zutrauen der andern so, daß er es auch ihnen schneiden durfte. Dafür brachte uns der eine ein Fläschchen Slibowitza (Zwetschenschnaps), der andere ein Fläschchen Öl, das wir gegen die Kälte trinken sollten, wie es dort Brauch ist.

Als die Bauern fort waren, bat die junge Frau meinen Freund, er möge auch ihren Mann in die Kur nehmen, gab ihm bei der Arbeit immer und immer wieder zu verstehen, daß er die zwei Locken 116 bei den Ohren und die zwei, welche links und rechts in den Nacken hinunterhingen, ja nicht wegschneiden solle. Um sicher zu sein, faßte sie die Schmuckstücke in die Hände und behielt sie während der ganzen Operation, indem sie ihren Liebling damit streichelte und koste. Beide waren dann so zufrieden mit der Kunstleistung des Tirolers, daß sie uns mit Mamelika (gekochtem Mais), Fischen, Eiern und Slibowitza traktierten und wir wohllebten wie seit Monaten nicht. Dann luden sie uns ein, auf dem großen Tisch, wo sie Pferdedecken ausbreiteten, unser Lager zu nehmen.

Wir hätten ihnen am andern Morgen gerne gedankt für ihre liebenswürdige Gastfreundschaft. Da uns die Worte fehlten, nahmen sie mit dankbaren Blicken vorlieb.

Das Elend, das nachher folgte, war die Wüste nach der Oase. Wir atmeten erleichtert auf, als wir in Hermannstadt ankamen. Endlich, endlich wieder unter Deutschen!

Es war Ostersamstag mit zwei nachfolgenden Feiertagen. Da die Hutmacher über diese Zeit auf der Herberge freigehalten werden müssen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mich als Hutmacher ins Fremdenbuch eintragen zu lassen. Gott, ich wollte wieder einmal ein Mensch sein und leben.

Am Abend kam der Altgeselle und fragte, ob fremde Hutmacher da seien, was wir bejahten. Jetzt waren wir nicht mehr verlassen. Er war verpflichtet, bei uns zu bleiben und uns bewirten zu lassen. Aber er hatte auch Arbeit anzutragen, und zwar bei den vornehmsten Meistern, den Herren Engel und Schwarz. 117 Die Besitzerin einer deutschen Konditorei schickte uns, als sie am Morgen von unserer Anwesenheit hörte, einen ganzen Korb voll Leckwaren, daß wir unter den Wirtsleuten die großmütigen Spender spielen konnten. Süß ist das Leben!

Bald folgte der Wermut! Wir beide waren als Arbeiter eingestellt worden, und während wir die Stadt besichtigten, hatten die Meister unsere Felleisen samt den Wanderbüchern von der Herberge holen lassen. Da war guter Rat teuer. Ich dachte an den Zug der Gefangenen in Temeswar; wenn ich nicht ihr Schicksal teilen wollte, gab es keinen andern Ausweg, als mich zu flüchten, ehe der Betrug, den ich halb aus Not, halb aus Waghalsigkeit verübt hatte, an den Tag kam. Ich war rasch entschlossen und floh, alle Habseligkeiten und das Wanderbuch zurücklassend, obschon ich gehört hatte, daß man ohne Schriften nicht durch die Walachei komme. Mein Freund versprach, mir bald nachzufolgen.

Da von Siebenbürgen aus über Kronstadt ein starker Handel mit Landesprodukten nach den Donauhäfen und bis nach Galatz und Bukarest getrieben wurde, faßte ich gleich Hoffnung, mich mit einem Frachtwagenzuge durchzuschleichen, was mir auch unter Anwendung von allerlei Listen und Opferung des Nachtschlafes mehrmals gelang. So fehlte es mir nicht an bangemachender Aufregung, um so mehr, als mein treuer Kamerad mir nicht nachkam. Ich wanderte zur Nachtzeit und schlief tagsüber im Walde.

In einem dem Namen nach mir nicht mehr erinnerlichen Dorfe stand richtig wieder einer bereit, mir den Paß abzuverlangen. Ich hatte den Eindruck, 118 derselbe habe seine Weisheit nicht aus dem Gymnasium geholt, und wagte dreist eine Übertölpelung. In der Tasche trug ich noch einen Abschied von meinem Regiment in Neapel. Der konnte mich hier retten, obschon oder weil er italienisch geschrieben war. Ich wies ihn vor. Der Hüter des Gesetzes buchstabierte eine Zeitlang an der Entzifferung herum und schüttelte einige Male den Kopf. Da machte ich ihm weis, daß ich Soldat sei und nach Bukarest müsse, worauf er mich laufen ließ. Im Dorfe selbst war eine Prozession im Gange. Der Priester erteilte von Haus zu Haus seinen Segen. Zwei Männer schritten ihm voran, an einer Stange große Eierbrotkränze tragend. In einem Hause wurde ein solcher abgegeben, im nächsten bekamen die Männer einen oder zwei zurück. Ich wußte nicht, was das bedeuten sollte; wohl aber kam mir angesichts dieser duftenden Brote das Bewußtsein des Hungers in solcher Verschärfung, daß ich trotz der gaffenden Menge um ein solches bat. Und bald bekamen meine Kauwerkzeuge wieder einmal Arbeit, und ein kleines Weibchen hatte den glänzenden Einfall, mir dazu noch eine Schale Milch zu spenden, worauf ich dankend gestärkt weiter zog.

Mein Herz schwamm in froher Zuversicht. Als mich die Wache am andern Ende des Dorfes anrief, hob ich voll Übermut meinen halben Eierkranz in die Höhe, als ob ich nicht wüßte, was der Mann von mir wolle, und siehe da: der halbe Eierkranz tat seine Pflicht! Man ließ mich unbehelligt passieren. Im dritten Dorfe ging es leidlich gut. Im vierten mußte ich wieder alle Kunst der Diplomatie anwenden, 119 um durchzukommen. Da keine Brücke über den Fluß führte, mußte ich mich vom Fährmann übersetzen lassen, und da ich diesen nicht bezahlen konnte, wurde ich vor den Ortsvorstand geführt. Niemand wurde aus meinem Paß klug. Da brachte man mich zum geistlichen Herrn. Er verstand ungefähr so viel französisch wie ich und schrieb mir auf meine dringende Bitte ein Visum in den Paß mit der Bemerkung: »Passieren lassen! Geht nach Bukarest!«

Endlich traf ich wieder mit einem Wagenzug zusammen, dessen Führer ich kannte. Er staunte mich, da ich schriftenlos durch alle Fährnisse hindurchgekommen, wie ein Wunder an und ließ sich nun erweichen, mich als einen auserkorenen Liebling der Straßengötter zwischen zwei Wagen in Bukarest einziehen zu lassen. Da es gerade herunterströmte, schenkte man dem Zug nicht viel Aufmerksamkeit – und ich war drinnen!

Der Konsul gab mir, gerührt von der Schilderung meiner Strapazen und Abenteuer, die durch mein völlig verwildertes Aussehen bestätigt wurde, eine Empfehlung an einen Landsmann, einen Bürger von Münster, der hier ein Bankgeschäft betrieb. Einen solchen Landsmann hatte dieser freilich noch nie zu Gesicht bekommen; er ruhte nicht, bis ich wieder menschenähnlich aussah, verpflegte mich in seinem eigenen Hause, schenkte mir eine neue Kleidung, etwas Geld und bewirkte mir, was für den Reisenden das Allerwichtigste war, die Ausstellung eines neuen Reisepasses. Er ließ sich im Kreise seiner Familie, in der sich ein reizendes Mädchen befand, von mir die ausgestandenen Abenteuer erzählen 120 und lehrte mich Domino, Damenbrett und Schach spielen.

Als ich hergestellt war, sorgte er mir auch für Arbeit bei einem Schuster. Doch war mir mein Beruf, der mir ohne Rücksicht auf meine Anlagen aufgenötigt worden war und den ich nur widerwillig und deshalb auch nicht gründlich erlernt hatte, zu sehr verleidet. Ich wollte ja »zu meinem Bruder«, der diesmal nicht in Salzburg, sondern in Odessa wohnte. Mein Reiseplan sollte durchgeführt werden. Es war ja mein erstes, ernstlich ins Auge gefaßtes Lebensziel.

So verließ ich denn das teure Bukarest mit neuer Reiselust. Die Residenz konnte mich um so weniger halten, als sie eben doch eine Hüttenstadt war, deren Zustand gekennzeichnet wird durch die Tatsache, daß vor meinem Gasthause, wo ich ein paar Tage auf meinen Tiroler wartete, ein mit zwei Ochsen bespannter Wagen im Unrat stecken blieb, so daß er abgeladen werden mußte. Daran ändern die vielen eigenartig schönen und hochgelegenen Kirchen nichts. Das schmutzige, gelbe Wasser in den Weihern des Eismigou-Gartens, der größten öffentlichen Anlage Bukarests, spiegelt nur den Gesamtcharakter der Stadt wieder, die viel leichtlebiges Gesindel nach französischer Mode in sich birgt, wie es denn auch zum guten Ton gehört, französisch zu sprechen. Ich durfte mir sagen, daß ich mir trotz meines Vagantenlebens, in das ich hineingeraten war, das Leben nicht so leicht machte wie die spazierende Noblesse und der faulenzende Pöbel im Eismigou-Garten.

Die protzigen Bojaren, die Großgrundbesitzer, die 121 in Bukarest wohnen, indem sie ihre entlegenen Ländereien verpachten, taten es mir auch nicht an.

Und wiederum schwang ich den Wanderstab.

 


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