Adolf Vögtlin
Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale
Adolf Vögtlin

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6. Arbeit macht das Leben süß.

Am ersten Tage kam ich durch zwei Ortschaften, wo ich meinen neuen, sorgfältig eingebundenen Reisepaß mit wahrem Wonnegefühl vorwies. Wovon die Leute hier lebten, begriff ich nicht. Ringsum die öde Pußta, kleines Gesträuch, Sand und hie und da eine magere Weide. Von der großen Landstraße war ich abgekommen und richtete meine Wanderung, da ich keinen Kompaß hatte, nach dem Stand der Sonne. Die nächsten fünf Tage sah ich weder Haus noch Herd und litt Hunger und Durst genug; aber da ich nun ein sauberes Wanderbuch als Ruhekissen hatte, schlief ich gut.

Meistens bei Schafhirten, die den ganzen Sommer bei ihren Tieren in diesen Steppen zubringen. In Lumpen gehüllte, unheimliche Gestalten, denen nicht einmal alle Jahre ein Fremder zu Gesicht kommt. Ein Sack Mais, Schafmilch und Käse genügt für ihren Unterhalt. Gelegentlich wird ein Schaf wohl geschlachtet, das Fleisch in lange, dünne Riemen geschnitten und an der Sonne so getrocknet, daß es aufbewahrt werden kann. Löcher in den Bergabhängen dienen ihnen als Wohnung. Schaffelle schützen sie gegen jede Unbill der Witterung. Um nicht zu verhungern, war ich genötigt, mich an diese Menschen zu halten. Den meisten war meine Erscheinung 122 rätselhaft; sie wußten nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Einige wiesen mich drohend von ihrer Wohnung weg; andere benahmen sich gastfreundlicher. Eines Abends kam ich zu einer rauchenden Hütte und bat um Unterkunft. Der Hirt stierte mich an und sprach kein Wort. Das war gruselig; da es regnete wie zur Zeit der Sintflut, wollte ich nicht mehr weiter. Ich zog den Bleistift hervor, um dem Hirten meinen Wunsch durch eine Zeichnung auf Papier klarzumachen. Da erweckte der wunderbare Bleistift die Aufmerksamkeit des Hirten in solchem Grade, daß er freundlich und zutunlich wurde und mir das Ding abschmeichelte. Von nun an war er der freigebigste Gastfreund. Er behielt mich dafür zwei Tage und gab mir Speise und Trank. An einem andern Orte gab ich meinen Blechlöffel her, mit dem ich in Tirol so viele Suppen gegessen hatte. Mit Schuh- und Kleiderbürsten dagegen wußten die Leute nichts anzufangen und nahmen sie nicht einmal als Geschenk an. So mußte ich denn in der Nähe von Braila mein vortreffliches Taschenmesser opfern, um Unterkunft zu finden. Aber dafür hatte ich einen schönen Traum, der später in ähnlichen Formen wieder erschien und mich häufig beglückte.

Ich saß in meines Pflegevaters Gärtchen. Da stand plötzlich das liebliche Mädchen von Bukarest vor mir und fing an zu hacken und zu jäten. Ich sah ihr eine Zeitlang zu und es schmerzte mich, daß die schlanke, zarte Gestalt so schwere Arbeit verrichten mußte. Ich rief sie an: Agathe. Da richtete sich die Anmut auf und sah sich nach mir um, und es war Agathe. Und wie sie mich nun mit ihren großen 123 Augen anstarrte, stürzten Tränen daraus hervor und wo sie auf den Boden fielen, da wuchsen Lilien und Rosen empor und blühten, so daß sie bald von ihnen verhüllt war wie Dornröschen. Wie ich mich ihr nähern wollte, um sie zu küssen, verschwand alles, und eine weite Leere umgab mich, auf der man nichts sah als endlose Straßen und sich verschlingende Wege, und ich stand da, hilflos und schwach zum Zusammensinken, und wußte nicht, wohin mich wenden. Auf einmal hörte ich Agathes Stimme wie aus weiter Ferne: »Nicht wandern, sondern graben! Nicht in die Weite, sondern in die Tiefe! Hilf, Heinrich! Hilf mir graben!«

Da wollte ich nach dem Spaten greifen; aber meine Hand griff ins Leere; ich stürzte nach und erwachte.

Düsterer Ernst war in meine Seele eingekehrt. Schal und zwecklos war mein Wandern. Was wollte ich denn eigentlich?

Fort, in die Nähe der Menschen! rief es in mir. Du mußt die Erde bauen, wenn sie Früchte tragen soll! Willst du ernten, was du nicht gesät hast? Arbeite, arbeite!

Und ich freute mich kindlich, als ich bald nach meinem Aufbruch in der Ferne die hundert Windmühlen von Braila erblickte. Dort angekommen, faßte ich gleich den Entschluß, noch am selben Tage trotz der öden, langweiligen Gegend, die ich durchwandern mußte, Galatz erreichen zu wollen, um es dort mit dem Segen der Arbeit zu versuchen.

In meinem Vorhaben wurde ich noch bestärkt, als mich unweit Braila eine greuliche Szene an das 124 Ende aller Dinge erinnerte und mich gemahnte, die Zeit zu nützen. Es begegnete mir ein Wagen voll schwarz gekleideter Weiber, die unter aufregenden Gebärden ein fürchterliches Geschrei verführten, so daß der Wagenlenker nur mit Mühe die Pferde zu halten vermochte. Ich glaubte, es wären Irrsinnige. Allein sie wiederholten ihr Geschrei immer nur, wenn ihnen jemand entgegenkam, weinten und heulten und rauften sich die Haare. Als ich mich erkundigte, machte man mir verständlich, es seien Klageweiber, die um gutes Geld für einen Verstorbenen so jammerten und den Leuten zuschrien, was für ein seelenguter Mensch derselbe gewesen sei; wie schade, daß er gestorben sei, da er alle Tugenden, die sie aufzählten, besessen habe. Bald nachher wurde denn auch der Leichnam dieses Halbengels auf einem Wagen dahergeführt.

Um mich würde wohl niemand weinen, dachte ich einen Augenblick. Aber die Erinnerung strafte mich Lügen, und ich eilte weiter, um das neue Feld meiner Tätigkeit so bald als möglich kennen zu lernen. Aber was sind gute Vorsätze, wenn der Wille fehlt? Sogar der Weg zur Hölle ist ja mit guten Vorsätzen gepflastert!

Ich hatte Braila kaum auf Büchsenschußweite hinter mir, so kam mir eine vornehme Kutsche nachgefahren. Sie war leer. Wie herrlich wäre es, zum Kutscher auf den Bock zu sitzen! Wie lang würden mir die vier Stunden zu Fuß werden, da ich müde war! so dachte ich im stillen, wagte aber die verwegene Hoffnung nicht auszusprechen. Da rief mich der Schwager an und fragte mich etwas auf Walachisch. Ich konnte nur: Nosti romanesti! erwidern. Nun 125 sagte er's auf Ungarisch; allein auch in dieser Sprache verfügte ich nur über die Ablehnung: Nem ditsch mayar (nix ungarisch). Endlich sprach er mich deutsch an: »Wollen Sie mitfahren?«

»Ich habe kein Geld,« antwortete ich.

»Danach habe ich nicht gefragt, nur, ob Sie mitfahren wollen. Flink sitzen Sie auf!«

Ich traute meinen Ohren kaum, schon zufrieden, wieder einmal ein paar Worte Deutsch reden zu hören. Ich setzte mich zu ihm auf den Bock und sagte ihm, woher ich komme und wohin ich gehe, worauf er erzählte, er sei ein Deutsch-Ungar, habe heute zum erstenmal seine Kutsche gebraucht und einen reichen Bojaren nach Braila gefahren, der ihm doppelten Fuhrlohn bezahlt habe, so daß er jetzt ganz wohl einen armen Reisenden unentgeltlich mitnehmen dürfe. Er hatte sich aus dem Überschuß eine prachtvolle türkische Pfeife gekauft. Die sollte ich ihm nun bis Galatz anrauchen, wozu ich mich um so weniger lang auffordern ließ, als er mir einen so wohlduftenden Tabak zur Verfügung stellte, wie ich ihn noch nie geschmaucht hatte.

Gestern lag der arme Schuster mit dem halbwilden Tataren im gleichen Erdloch, heute fährt er zweispännig mit feurigen Rappen wie ein Pascha die sandige Straße dahin, über alles Elend unter ihm stolz hinwegschauend.

Wenn er nur auch ein Stück Brot gehabt hätte.

Auch das sollte sich finden. Bei einem Brückenwirtshaus machten wir halt und kehrten ein. Es war schon Dämmerung und die Beleuchtung in der Wirtsstube vermochte sie nicht zu lichten. Der Kutscher 126 sagte mir nun, ich sollte mich benehmen, wie wenn ich sein Herr wäre, und fragte mich, was wir trinken wollten. Ein guter Wein und gebackene Fische wurden aufgetragen. Als ich dann auf das Anraten des Kutschers ein saures Gesicht schnitt und ausspuckte, tischte der Wirt eine viel feinere Nummer Karlowitzer auf, und die Rechnung fiel trotzdem sehr billig aus, eben weil ich mich mißvergnügt über das Genossene ausgedrückt hatte. Eben kamen vier Rekruten herein, die sich in Galatz stellen mußten. Sie baten mich um die Erlaubnis, mitzufahren. Selbstverständlich bewilligte ich es in meinem angeheiterten Zustand nur unter der Bedingung, daß sie in den nächsten Dörfern die Zeche bezahlten. Die Nacht verhüllte die Blößen in meinen Kleidern; man hielt mich für einen reichen Mann und warb um meine Gnade. Ein König in Lumpen!

Um Mitternacht erst kamen wir in Galatz an und ich übernachtete, unfähig, mich nach der Herberge zu erkundigen, bei dem Kutscher, der mich am Morgen aufs beste bewirtete, ehe ich Abschied nahm.

Nun suchte ich meine Landsleute auf, um das nötige Geld zur Fahrt nach Odessa aufzutreiben; denn das jüngste Erlebnis hatte mich schon wieder übermütig und meiner besseren Absicht abwendig gemacht. Bald lag eine schöne Summe beisammen und ich durfte an die Abfahrt denken. Nur der russische Konsul zögerte noch, mir den Geleitschein auszustellen. Da mußte ich wieder alle List anwenden, an vier aufeinanderfolgenden Tagen bei ihm vorsprechen und alle seine Bedenken zu Boden reden. Das letztemal fuhr er mich rauh an und wollte mich mit der 127 Bemerkung abfertigen, man könne in Rußland keine Revolutionäre brauchen; ich hätte ja bei der italienischen Armee gedient, indem in meinem Paß deutlich zu lesen stehe, derselbe sei auf Grund eines Abschieds bei der italienischen Armee ausgestellt worden. Ich ließ mich nicht einschüchtern und erklärte, ich hätte für und nicht gegen den König gekämpft. Das konnte ich ihm beweisen, da ich den Abschied noch besaß. Jetzt schlug der Wind plötzlich um. »Bravo, mein Sohn,« rief er, »so ist es recht. Wenn es in Rußland etwas absetzt, dann halten Sie nur zu Kaiser und Reich.« Und der Paß wurde mit dem Visum des Konsuls versehen und ich konnte am folgenden Tage meine Reise antreten.

Derweilen hatte ich aber meine gesammelten Schätze aufgebraucht. Und wie ich am Morgen erwachte, konnte ich nicht mehr auf meinem rechten Fuße stehen. Ein Geschwür bildete sich, das am fünften Tage unter großen Schmerzen von einem Kurpfuscher geschnitten wurde. Bis die Wunde einigermaßen geheilt war, war auch das Reisegeld aufgezehrt. Was sollte ich tun?

Ich gehorchte diesmal dem Winke der Natur und beschloß, dazubleiben und zu versuchen, ob ich Agathes Traumwunsch erfüllen könne. Unter keinen Umständen wollte ich zum zweitenmal bei meinen Landsleuten heischend anklopfen. Es gelang dem Besitzer des deutschen Logierhauses, mir Arbeit bei einem Bierbrauer zu vermitteln.

Ob dieses Unternehmen für einen Schuster nicht auch ein Abenteuer war? Wehmütig schaute ich im Hafen dem abfahrenden Dampfer nach, der mich nach 128 Odessa hätte bringen sollen. Majestätisch fuhr er zwischen dem Mastenwald hindurch und verschwand wie ein schöner Traum, den man gerne festhalten und noch eine Weile genießen möchte.

Ich humpelte in Holzsandalen, den Fuß noch mit Lumpen umwunden, in die Brauerei hinaus, die wohl eine Viertelstunde draußen vor der Stadt lag, von einem hohen Bretterzaun eingehegt, der viele Jucharten umspannte. Das düstere Gebäude sah einer alten Ziegelhütte nicht unähnlich und schreckte mich ab wie eine Höhle des Unheils. Der Brauherr wohnte in Bukarest und ließ sich im Jahre nur ein- bis zweimal blicken. Der stellvertretende Braumeister und Alleinherrscher war ein sackgrober Landsmann von mir, und die Burschen, die unter ihm arbeiteten, waren alles mögliche, nur keine Brauer. Insofern paßte ich also zu der neuen Gesellschaft. Der Mälzer war ein Zuckerbäcker, der Fax ein Seiler, der Kelleraufseher ein Barbier und der Kesselfax, noch am ehesten für das ihm zugeteilte Fach tauglich, ein Kaminfeger. Wir waren unser sechzehn Burschen und lebten wie im Kloster; weibliche Wesen wurden hier nicht geduldet. Ein ehemaliger Hafnergeselle besorgte die Küche. Wenn er Fleisch nötig hatte, nahm er seine Flinte von der Wand, ging in den Hof hinaus und schoß ein Schwein, ein Schaf, Hühner oder Tauben, je nach Lust und Bedarf, manchmal auch einen Ochsen. Das alles war im Überfluß vorhanden und die Kost denn auch geradezu üppig. Bier floß uns zu, so viel wir ertragen konnten, ohne betrunken zu werden, was erst nach Feierabend erlaubt war. Bei schönem Wetter schliefen wir 129 gewöhnlich auf dem Dach des Gerstenschuppens, weil die Strohsäcke und die Wollendecken, die unten zur Verfügung standen, von kleinen sechsbeinigen Gästen wimmelten.

Meine erste Arbeit bestand in Wasserschöpfen aus einem haustiefen Sodbrunnen. Da ich seit einem halben Jahre beständig auf Reisen gewesen, tat mir diese schwere, anhaltende Arbeit weh. Abends vermochte ich vor Müdigkeit nicht mehr zu kauen und nahm mit einem Schlaftrunk vorlieb. Einmal trug mir der Braumeister auf, nach dem Nachtessen auf die Bierkühle zu gehen und bis Mitternacht zu wachen, indem ich zugleich mit einer langen hölzernen Krücke das Bier aufrühren mußte. Er schärfte mir ein, ja nicht einzuschlafen; sonst »spuke« es. Ich hörte halb zwölf Uhr schlagen und wehrte mich gegen den Schlaf, der mir die Glieder umklammerte. Dann hörte ich nichts mehr, bis mich am Morgen der Braumeister aufrüttelte und anschrie: »Du fauler Hund, zu nichts tauglich als zum Fressen und Saufen. Mach, daß du fortkommst, und laß dich nicht mehr sehen. Sonst geht's dir übel.«

Es war mir nicht recht, daß ich meine Pflicht vernachlässigt hatte. Ich war die schwere Arbeit noch nicht gewohnt, meine Kräfte hatten einfach versagt. Der Fax tröstete mich, ich solle mir nichts aus der Polterei des Meisters machen, ihm nur aus dem Wege gehen und weiterarbeiten; morgen sei wieder gut Wetter! Seine Prophezeiung erwahrte sich und ich blieb in Stellung. Einige Tage nachher mußte ich dem Küfer Tobias Bierfässer ausbrennen und auspichen helfen. Im Hofe war zu dem Zweck ein 130 dreibeiniger Kessel auf ein paar Backsteine gestellt worden, und ein starkes Feuer brachte das Pech darin rasch zum Schmelzen. Da befahl mir Tobias, noch einige Stücke Pech zu holen und dieselben beizusetzen. Wie ich aus einem Eimer die Stücke in den Kessel nachschütten wollte, brannte mich die lodernde Flamme, ich zog die Hand zurück, der Kessel mit dem siedenden Pech neigte sich, fiel und der Inhalt ergoß sich mir über die schlechtgeschützten Füße. Vor Schmerz bewußtlos, wälzte ich mich am Boden, bis die andern Arbeiter kamen und mich wegtrugen. Am Abend brachte mir einer Kohlblätter und süße Butter, um den Brand zu kühlen, nachdem man mir das Pech samt der Haut weggerissen hatte.

Wie ich so tagelang in Schmerzen lag, hatte ich Zeit, neue Pläne für die Zukunft zu schmieden. Häufig genug dachte ich an die Heimat und die Leute, von denen ich dort Liebes und Gutes erfahren und deren wohlgemeinte Ratschläge ich in den Wind geschlagen hatte. Doch sagte ich mir dagegen, daß solche Ratschläge so lange keine Früchte tragen können, als sie nicht von unserm Geiste aufgenommen und zu Einsichten verarbeitet werden, die dann auf die Dauer in uns wirken und unsere Entschlüsse zur Reife bringen.

Mein Geist war noch in keiner Richtung reif und also waren ihm die bitteren Erfahrungen vonnöten, wenn er überhaupt einmal selbständig werden sollte.

Doch wie ich bei meiner ersten Arbeit schon schmerzlich Pech gehabt hatte, so wollte es mich bei der folgenden nicht verlassen. Einmal brannten mir die Pferde durch, ein anderes Mal überraschte uns der 131 Braumeister, wie wir beim Holzsägen, vom Bier eingelullt, über dem eintönigen Geräusch eingeschlafen waren. Mich fand man hinter Gerstensäcken im Verborgenen schlummernd. Da versicherte er mir, wenn es nicht so spät am Abend wäre, er würde mich mit Hunden hinaushetzen lassen; er rate mir, das Revier vor Tagesanbruch zu verlassen, da er mich nicht mehr anblicken möge. Trotzdem blieb ich in der Brauerei über Nacht. Am andern Morgen war der Zorn des Meisters beinahe verraucht. Er rief mich auf seine Amtsstube und wetterte von seinem hohen Sitze wie ein erzürnter Fluchgott auf mich herab, und bekannte mir schließlich, es sei ihm mit meinem Weggang ein schwerer Stein vom Herzen genommen. Dann schob er mir zu meinem Erstaunen für meine verschiedenen Facharbeiten über den Tisch drei verschiedene Häuflein Geldes zu und atmete in der Tat so erleichtert auf wie ich selber, der ich mich auf einen ganz andern Abschied gefaßt gemacht hatte. In der Stadt ergänzte ich meine Ausrüstung, kaufte dauerhafte Stiefel, einen handfesten Stock und ein ledernes Tornisterchen, das mir ein Jude sehr billig abließ. Eine neue Pfeife mit silbernem Beschlag wurde gestopft, und mit neuem Mut ging's zum Tor hinaus, dem Osten zu, nach Bessarabien, dem Grenzland zwischen Walachei und Rußland. So sehr mir alles quergegangen, ich war im Vollgefühl meiner Kraft und im Besitz eines vollen Geldbeutels so übermütig, daß ich das Liedchen anstimmte, das damals die Handwerksburschen auf allen Herbergen sangen, wenn sie faulenzten: »Arbeit macht das Leben süß«.

Und doch, und doch! So ganz als Spottlob auf die 132 Arbeit konnte ich das Sprüchlein nicht mehr nehmen. Ich war mir noch nie zuvor so frei und eigenherrlich vorgekommen wie jetzt, da ich etwas Selbsterworbenes besaß, und ich begann auf meinen einsamen Wegen über das Wesen und die Wirkung der Beschäftigung nachzudenken. Doch blieb ich noch lange am Einzelerfolg wie am Einzelschicksal haften und es fiel mir nicht ein, meinen Blick auf die großen Gesamtwirkungen bei ganzen Völkern zu richten, und recht lebhaft erinnere ich mich, wie ein Unglück, das eine Gegend traf, in mir Zweifel über den Segen der Arbeit aufsteigen ließ, weil ich ihren Erfolg für einmal urplötzlich vernichtet sah. Was kann der Mensch, wenn das Schicksal wider ihn ist? fragte ich mich. Ein Nichts ist er, allmächtig aber das Schicksal. Ich sah damals noch nicht die Größe des Menschen, die darin besteht, daß er, darniedergeworfen, immer wieder aufsteht, kämpft und schließlich sogar die tückische Natur mit ihren Streichen besiegt.

In der Nähe von Ismaila war es, daß eines Tages sich die Sonne plötzlich verdunkelte. Wie ich vom Wege aufblickte, sah ich über mir eine dunkelschimmernde Wolke aus lebendigen Wesen, die sich immer tiefer herabließ und endlich, soweit ich zu blicken vermochte, das Feld bedeckte.

Heuschrecken waren es. Hunderte und Hunderte schlug ich, den Stock über meinem Kopf schwingend, zu Boden. Was nützte es? So wenig wie das Sturmläuten, so wenig wie das Abfeuern von Flinten und Kanonen. Alles vergebliche Gegenwehr. Umsonst wurden an vielen Orten mächtige Feuer angezündet, um dieses Millionenheer zu vertreiben. Feldein, 133 feldaus nichts als Heuschrecken. Auf alles, was grün war, ließen sie sich nieder und fraßen es auf. Da machten sich einzelne Bauern daran, das unreife Getreide und den Mais niederzumähen, um wenigstens noch Futter für das Vieh zu retten. Die Mehrzahl der Leute aber stand rat- und tatlos vor den Häusern. Sie schauten dem Umsichgreifen der Landplage zu, verwarfen die Hände und jammerten. Die Weiber beteten und schrien zum Himmel. Denn der Segen einer Jahresarbeit war dahin; die Felder waren im Nu verwüstet.

Ich konnte den Jammer der Armen nicht mit anhören; obgleich es schon Abend und ich müde war, zog ich, im Herzen tief bewegt, weiter. »Arbeit macht das Leben süß!« sagte ich erbittert über das Schicksal, nicht bedenkend, daß gerade das Zusammenwirken ganzer Völkerschaften und die Verbindung der Nationen durch die Kultur solche Schäden mit Leichtigkeit überwindet, so daß sie einem Volke nicht anders als ein Rutenstreich erscheinen, der es anspornt, seine Lage durch neue Einrichtungen und zweckmäßige Abwehr zu verbessern.

Andern Mittags kam ich in ein Dorf, wo mir gleich beim ersten Haus der Straßenwart die Schriften abverlangte. Er entfernte sich damit und verschwand in einem bessern Hause, wo er sie abgab und mir bedeutete, daß ich zu warten habe, da der Herr des Hauses nicht anwesend sei.

Ich wartete eine, zwei, drei Stunden. Endlich, ungeduldig geworden, zeigte ich energisch auf den Stand der Sonne, die erdwärts sank; dann gab ich den Leuten, die mich umstanden, zu verstehen, daß 134 ich Hunger habe, worauf ich mit dem Straßenwart zu einem Großbauern geschickt wurde, der mir eine Schüssel Krebse und Eier vorsetzte. Indessen kehrten die Knechte und Mägde, die Söhne und Töchter von der Feldarbeit heim; Mamelika, ein fester Maisbrei, wurde gekocht, der Patron schnitt jedem mit einem Draht ein mächtiges Stück ab, wie man bei uns zu Hause die Seife zerschneidet. Milch und weichen Käse gab es dazu und jeder aß sich satt. Dann plauderte und schäkerte man noch eine Weile vor dem Hause bis es dunkel war, und jetzt wurden von den Jungen eine Masse Schaffelle herbeigeschleppt. Die breitete man auf dem Boden aus, und Männlein und Weiblein legten sich der Mauer nach, alle den Kopf gegen das Haus, die Füße gegen den Hof gekehrt, darauf. Mir brachte man vier von den besseren Fellen, und bald schlummerte ich ein.

Am Morgen war meine erste Sorge mein Paß. Mit Mühe nur bewogen mich die Leute, mit ihnen das Frühstück zu teilen. Als ich endlich zum Dorfschulzen geführt wurde, saß der mit zwei anderen Größen vor dem Haus in einer kleinen Veranda und frühstückte. Wie er meiner ansichtig wurde, winkte er mich zu sich heran. Ich stieg die paar Stufen zu ihm empor und wurde nun auch von ihm eingeladen, an seinem Gabelfrühstück mit Paprika und Gurkensalat teilzunehmen. Dann rückte er mit meinem Paß heraus, in den er etwas geschrieben hatte, und ich war entlassen. Ich war in Bessarabien und genoß nun von Dorf zu Dorf die Gastfreundschaft der mild gesinnten Leute. Dann aber kam ich ins Land der Kosaken, die an der Grenze in solcher Menge 135 patrouillierten, daß keiner zwischen ihnen hätte durchschlüpfen können.

Die Handschrift des russischen Konsuls in Galatz kam mir zugute. Ich erhielt einen russischen Paß, nachdem ich, von zwei Wächtern begleitet, auf acht Bureaus verschiedene Gebühren entrichtet hatte. Nun konnte ich ungehindert reisen.

In Tatarbuna suchte ich einen preußischen Tuchweber auf, von dessen Hiersein ich in Galatz unterrichtet worden war, und der mich drei Tage bei sich behielt. Anno 48 hatte er als politischer Flüchtling seine liebe Heimat verlassen müssen. Planlos umherirrend wie ich, war er, seine ganze Habe im Taschentuch mit sich tragend, hierhergekommen, hatte sieben Jahre lang bei einem Juden als Färber gearbeitet und dann, als er genügend erspart gehabt, seine Familie nachkommen lassen, mit der er nun ein Leben führte, das mich ganz an die biblischen Patriarchen gemahnte. Dreizehn Häuser nannte er sein Eigen. Die Söhne führten mich nach dem Abendessen, wo ich obenan gesetzt worden war, im Dorfe herum und zeigten mir alles Sehenswerte. Frühzeitig ging ich mit den jüngsten Söhnen zu Bett. Als ich schon am Einschlummern war, kam die Annagret, die Hauswirtin, mit einem Licht und der Bibel, setzte sich hinter den Tisch und las ein Kapitel vor. Besonders schien sie für mich den Vers zu betonen: »Der Herr ist allen gütig und erbarmet sich aller seiner Werke.« Dann betete sie noch bei jedem Bett, küßte ihre Lieblinge und entschuldigte sich bei mir wegen der Störung; es sei ihr Brauch, ohne dessen Ausübung sie nicht schlafen könnte. 136

Der Patriarch wollte mich noch länger bewirten, da ich ihm allerlei aus Süddeutschland und der Schweiz, wo er sich auch aufgehalten hatte, erzählen konnte. Krank gewordene Deutsche hatte er bei sich vier Monate kostenlos verpflegt. Mich trieb es nun vorwärts, dem Endziel zu.

Der liebe Alte begleitete mich und unterrichtete mich genau über den Weg, den ich einschlagen und wie ich mich benehmen solle.

Bei den Russen dürfe ich nicht auf Bewirtung und Beherbergung rechnen. Darum gab er mir auch Proviant für mehrere Tage mit. Seine Voraussage traf zu. Von den Kosaken-Posten, die ich passierte, erhielt ich nicht einmal Wasser. Dörfer sah ich tagelang keine. Eines Abends stieg ich eine steile Straße bergan und gedachte noch bis auf die Höhe zu gehen, um dort auf meinem Felleisen als Kopflager zu nächtigen, wenn ich von dort keinen Unterkunftsort wahrnähme. Von der Höhe sah ich ungefähr eine Viertelstunde tiefer unten einzelne Lichter. Unten angekommen, beschloß ich, trotz des Abratens meines guten Wirtes, im ersten Haus anzuklopfen. Wenn mir nicht Speise und Trank gewährt wurde, war vielleicht doch ein Strohlager zu erlangen, das mich gegen die Kälte der Nacht schützte. Auf mein Anklopfen fragte eine melodische Stimme, was ich möchte, zuerst russisch, dann, da ich in dieser Sprache nicht antworten konnte, französisch. Da konnte ich mit ein paar Brocken dienen. Jetzt kommt ein Fräulein förmlich auf mich zugehüpft, hoch erfreut, französische Laute zu hören. Sie brachte mir gleich einen Stuhl und bat mich, vor dem Hause zu warten, bis der Patron 137 selber komme. Sie sei die Gouvernante und werde ihn sofort suchen gehen. Nach einiger Zeit hörte ich feste Männerschritte sich nähern, aber zugleich ließ sich ein russisches Donnerwetter vernehmen, das mir bange machte. Wie der leibhafte Teufel fuhr mich der Edelmann an. Granize! granize! hörte ich immer wieder heraus. Ich wies meinen Paß vor; allein der wirkte keineswegs beschwichtigend und ich nahm bereits mein Felleisen auf den Rücken, um weiterzugehen. Da brach eine wohlklingende Stimme beim Haus in helles Lachen aus. Wir wendeten uns und sahen eine stattliche Dame, die uns, mit einer Lampe in der Rechten, winkte, näherzukommen. Der Herr ging, und ein paar Worte der Dame genügten, um ihn so zahm zu stimmen, daß er mich sänftiglich einlud, ins Haus zu treten, wo ich bewirtet wurde. Von der Gouvernante erhielt ich Aufklärung über das Benehmen des Edelmannes. Sie hatte ihn nicht angetroffen, und nun fand er bei der Heimkehr zur Nachtzeit einen wildfremden Burschen auf seiner Besitzung vor, was ihn aufbrachte. Nach der Mahlzeit führten mich Herr und Frau in die Wohnstube, bedeuteten mir, daß hier kein Platz zum Schlafen sei, dann in eine Nebenstube, wo ebenfalls kein Bett war, in die Bibliothek und das Arbeitszimmer, dann einen Stock höher in ein sehr elegantes Schlafzimmer, wo die beiden sich jedes zu seinem, mit seinem Gazevorhang versehenen Bett stellten und mir zu verstehen gaben, daß das ihre Schlafstätten seien. Nebenan war ein aufs feinste ausgestattetes Boudoir, dergleichen ich noch nie gesehen hatte, auch bei den reichen Leuten zu Hause nicht. Ein großes, lustiges 138 Zimmer, wo in weichen Seidenkissen zwei Mädchen und ein Knabe schliefen, wurde nur wenig geöffnet, damit die kleinen Engel nicht gestört würden. So ging es von Zimmer zu Zimmer, um mir zu beweisen, daß in diesen Räumen meines Bleibens nicht sein könne. Zuletzt führte man mich in das Arbeitszimmer der Dame des Hauses. Da stand ein großer Diwan, der mir unter vielen Entschuldigungen als Lager hergerichtet wurde.

Die Leute sahen mich jedenfalls für etwas ganz anderes an als der Braumeister in Galatz. Kissen und Decken wurden herbeigeschleppt, und als ich schon ausgezogen und zum Einschlummern bereit war, kam die Dame noch mit einem gestickten Kissen, bedeutete mir, daß das ihre eigene Arbeit sei, und schob es mir unter den Kopf, gab mir lächelnd einen sanften Backenstreich und huschte davon. Und nun konnte ich träumen, wie es so schön warm sei in dem kalten Rußland.

Am Morgen erwache ich über einem Höllenlärm hart vor meinem Zimmer. Ich springe auf, gehe hurtig ans Fenster und sehe da, wie mein russischer Edelmann, gestiefelt und gespornt, einen am Boden liegenden Bauern mit der Knute (sechs Riemen von dickem Leder an einem kurzen Stock) bearbeitet und ihm mit den Absätzen auf dem Leib herumstampft. Dazu brüllte er ihn an wie ein Löwe. Ich zog mich scheu zurück und dachte, hier sei nicht gut sein; machte auch alles bereit zur Abreise.

Da befahl mir der Magnat mit mehr gebieterischem als einladendem Ton bis zum Frühstück zu bleiben. Ich gehorchte und sah den armen Bauern 139 zu – ihrer fünfzig bis sechzig waren es – die im Garten schaufelten und harkten. Bald wurde ein Zeichen zum Frühstück gegeben, und die Arbeiter begaben sich, wohlzufrieden und als ob nichts geschehen wäre, an zwei lange Tische, die in der geräumigen Küche standen, und setzten sich hinter ihre Milchschüssel und ihren Laib Brot. Kaum habe auch ich Platz genommen, packt mich der Riese von einem Edelmann am Kragen, reißt mich aus der Bank heraus und treibt mich vor sich hin in das Zimmer der Herrschaft, wo der Tisch mit feinstem Backwerk bestellt ist und Madam mich liebreich bewillkommt. Soviel ich merkte, nahm der Herr es mir übel, daß ich in völligem Verkennen russischer Gastfreundschaft mich zum Gesinde hatte setzen wollen. Dann erschien die Gouvernante, die nun die Unterhaltung in Fluß brachte, indem sie alles verdolmetschte. Eine Landkarte wurde herbeigeholt und ich wies ihnen, woher ich gekommen und wohin ich wolle, alles zu Fuß, worauf sie mich bewunderten. Der Edelmann begleitete mich mit Frau und Kind durch den Garten bis an die Landstraße. Sie blickten mir nach und winkten mir mit Tüchern noch lange, bis ich da, wo die Straße ein Knie machte, ihren Augen entschwand. Die Leute aber begrüßten mich ehrerbietigst, da sie sahen, daß ich aus dem Hause des Edelmannes kam.

In derselben Nacht schlief ich bei strömendem Regen im Freien und am darauffolgenden Mittag war ich so durstig, daß ich auf der Straße eine Wassermelone, welche ein Jude weggeworfen hatte, auflas und gierig aussog.

So wechselt das Glück! Doch ich verzagte nicht, 140 wußte ich doch im voraus, daß ich in der Nähe eines deutschen Ansiedlerdorfes war, wo ich bei einem Färber Aufnahme fand. Sarata hieß es.

Endlich wieder einmal ein Dorf nach deutscher Art, mit geraden, wohlgepflegten Straßen, sauberen Häuschen und einer stattlichen Kirche. Neben jeder Haustüre war der Name des Besitzers und der seiner ursprünglichen Heimat angeschrieben. Wie traut und lieb klangen all die schweigsamen Zeichen an mein Ohr! Nord und Süd fand sich zusammen, ganz Deutschland in einem russischen Dorfe! Aus einem Küchenfenster duftete mir der Dampf von Kartoffelklößen mit Buttertunke entgegen.

Das war meine Leibspeise.

Münster, das Berlinger-Haus, die Pflegemutter und Agathe – das alles stand mir wie hergezaubert vor der Seele. Ich konnte der Lockung nicht widerstehen, und da ich neben dem Türpfosten das Färberschild sah, zögerte ich nicht, einzutreten. Wie ich die Tür öffne, stellt er eben eine Schüssel der schönen braunen Klöße auf den Tisch. Er hieß mich willkommen; ich aber starrte auf die gefüllte Schüssel hin, die mir mit einemmal als der Inbegriff der Heimat vorkam. Ich weiß nicht, ob die Sehnsucht in mir stärker war oder der Hunger. Das aber weiß ich, daß ich eigensüchtig genug war, zu hoffen, er habe keine große Familie, so daß von jener Lieblingsspeise für mich auch etwas übrig blieb.

Im Kirchturm läutete es zu Mittag. Der Färber, ein Mann in besten Jahren, stellte sich an den Tisch, zog die Mütze ab und betete: »Komm Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast! Amen!« 141

Dann entschuldigte er sich, daß er ein so einfaches Mittagessen habe; er sei allein und koche jeweilen für zwei Tage; er wolle jedoch bei einem Nachbar ein Stück Fleisch holen, was ich aber nicht zugab. Ich gestand ihm, daß ich auf meiner ganzen Reise noch nie mit solcher Freude zu Tisch gegangen sei wie jetzt und erklärte ihm, warum.

Das freute nun ihn, und wir speisten mit solchem Vergnügen, daß, nach den leeren Schüsseln zu schließen, das Wetter dauernd schön bleiben mußte. Lieb war es ihm, zu vernehmen, daß es dem preußischen Tuchweber, von welchem ich Grüße an ihn bestellte, wohl ergehe. Nach dem Mittagessen führte er mich durch das schmucke Dorf, welches großenteils von Schwaben bewohnt war. Sie hatten weit im Umkreis das Land bebaut und lebten in sehr guten Verhältnissen. Da erkannte ich, was Fleiß, Ausdauer und Sparsamkeit auszurichten vermögen. Es gab Bauern, die ein Dutzend berittene Aufseher hatten, um die Ernte und die Arbeiter zu beaufsichtigen. Die Garben werden nicht nach Hause geschafft, sondern auf dem freien Felde haushoch aufgeschichtet und mit Strohdächern eingedeckt. Später kommt die Dreschmaschine aufs Feld und das Getreide wird von hier aus verladen und auf die großen Märkte an der Donau und am Schwarzen Meer geführt.

Bei der Kirche fiel mir auf, daß das Bild des heiligen Christoffel an der Vorderseite in ungewöhnlich großem Maßstab gemalt war. Es reicht von der Eingangstür bis unter den Giebel des Daches. Der Färber erzählte mir, wie ein anderes, um einige Stunden entferntes deutsches Dorf ebenfalls den 142 heiligen Christoffel als Schutzpatron verehre. Vor einigen Jahren hätten die von Schuma bei einer Neubemalung das Bild um die Hälfte größer machen lassen als dasjenige zu Sarata, um die Sarataner zu necken. Darauf entschloß sich Sarata, den Christoffel ebenfalls neu aufzumalen und bei diesem Anlaß ihm die jetzige Größe zu geben, so groß, daß sie von der Nachbargemeinde nicht mehr ausgestochen werden könnten. Denn die beiden Kirchen waren ganz gleich gebaut und besaßen die gleiche Größe.

»Aber siehe da!« bemerkte der Färber, »auch die Dummheit ist erfinderisch. Seit einigen Jahren haben die von Schuma auf derselben Fläche einen Christoffel, der um die Hälfte größer ist als der unsere.« Und er lachte dabei: »Das Wunderding müßt Ihr Euch ansehen, Manesse.«

Gegen Abend kam ich in dem nebenbuhlerischen Dorfe an und suchte unverweilt den Christoffel auf. Er war in der Tat auf der gleichen Fläche doppelt so groß wie der zu Sarata. Und ich erfuhr die Geschichte dieses gemalten Heiligen.

Es kam einmal ein Maler nach Schuma und hörte von dem Schwabenstreich und der Großtuerei der beiden Gemeinden. Er machte dem Schulzen das Angebot, ihnen aus der Patsche zu helfen gegen Entrichtung von 500 Rubel. Da ihm nicht mehr Raum zur Verfügung stand als in Sarata, war alles auf seinen Einfall gespannt. Einige hielten ihn für einen Schwindler und wollten ihm kein Geld verabreichen. Der tonangebende Schulze aber beschwichtigte sie, indem er ihnen versicherte, daß der Künstler keine Kopeke erhalte, bevor er das Rätsel gelöst habe. 143

Nun malte der Maler einen Christoffel in gebückter Stellung, wie er eben seine Sandalen bindet. Mit dem Rücken stößt er am Giebel an, und wenn er einmal aufsteht, so muß er wirklich doppelt so groß sein wie der von Sarata.

Da mein bisheriges Leben eine Kette von Schwabenstreichen gewesen war – schlimmer vielleicht, aber jedenfalls weniger protzig als derjenige der Schumaner –, fand ich bei einigem Nachdenken, diese Bauern seien am Ende die Gesellschaft, in welche ich am ehesten hineinpasse. Wie wäre es, wenn ich hier mein Zelt aufschlüge? Ich suchte und fand Anstellung bei einem Schuster. Bei diesem sprach fast jeden Abend der Schullehrer vor, um mit ihm zu plaudern und Dorfpolitik zu treiben. Als dieser hinter meine Bildung kam, unterwarf er mich einer langen Prüfung, die ich wohl bestand. Einige Tage nachher rückte er mit dem Vorschlage heraus, mich als Gehilfen anzustellen, da ihm die Klassen zu groß geworden waren und er selber daran dachte, inskünftig mehr Landwirtschaft zu treiben. Ich nahm sein Anerbieten an und vertauschte den Wanderstab mit dem Schulstecken, den ich jedoch niemals brauchte. Die Kinder hatte ich bald für mich gewonnen, da ich ihnen viel Erlebtes erzählen und viel Geschautes schildern konnte. Und wieviel Unbekanntes gab es aus ihrer ursprünglichen Heimat zu berichten, wovon sogar ihre Eltern keine Ahnung oder doch keine richtige Vorstellung hatten!

Ich fühlte bei dieser stillen Arbeit tiefe Befriedigung, solange meine Wissenschaft ausreichte; aber als ich einmal den Lehrer in der obersten Klasse 144 vertreten mußte, wurde ich unsicher und beging Fehler, deren ich mich schämte. Der gute Mann erklärte sich bereit, mir durch Unterricht weiterzuhelfen.

Da war ich überglücklich, arbeitete eifrig und entwarf idyllische Zukunftspläne. Hier wollte ich ein neues Leben anfangen und meinen Frieden finden. Schon rechnete ich aus, wie lange ich arbeiten müßte, um Agathe hierherkommen zu lassen und entwarf bereits Pläne zu einem Häuschen für uns beide. Diese Menschen nahmen mich, wie ich war, und hatten keinerlei Vorurteile. Bei ihnen konnte ich meine Vergangenheit vergessen, indem ich eine schöne Gegenwart lebte.

Aber da war meine Phantasie den Möglichkeiten wieder weit vorausgeeilt.

Eines Morgens erschien der Pfarrer im Ornat mit zwei Chorbuben und dem Meßner, ersuchte mich, sofort das Schulhaus zu verlassen, räucherte die Stuben aus und weihte sie neu ein, da sie durch mich, den Lutheraner, entweiht worden waren. Er verbot den Kindern, von mir Abschied zu nehmen, und ich ging, Schluchzen und Weinen hinter mir lassend.

Seltsam! Noch nie hatte mich das Weinen der Menschen gefreut. Diesmal schwoll mir das Herz in heißer Freude, als mir die Kinder trotz dem Verbot ihres Seelenhirten weit vors Dorf hinaus weinend das Geleite gaben. Was zog sie mir nach? Ich hatte doch keine Zauberpfeife wie der Rattenfänger von Hameln!

Nun, zum erstenmal in meinem Leben hatte ich wirkliche Neigung zu einer ersprießlichen, echt 145 menschlichen Tätigkeit in mir verspürt. Sollte mir Gott nicht auch das Talent dazu verliehen haben? Oh, es gibt kein tieferes Glück für den Verlorenen, als etwas Taugliches an sich zu entdecken, das ihm in der Menschheit neues Bürgerrecht verschaffen könnte. Aber nun kam ein Mächtiger und stieß mich hinaus aus dem Kreise, den ich mir erobert hatte. Und ich wankte fort ins Unbekannte und verlor neuerdings den Schwerpunkt meines Wesens.

Schicksal, Schicksal! . . .

Und dennoch durfte ich mich nicht beklagen. Hätte bei meinen Mitmenschen die Macht des Guten nicht über das Schlechte die Oberhand gehabt, so wäre ich zehnmal zugrunde gegangen. Es lag wohl an mir selbst, wenn ich immer noch nicht obenauf kam.

 


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