Adolf Vögtlin
Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale
Adolf Vögtlin

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2. Kinder- und Flegeljahre.

Ich hatte die Frechheit begangen, geboren zu werden, und mußte dafür mein halbes Leben lang Buße tun. Doch endlich, endlich steh' ich vor dem Augenblick, der mir mein Elend besiegen hilft, und so werden meine Bekenntnisse ein Buch des Triumphes über die Widerwärtigkeiten des seelischen und körperlichen Daseins bilden. Ja, ein Sieger bin ich jetzt schon! . . . Laß mir dieses stolze Bewußtsein; denn es muß mich für alle Unbill meiner halbverbrauchten Erdenzeit entschädigen.

Du kennst, Geliebte, zum großen Teil die Geschichte meiner Kindheit, die Leiden eines Knaben, der, wenn er etwas wünschte und verlangte, wonach 23 das Herz ihm brannte, immer von seinen Pflegeeltern hören mußte: »Gib dich zufrieden, Bub; wir haben dich ja nur um Gottes willen angenommen.« Da man mir alles vorenthielt, was andern Kindern Freude macht und nach dessen Besitz ihre Phantasie unwiderstehlich begehrt, so kam ich dazu, mir durch List und Gewalt die Güter anzueignen, die mir durch meine Lage verwehrt wurden. Da war denn der Jahrmarkt ein ganz besonderes Fest für mich. Da konnte ich mir von den Verkaufsbuden all die schönen Gegenstände aneignen, die sonst den Kindern von ihren Eltern als Liebesgaben überreicht wurden. Doch war es mir bei allem Gelingen nie recht wohl. Ich wußte, daß das Naturrecht, welches ich mir zurechtzimmerte, indem ich mir sagte: »Du bist ein Kind wie andere, und hast ein Recht auf Spielzeug wie andere«, nicht von den übrigen Menschen anerkannt wurde. Dann fehlte mir die Freiheit des Gewissens, indem ich meine Raffiniertheit niemand erzählen durfte, weshalb auch die Teilnahme der andern an meiner Freude mir versagt blieb. Dagegen fühlte ich mich nicht wenig, wenn mein Pflegevater gelegentlich eines Streiches, der trotz aller Schlauheit mißlang, etwa zu seiner Frau sagte: »Das hätt' ich von dem Bürschchen mir nie vorgestellt! Wie pfiffig hat er das nun wieder eingefädelt!« Da war's mir gleichgültig, wenn ich geprügelt oder von der schmalen Kost auf noch schmälere gesetzt wurde.

Häufig schlich ich mich bei Schwurgerichtsverhandlungen in den Gerichtssaal ein, stellte mir vor, was ich auf die Anklagen des Staatsanwaltes am Platz des Angeklagten antworten, wie ich mich verhalten 24 würde, merkte mir die dummen Streiche des letzteren, welche zu seiner Entdeckung führten und schalt ihn im stillen einen Schafskopf.

Mit Vorliebe las ich Räuber- und Mordbrennergeschichten und beneidete die Spießgesellen darum, daß ihre Namen so schön und hervorstechend gedruckt in den Zeitungen standen.

Als ich der Hinrichtung von zwei Mördern beiwohnte, interessierte mich am meisten, was sie wohl noch für eine Anrede ans gaffende Volk halten würden, und ich hielt sie für feige Memmen, als keiner ein Wort hervorbrachte. Das wollte ich in einem ähnlichen Falle besser machen; die Zeitungen würden meine Abschiedsrede drucken müssen. Ich erinnere mich recht wohl, wie ich nach Hause ging und eine solche studierte; mehrmals stellte ich mir noch später die Zuschauerschaft vor und sprach die Rede laut vor mich hin, wenn ich irgendwo allein war. Dabei kam ich mir als ein erhabenes Wesen vor.

Und so wundere ich mich heute noch und danke es dem gütigen Himmel, daß meine Hände von Blut reingeblieben sind. Ich glaube nicht, daß es dem Umstand zuzuschreiben ist, daß mein erster Pflegevater ein Polizist war. Weil er trank und seine Frau prügelte, wurde er aus der Stadt Münster nach Dornheim versetzt. Mitten im Dorf mieteten wir, und zwar beim Schullehrer. Unser nächster Nachbar war ein reicher Bauer, namens Süß, von dessen Tisch mancher Brocken für mich abfiel. Zum Dank entwendete ich ihm allerlei Eßwaren, mit denen ich die Schweine fütterte, wenn ich selber damit nicht fertig wurde. Wenn ich ertappt wurde, behandelte man 25 mich mit Schonung, da man, nicht mit Unrecht, annahm, ich müsse Hunger leiden.

Meine Pflegemutter hatte mich im Verdacht, ich stehle ihr den Rahm von der Milch. Um mich davon zu befreien, ergriff ich eines Tages unsere Katze, ging mit ihr in die Küche, sorgte dafür, daß alle Türen, mit Ausnahme der Stubentür, geschlossen waren, tauchte der Katze die Schnauze in den Milchtopf, daß sie aussah wie eingeseift und zum Rasieren bereit, stellte sie auf den Boden und warf ihr eine Kaffeetasse nach, daß sie erschreckt davonsprang und natürlich der herbeieilenden Pflegemutter unter der Stubentür begegnete. Sie erkannte sofort in der armen Mieze den schon längst gesuchten Rahmdieb, den sie nun mit einem Stecken unter Bett und Kasten hervorscheuchte, während ich mich davonschlich, um mir einige Minuten nachher, als eben von der Gasse kommend, die Moritat erzählen zu lassen.

Tags darauf schmeckte mir der Rahm doppelt gut. Ich war damals erst etwa sechs Jahre alt und ein kleiner Knirps; aber meine Freude an solch boshaften Streichen stand zu meiner Größe in umgekehrtem Verhältnis.

Da mein Pflegevater fortfuhr, unmäßig zu trinken und als Polizist seine Pflichten zu vernachlässigen, wurde er seines Amtes enthoben. Wir kehrten nach Münster zurück, weil da eher ein Auskommen war. Die Szenen zwischen Mann und Frau wurden jedoch immer dramatischer, so daß die Frau schließlich genötigt war, sich scheiden zu lassen. Ich erhielt einen neuen Pflegevater in der Person eines ehrlichen Schusters, namens Berlinger, einer biedern, aber 26 armen Haut, und es begann eine neue Ära. Er hatte sich kurz zuvor verheiratet, tat seine Pflicht, saß tagaus tagein auf seinem Dreibein und schusterte tüchtig drauflos. Mit Ausnahme des Montags. Da gönnte er sich einen halben Blauen, hauptsächlich auch, um einen seiner Hauptkunden, den benachbarten Wirt, der eine zahlreiche Familie hatte, nicht zu verlieren. Da aber aller Anfang schwer ist und die Kundsame spärlich ausfiel, war ihm der Brotkorb ziemlich hoch gehängt. So konnte ich denn gar nicht begreifen, warum mich dieser Mann »um Gottes willen« ernährte, da er selber kaum etwas zu nagen hatte. Es stiegen allerhand Zweifel in mir auf, um so mehr, als ich zu bemerken glaubte, daß er sich oft in geheimnisvoller Flüstersprache mit seiner Frau über mich unterhielt.

Eines Tages rechneten die Pflegeeltern auf Tafel und Papier in ganz heimlicher Weise lange etwas aus. Ich suchte dem Ding auf die Eisen zu kommen, indem ich die ausgewischten Ziffern und Buchstaben noch aus den Spuren erkennen wollte; es gelang mir nicht. Als die beiden am Tag darauf, einem Sonntag, in der Kirche saßen, schlich ich mich in ihre Schlafkammer und untersuchte ihre Werktagskleider. Da fand ich in der Westentasche des Mannes einen Papierfetzen. Darauf stand geschrieben: »60 Gulden Kostgeld, 60 mal 2,15 macht 129.«

Da roch es in mir auf: sechzig Gulden Kostgeld! Für wen und von wem? Ich wollte nicht lange in der Ungewißheit bleiben; denn sie peinigte mich, da ich deutlich ahnte, daß es sich um mich handelte. Andern Tags aus der Schule heimgekehrt, hörte ich, 27 daß man, als ich mich der Stubentür näherte, eilig viel Geld zusammenraffte. Als ich eintrat, hatte die Mutter es noch in Händen und machte sich schleunig damit in die anstoßende Kammer. Ich versorgte meine Schulsachen in der großen Tischschublade. Da lag das Schreibbuch des Vaters darin, während es gewöhnlich in einem Schrank eingeschlossen war! Wie mich seiner bemächtigen?

Den ganzen Abend machte ich mir in der Stube zu schaffen. Meine Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt. Erst als es dunkelte, erhob sich der Vater von seinem Stuhle, um in der Küche noch mit seiner Frau zu verhandeln. Jetzt schnell über die Schublade! So leise als möglich und das Buch in meinem Busen versteckt! Und fort damit an einen Ort, wo man allein sein kann.

Endlich allein! Zündhölzer heraus!

Jetzt ging es an das Studium des geheimnisvollen Buches, in welchem allerlei Papiere aufbewahrt waren. Zunächst ein Formular, dann eine Quittung über hundertneunundzwanzig Silberstücke Kostgeld für den Knaben H. M. von Herrn Doktor Hart.

Aha! triumphierte ich. So ist's mit diesem »um Gottes willen« bestellt! Von dieser Stunde an begann ich meine Pflegeeltern zu verachten. Denn daß sie sich zu einer schnöden Handlung hergaben, schloß ich aus ihrer Heimlichtuerei.

Dann fand ich noch ein kleines Briefchen von Frauenhand mit dem Poststempel Baumen, das an meine Pflegemutter gerichtet war. Darin stand: »Kommen Sie morgen abend um 4 Uhr an den 28 bestimmten Platz; ich habe dringend mit Ihnen zu reden.«

Wer ist diese Frau M.?

Ich hatte mein ganzes Schächtelchen Zündhölzer verbrannt. Jetzt ging ich in die Stube zurück und verwahrte die Aktenstücke, indem ich ein Schulbuch herausnahm, um zum Schein zu lernen, wieder in der Schublade. Als der Vater mich da hantieren sah, kam er herbei, nahm das Buch und verschloß es ganz gelassen im gewohnten Schranke. Alterchen war diesmal zu spät aufgestanden.

Ich hatte nun Anlaß und Stoff zu Vermutungen und Schlußfolgerungen und war darin nicht träge.

Den Doktor Hart kannte ich wohl. Er war unser Hausarzt und zeigte ein besonderes Interesse an mir. Seit ungefähr einem Vierteljahre durfte ich jeden zweiten Sonntag zu ihm ins Haus, wo er mir erlaubte, aus seiner großen Bibliothek Bücher zum Lesen auszuwählen. Jedesmal schenkte er mir eine Kleinigkeit und endlich versprach er mir, wenn ich mich gut verhalte, fleißig sei und ein gutes Schulzeugnis vorweisen könne, mich nach der Entlassung aus der Alltagsschule das Gymnasium besuchen zu lassen, worauf ich nicht wenig stolz war und mich freute. Er war also in meinen Augen mein Wohltäter; daß er gar noch Kostgeld für mich zahlte, erhöhte seinen Wert noch besonders. Aber wer war denn diese Frau M. in Baumen? In was für einer Verbindung stand sie mit meinem geheimnisvollen Dasein?

Die Pflegeeltern enthielten mir geflissentlich jede Aufklärung vor. Hatten sie mir bis dahin viel Gutes erwiesen und war ich ihnen dafür durch fleißiges 29 Zugreifen dankbar gewesen und im Herzen wohlgesinnt, so fühlte ich jetzt, so oft ich über meine Lage nachdachte, Groll und Haß in mir gegen sie aufsteigen. Gaben sie sich auf der einen Seite Mühe, mich auf gute Wege zu bringen, so zerstörten sie auf der andern mit eigenen Händen das Vertrauen, das ich ihnen entgegenbrachte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als gradaus Doktor Hart um Aufschluß anzugehen. Ich tat es in einem großen Briefe, den ich nachts beim Mondschein auf meiner kalten Kammer aufsetzte. Ich redete ihn als Vater an und bat ihn um seine Liebe, indem ich ihm in möglichst grellen Farben mein trauriges Leben schilderte und meine große Sehnsucht, aus demselben herauszukommen. Ich wäre zufrieden, beteuerte ich, wenn er, ohne sich öffentlich als Vater zu bekennen, mir im stillen vertraue: »Sei zufrieden, Heinrich, ich bin dein Vater und werde für dich sorgen. Sei still und werde ein braver Jüngling.« Dann wäre ich überglücklich; er solle mich nicht länger so ganz allein im Elend lassen, so verachtet und verstoßen.

Der Brief wurde zur Post gegeben. Sehnlich harrte ich auf Antwort. Als ich am nächsten Abend am Brunnen eine Flasche Wasser holen sollte, sah ich Doktor Hart die Kapfgasse heraufkommen und den Weg zu meinem Pflegevater einschlagen. Freudiger Hoffnung voll, wollte ich ihm eilig folgen, schlug aber, als ich rasch um die Hausecke bog, die Flasche in Stücke. Doch machte ich mir nichts daraus. Ich sah Doktor Hart als meinen Beschützer an, der mich vor Strafe und Mißhandlung bewahren würde. 30

Als ich die Stubentür öffnete, erkannte ich am glühenden Kopf des Arztes und aus der Miene, wie er dem verdutzten Schuhmacher meinen Brief hinwarf und ihn beschuldigte, mich dazu angestiftet zu haben, daß Schwefel in der Luft war. Ich befürchtete ein schlagendes Wetter und wollte mich eben drücken, als mich Doktor Hart barsch anfuhr: »Bleibst hier!«

Wie er mich ansah, glaubte ich, er wolle mich mit Haut und Haar auffressen. Statt dessen überschüttete er mich mit Kosewörtchen wie Schlingel, Taugenichts, Galgenstrick und was dergleichen Süßigkeiten sind. Dann drohte er meinem Pflegevater und mir, sofern wieder derartiges geschrieben oder nur geredet werde, mit dem Gericht. Mir verbot er sein Haus; vom Besuch des Gymnasiums brauche ich auch nicht mehr zu träumen, da ich ja zu nichts Besserem tauge als zu einem Schuster.

Da wagte mein Pflegevater die Bemerkung, Hans Sachs, der große Dichter, sei auch ein Schuster gewesen, was den Schreier einen Augenblick verblüffte, worauf er nur um so heftiger tobte. Sein Eifer und seine Wut verrieten mir indessen sein Schuldbewußtsein.

Auf eine gehörige Züchtigung gefaßt, war ich nach dem Weggang des Herrn Doktor Hart, der sich unter der Tür noch über meine Undankbarkeit beklagte, ordentlich erstaunt, als mir meine Pflegeeltern nur gelinde Vorwürfe machten. Sie fragten mich, wer mir, dem elfjährigen Bürschchen, den Brief geschrieben habe, verwunderten sich über meine Schlauheit und wollten von mir erfahren, wer mir mitgeteilt habe, 31 daß Doktor Hart mein Vater sei. Es war nichts aus mir herauszulocken. Die zerschlagene Flasche wurde nicht erwähnt. Und von dem Tag an behandelte man mich mit mehr Respekt. Ich merkte, daß man den kleinen Knirps, der es so dick hinter den Ohren hatte, ein wenig fürchtete: Sie hatten noch aus einem andern Grund ein böses Gewissen. Sie schickten mich fast täglich auf die Zimmerplätze, um Späne und Holzrinde – mehr oder weniger öffentliches Gut – einzusammeln. Brachte ich viel, wurde mein Stück Brot größer oder die Obstauflage verdoppelt; besonders wertvolle Stücke oder Geräte, die ich etwa in den Sack mitlaufen ließ, wurden vergütet. Auch beim Apfelsammeln im Herbst begnügte ich mich nicht mit dem Obst, das regelrecht gefallen war: ich brachte große Mengen »hängendes« Obst nach Hause, so daß der Keller für den ganzen Winter wohl versehen war.

Verriet ich den Raub, so waren meine Pflegeeltern als Hehler schlimm daran. Davor hätte ich mich freilich geschämt.

Seitdem habe ich einsehen gelernt, daß eigentlich der Staat, der diese Erziehung zum Stehlen und Rauben duldet, für die unausbleiblichen Folgen verantwortlich ist, und ich entschuldige meine Eltern zur Hälfte. Das erlaubte Betteln und Einsammeln führt unerzogene Menschen notwendig zum unerlaubten Stehlen und Rauben, da sich nirgends eine genaue Grenze ziehen läßt.

Um mich zu beschäftigen und mir so die Gelegenheit zum Entwerfen unnützer Pläne und müßiger Unternehmungen gegen das Schicksal zu entziehen, 32 hatte ich nun während meiner freien Zeit als Laufbursche zu dienen. Zuerst kam ich zu einem Herrn Oberst Goll, bei dem mir kleinliche häusliche und außerhäusliche Verrichtungen und Besorgungen oblagen. Die Haushaltung wurde von der Tochter Berta geführt, einer lieblichen und immer gleich freundlichen Jungfrau. Diese empfahl mich an die ihr verwandte Familie des Chirurgen Stoll, bei der ich jeden Morgen den Laden zu reinigen und die Schuhe zu putzen hatte, um hernach allerlei Einkäufe zu machen.

Die gute Frau Stoll, eine wahrhaft Fromme, hatte keine Ahnung von meiner Geriebenheit. Sie dachte von den Menschen immer nur das Beste, und so betrog ich sie fast täglich bei den Einkäufen, indem ich weniger oder geringere Ware heimbrachte, als sie mir bezahlt hatte. Häufig gab es von hier aus Traktätchen zu vertragen. Eines Tages aber hatte ich ein seltsames Pfännchen zu reinigen, in dem noch ein Stück harten, unappetitlichen Talges lag. Ich fragte wißbegierig, wozu der Talg diene, worauf sie antwortete, wer sich Zähne einsetzen lassen wolle, müsse diese Masse in den Mund nehmen und darauf beißen, damit sich die Zahnlücke darin abbilde. Nach dem Modell würden dann die Zähne eingerichtet. Da bemerkte ich, dieses garstige Zeug würde ich niemals in den Mund nehmen, worauf sie entgegnete: »O, Fräulein Goll hat es auch schon im Munde gehabt!«

»Wie?« rief ich aus, »Fräulein Berta hat falsche Zähne?«

Da war Frau Stoll etwas betreten und verbesserte sich kleinlaut, das Fräulein habe nur probiert. 33

Als ich am folgenden Morgen zur gewohnten Stunde wieder zur Arbeit kam, stand sie unter der Tür und sagte: »Wie lange habe ich schon auf dich gewartet, Heinrich! Komm herein in die Stube, ich habe etwas mit dir zu reden.« Da gestand mir die Frau unter Tränen, daß sie mich gestern angelogen habe. Fräulein Goll habe sich wirklich Zähne einsetzen lassen. Sie selber habe wegen ihrer Lüge die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie bat mich um Verzeihung, daß ich ganz erstaunt war und nicht wußte, wie ich mich zu benehmen hatte. Die kleine Sünde sei ja ganz am Platze gewesen, entgegnete ich endlich. Da fuhr sie auf: »Gott, bist denn du auch schon so weit? Keine Sünde kann klein sein, denn sie ist gegen den großen Gott des Himmels und der Erde begangen worden! . . . Darum verzeih mir, Heinrich, o verzeih mir!«

Sie warf sich auf die Knie vor mir und faßte meine Hände und wand sich in Qual. Da sah ich, welch tiefen Schmerz die Lüge diesem frommen Gemüte bereitet hatte, und die Reinheit ihrer Seele gewann vor meinem Geiste eine schreckhafte Größe und zwang mich zu ihr nieder. Ich gab ihr wortlos die Hand, und sie küßte sie und dankte mir. Dann nahm sie die Bibel vom Tisch und las mit beweglicher Stimme einen Dankpsalm, daß ich ergriffen und verwirrt wurde. Vor solchem Ernst war meine jugendliche Leichtfertigkeit gerichtet und ohne Bestand. Je tiefer sie sich hineinlas, je mächtiger der Ausdruck ihrer Seelenangst vor dem ewigen Gericht wurde, desto schwächer wurde es mir ums Herz, desto haltloser kam ich mir vor. Und als sie sich endlich beruhigte, weinte ich. 34

Da hatte sie Mitleid mit mir und fragte, warum ich weine. Ich brach in Schluchzen aus und gestand: »Liebe Frau Stoll, ich habe . . . Sie schon oftmals angelogen und sogar bestohlen.«

Da stand sie auf, verwarf die Arme, als ob sie zum Himmel beten wollte, und rief wie in Verzückung: »Gepriesen sei Gott! Nun kannst du gerettet werden! Christus reinigt dein Herz, wenn du es ihm zutraust, daß er es tut. Vielleicht bin ich sein Werkzeug!«

Sie nahm sich fortan inniger meiner an, betete oft mit mir und empfahl mich an gleichgesinnte Leute, von denen ich nur Gutes lernen konnte. Eines Tages kam der Sohn des Obersten Goll zu mir und händigte mir einen sorgfältig verschlossenen Brief ein, den ich zu Fräulein Berta Hart tragen und nur ihr persönlich übergeben sollte. Das war die Tochter von Doktor Hart und in meinen Augen also meine Schwester.

Mit einigem Stolze stieg ich zu dem die Treppen hinan, der mir sein Haus verboten hatte. Mit was für einer herrlichen Sendung war ich betraut! Liebesbriefe meines Herrn an meine Schwester!

Ich wählte die Audienzstunde des Gestrengen. Da war ich am sichersten, den Brief an die richtige Adresse abgeben zu können. Fräulein Berta öffnete mir die Tür und wollte mich auf das Zimmer ihres Papas weisen. Ich bedeutete ihr, zu schweigen, und gab ihr das duftende Briefchen, worauf sie mich groß anschaute und mir ein ganz neues Silberstück als Botenlohn gab. Sie entließ mich huldreich und glaubte, ich sei in die Sache eingeweiht.

So hatte ich die Freude, das liebe Mädchen noch 35 vielmal zu sehen. Zweimal begegnete mir der Herr Papa, als ich aus dem Hause trat. Ich gönnte ihm nur höhnische Blicke. Auch auf der Straße traf ich ihn. Ich sah ihn auch da keck und spöttisch an. Das war mehr, als er ertragen mochte. Dann zog ich die Mütze nicht mehr vor ihm und brachte es durch mein Benehmen so weit, daß er mir auswich, wenn er mich von fern erblickte. Einmal kehrte er geradenwegs um. Da fühlte ich mich als Sieger.

Es fehlte mir nicht an männlichem Ehrgeiz. Das zeigte sich auch in der Schule, wo ich zu den Ersten gehörte. Weil mir der Gesangsunterricht, so wie man ihn damals betrieb, verhaßt war, fand ich allerlei Mittel, um ihn zu schwänzen oder den Lehrer zu veranlassen, ihn durch meine Lieblingsfächer zu ersetzen. Einmal goß ich dem Lehrer heimlich einige Schwämme voll Wasser in seine Geige. In der folgenden Gesangsstunde war ich sehr gespannt auf die Wirkung. Als der Lehrer das arme Ding aus dem Kasten nahm und ihm die gewohnten Töne entlocken wollte, kam ein nie gehörtes Geächze aus seiner Seele hervor, wie wenn Hund und Ente zur selben Zeit Musik machen, und dann fiel das Geseufze lebensmüde in sich selbst zusammen. Der Lehrer meinte, die Geige müsse an einem feuchten Ort gelegen haben, schloß sie wieder ins Futteral ein – und die Geographiestunde begann. Darin war ich Meister.

Fühlte ich mich unter solchen Umständen auf der Höhe des Daseins, so sollte der Dämpfer nicht lange ausbleiben. Ich sollte den Doktor Hart nicht umsonst geärgert haben. Wie frei war es um mich, als ich 36 nach der Entlassung aus der Alltagsschule meinen mannigfaltigen Beschäftigungen bei ausnahmslos lieben Menschen nachgehen durfte. Da einen Laden reinigen, dort einem Herrn seine sieben Tabakspfeifen putzen und füllen, hier einem reichen Junggesellen den Hund füttern, dort einem andern einträgliche Botendienste verrichten! Und welch schmackhafte Küche bekam ich allerorten zu kosten!

Während ich schon von bald zu erringender Freiheit träumte, arbeitete man bereits am Sturze meiner Fürstlichkeit.

Ich hatte, von Frau Stoll und andern zur Sparsamkeit und Nüchternheit angehalten, mich daran gewöhnt, mein erworbenes Geld auf die Sparkasse zu tragen. Infolge der wiederholten Einladung meines Pflegevaters, ihm die Wochenlöhne abzuliefern, kam ich auf den dummen Einfall, zu behaupten, ich hätte mein Geld zum Teil verloren, zum Teil vertan. Doktor Hart zahlte mir meine Nücken und Tücken heim, indem er verfügte, daß ich Schuster lernen müsse. Überzeugt, daß ich früher oder später das mir verhaßte Gewerbe als ein unnatürliches Joch abschütteln werde, ergab ich mich in mein Geschick, zog das Schurzfell an und die berufsmäßigen Schlappschuhe und bestieg das Dreibein. Der Ausblick auf dem im sechsten Stocke liegenden Raum war nicht übel; auf allen vier Seiten gingen die Fenster über die Stadt hinweg in die freie Landschaft; aber an den Umgang mit vornehmen Menschen gewöhnt, sowie an freie Bewegung, fand ich ihn gar bald enge und ekelhaft, da neben mir widerwärtige Zotenreißer arbeiteten, die sich an der sittlichen Empörung des 37 Lehrlings weideten und ein Vergnügen daran fanden, mich zu verderben, indem sie meine Phantasie mit den schmutzigen Bildern der ihrigen füllten.

Innerlich lehnte ich mich gegen ihre Behandlung auf, wenn ich auch bald heraus hatte, daß es am klügsten war, wenn ich nicht gegen den Strom schwamm. Da ich häufig geflickte Schuhe ins Theater tragen mußte, kam ich mit dem Musenvölklein in Berührung, nahm gelegentlich an den Aufführungen als stumme Person teil und war bald ständiger Statist. Meine Pflegeeltern waren es zufrieden, da ich von jeder Aufführung sechzig Kreuzer Künstlerlohn heimbrachte. Ich lernte das Schauspielervölklein kennen und fand, es sei doch einigermaßen ein netter Ersatz für die schwer vermißte bessere Gesellschaft, wenn ich es verglich mit meiner Sippe vom Pechdraht.

An Sonntagnachmittagen war ich mit einem halben Dutzend anderer Knaben aus meiner Klasse zu der frommen und edlen Frau Pestalozzi eingeladen, die sich viel mit uns abgab, uns nützlich beschäftigte, mit uns betete, uns Erfrischungen bot und hie und da Spaziergänge mit uns in die schöne Umgebung Münsters unternahm, welche sie dann benützte, um erbauliche Betrachtungen über das Walten Gottes in der Natur anzustellen. Noch erinnere ich mich, wie sie uns an einem nebligen Wintertag aus der Stadt hinaus auf die Berghöhe führte, wo uns strahlender Sonnenschein umfing. So wie das unter uns wallende graue Nebelmeer allmählich von der Sonne aufgezehrt wurde, verhieß sie uns, werde das trübe, frostige Leben des Sünders durch die unendliche, nie nachlassende Allmacht und Güte Gottes durchleuchtet, 38 bis sein Herz sich kläre und erwärme und das Böse sich auflöse und verschwinde wie die Nebelwolke.

Ich war nahe daran, statt des verlornen irdischen Vaters die Gemeinschaft des himmlischen zu genießen, und glaubte seine Hand zu fühlen, die er mir in seiner Barmherzigkeit darreichte. Auch zu Hause hatte ich ein schönes Beispiel an der Pflegemutter, die sich zu entwickeln begann. Sie hielt ihre beiden Kinder, von denen mir das Töchterchen Agathe besonders ans Herz wuchs, musterhaft, kochte für fünf Schuster, spann alles Drahtgarn, faßte alle Pantoffeln und Kinderschuhe oben herum mit Litzen ein, besorgte alle Wäsche und alle Flickerei und sah im Hause auf Reinlichkeit und Ordnung, und endlich brachte sie es noch dazu, ein Dutzend Kostgänger anzunehmen. Es wurde damals in unserer Nähe ein Tunnel gebaut, und so benützten meine Pflegeeltern die Gelegenheit, ein Stück Geld zu verdienen, indem sie Arbeiter in Kost und Logis nahmen. Was ich unter diesem rohen Volke erlebte, kann ich nicht beschreiben.

Ein Lamm unter Wölfen war ein Vorarlberger Maurer. Florian Geyer hieß er und war so gut und fromm wie der Sohn eines Heiligen. Der nahm mich oft in seinen Schutz und schickte mich fort, wenn es unter den Kollegen zu abscheulich zuging. Es war ein Glück, daß die Mutter ihre beiden Kinder von dem Umgang mit diesen Menschen fernzuhalten wußte, der für mich eine vollendete Schule des Lasters war. Als der Vater merkte, wieviel Geld für Getränke ausgegeben wurde, fing er selber an zu wirten und nachher noch zu trinken und wir mit ihm, daß ich kaum merkte, wie es mit mir abwärts ging. Nur 39 wenn ich Agathe im einzigen stillen Raum im Hause bei ihren Schulaufgaben behilflich war, kam immer wieder das Gefühl in mir auf, ich sei für eine bessere Welt geboren. Wenn ich dem Kind das rötliche Blondhaar streichelte und ihm in die blauen Augen sah, war's mir, als hätte ich einen Engel berührt, dessen Nähe mich segnete. Je häufiger ich sah, wie junge Leute in unserem Kosthaus unter dem Einfluß von Unmenschen und Verbrechern zugrunde gingen oder vertierten, wie andere sich nach dem ersten Zahltage, die Gefahren witternd, flüchteten wie vor der Pest, desto häufiger begab ich mich in den Schutz des lieben Kindes. Es sprang mir gerne auf die Knie, warf mir die Händchen um den Hals, küßte mich und hörte mit Andacht Märchen und Geschichten an. Unter andern auch diejenige von dem Köhlerknaben aus Valenzia, in welcher ein verstoßener Knabe die Hauptrolle spielt. Die Eltern hörten zu und warfen einander bei gewissen Situationen, die den meinigen entsprachen, merkwürdige, fast ängstliche Blicke zu.

Sogar im Rausche dachte ich an das Kind und seine Aufgaben. Als ich aber in solchem Zustande einmal mich aufraffte, die Wirtsstube und die brüllenden Gesellen jählings verließ, um Agathe aufzusuchen, und torkelnd auf ihre Stube kam, wurde sie so betroffen und erschreckt, daß sie hinter dem Tisch hervorsprang, mich anstarrte und ausrief: »Mutter, der Heinrich ist krank!« Jammernd eilte sie zu ihrer Mutter in die Küche. Die schreckhaften Blicke des Kindes gingen mir in die Seele, ich kehrte um, warf mich in der Schlafkammer weinend auf mein Bett und schlief ein. Darauf hielt ich mich einige Wochen 40 gut, entzog mich dem Wein und den schlechten Gesellen und fühlte, daß es mir in Leib und Seele behaglicher wurde. Zu gleicher Zeit geschah etwas, das mir zu denken gab, weil es mein zukünftiges Geschick bestimmen konnte.

An einem Sonntagnachmittag schlenderte ich den Hirschengraben auf und nieder. Da kam eine unbekannte Frau auf mich zu, drückte mir eine Papierrolle in die Hand und sagte: »Das ist dein Vater!« Darauf verschwand sie. Wie ich das Papier aufrollte, war's ein Kupferstich, der den mir nur zu wohl bekannten Doktor Hart sehr schön und gelungen darstellte. Da wurden alte Wunden aufgerissen. Ich verwahrte das Bild zu Hause, ohne jemand etwas von der Begegnung zu sagen, und gelobte mir's aufs neue, das Geheimnis meiner Geburt zu entdecken, kost' es, was es wolle. Ich benützte den Namenstag meiner Pflegemutter, um sie mir günstig zu stimmen und sie in gute Laune zu versetzen, indem ich ihr eine wollene Winterjacke schenkte. Abends gesellte ich mich in der Küche zu ihr und bat sie flehentlich, mir zu sagen, ob meine Eltern gestorben seien oder wo ich sie finden könne. Die Furcht vor den Drohungen Doktor Harts verleitete sie zu der Aussage, sie seien gestorben. Als sie mich bat, ausweichend und gequält, ich solle nicht mehr fragen, merkte ich, daß es eine Lüge war. Doch fügte sie noch hinzu, Doktor Hart bezahle das Kostgeld, weil er damit die treue Freundschaft zu meinem verstorbenen Vater betätigen wolle.

O diese Lügen! Welch giftiges Unkraut mußte in meinem jungen Herzen aus solcher Saat aufgehen! Wie sann ich Tag und Nacht auf Listen und Ränke, 41 um meine Pflegeeltern zu einem Bekenntnis zu zwingen.

Eine bauliche Veränderung im Hause veranlaßte, daß mein Bett wegen Platzmangel in die Wohnstube hinter den Ofen gestellt wurde, während Berlinger und seine Frau im Alkoven schliefen. Schon in der zweiten Nacht fing ich an zu träumen und dabei laut zu reden; allerdings nur über ganz unbedeutende Vorkommnisse im Hause und in der Werkstatt. In der vierten und fünften Nacht aber gab ich meinen Träumen andern Inhalt. Ich träumte von meinen wirklichen Eltern, wie wenn sie mich nach langem Suchen endlich gefunden und heimgeführt hätten; besondere Freude äußerte dabei die Mutter. Dann machte ich in weinerlichem Tone die Bemerkung, es gehe mir am Ende noch wie dem Köhlerknaben aus Valenzia. Da hörte ich, wie die Pflegemutter zu Berlinger sagte: »Er weiß wohl, daß seine Mutter noch lebt!«

Das war genug für mich, und ich träumte von da an nicht mehr laut. Allein, da ich nun aus Erfahrung wußte, daß weder Berlinger noch seine Frau offene Fragen wahrhaftig beantworteten, so mußte ich auf Schleichwegen vorgehen, mußte sie irgendwie zu überrumpeln suchen.

Sobald ich den neuen Feldzugsplan entworfen hatte, begann ich die Repetierschule und den Religionsunterricht zu versäumen und verbummelte die entsprechende Zeit, in der sicheren Erwartung, daß bald eine Beschwerde gegen mich einlaufen werde.

Berlinger wurde nach einigen Tagen von Herrn Pfarrer Pestalozzi vorgeladen, mit der Aufforderung, mich mitzubringen. 42

»Was hast du wieder angestellt, Heinrich?« fuhr mich der Pflegevater an. Ich antwortete, er werde es ja bald erfahren.

Beim gestrengen Herrn Pfarrer angekommen, bekam ich mein Sündenregister vorgelesen.

Berlinger war entrüstet und brachte nun noch seine eigene Anklage auf Widerspenstigkeit vor.

Beide glaubten, ich fühle mich vernichtet, und wollten anheben mit dem Urteilsspruch. Ich sollte zu Hause gezüchtigt und wenn nötig mit Hilfe der Polizei in den Unterricht geführt werden.

Diese Situation hatte ich längst herbeigesehnt, und ich erklärte den Männern rund heraus, daß mich weder in den Schulunterricht noch in die Religionsstunde irgendeine Gewaltmaßregel bringen werde, bevor der hierstehende Pflegevater mir gestanden habe, wo sich meine wirkliche Mutter befinde, denn ich sei überzeugt, daß sie noch lebe. Und ich bekannte, daß ich mich absichtlich gegen die Ordnung vergangen habe, um eine solche Gegenüberstellung wie die gegenwärtige zu veranlassen. Solange die Behörden nicht die Gebote der Ordnung gegen mich anwenden, kehre ich mich nicht an ihre Ordnung.

Da guckten die beiden einander gar verdutzt an, und ich weidete mich an ihrer Verlegenheit.

Woher ich wisse, daß meine Mutter noch lebe.

Da gab ich gerne Auskunft und drohte ihnen, daß ich sicher einen großherzigen Advokaten finden werde, der sich meiner annehmen und meine Sache vielleicht bis vor das Landesgericht bringen werde, wenn sie beide ihre heilige Pflicht mir gegenüber länger versäumten. 43

Mein Lehrmeister bekam einen Kopf so rot wie unser Kupferkessel zu Hause, ob vor Scham oder Zorn, weiß ich nicht. Der Herr Pfarrer war verblüfft ob den ungeahnten Enthüllungen und der Dreistigkeit meines Auftretens.

Sie wollten sich beraten und begaben sich ins Nebenzimmer. Als sie wiederkamen, teilten sie mir gnädig mit, daß mir in Bälde Aufschluß über meine Eltern erteilt werden solle. Allein ich verlangte sofortige Erledigung, da es mir vorkam, als habe der Pfarrer mit Berlinger eine Abmachung gegen mich getroffen.

Man müsse erst mit verschiedenen Personen unterhandeln, meinten sie. Da verschärfte ich meine Drohung wie Geßler gegenüber Tell: Wenn mir bis Ende dieser Woche nicht die Adresse der Mutter gegeben werde, so sei ich gezwungen, die Presse zu Hilfe zu rufen. Es habe sich mir bereits jemand hierzu anerboten.

Das wirkte.

Der Herr Pfarrer führte mich in die Studierstube hinüber, wo er mir unter der Bedingung, daß ich die Mutter nicht etwa durch Besuche belästigen wolle, das Geheimnis enthüllte. Die Mutter habe so handeln müssen, da sie mich ein Jahr nach dem Tode ihres Gatten geboren habe. Ich sei nicht verstoßen, sie zahle ja alles und habe stets für mich gesorgt und mir die Gelegenheit verschafft, ein ordentliches Handwerk zu lernen. Da schossen mir vor Wut und Elend die Tränen in die Augen, und ich schrie und jammerte: »Und die Mutterliebe, Herr Pfarrer? Bezahlt sie die auch?« 44

Jetzt fühlte ich, daß der Herr Pfarrer wirklich Mitleid mit mir hatte.

»Ja, da hast du recht, Heinrich. Die Mutterliebe läßt sich nicht erkaufen.«

Doch legte er mir beim Abschied nochmals ans Herz, mich ruhig zu verhalten. Darauf sagte ich entschlossen, mit der Nennung des Namens meiner Mutter sei mein Versprechen aufgehoben; zwischen Mutter und Kind lasse sich keine Rücksicht irgendwelcher Art trennend einschieben. Den Meister sah ich am selben Tage nicht mehr, weder in der Werkstatt noch beim Abendessen. Am folgenden Tage fragte ich ihn, wieviel Geld man brauche, um ein ordentliches Werkzeug anzuschaffen; ich wolle auf die Wanderschaft gehen und mir das nötige Geld von der Mutter erbitten. Mit klopfendem Herzen ging ich nach Baumen und ließ mir das Haus des Präsidenten zeigen. Es war ein großes schönes Bauernhaus mit Scheunen und Stallanbau und steinerner Doppeltreppe mit schmiedeeisernem Geländer. Ein herrlicher Baumgarten lag davor. Dreimal ging ich vor dem Hause auf und nieder. Immer hoffte ich, durch einen günstigen Zufall mit der Mutter zusammenzutreffen. Er wollte sich nicht einstellen. Und siehe da! Ich fand den Mut nicht, sie im Hause aufzusuchen und zu begrüßen. Ich konnte diese Feigheit mir nicht erklären. War's das böse Gewissen? Die schlimmen Streiche, die ich schon verübte, gaben mir ja kein Anrecht, ein Mutterherz mein zu nennen. War's, daß das Eindringen in die Familie mir denn doch zu gewalttätig vorkam? Konnte ich der Mutter, so wie es lange meine Sehnsucht war, mit 45 freudestrahlendem Blick begegnen, ihr mit Liebe das Herz abgewinnen? Die Liebe ist wie der Tau, der sowohl auf Rosen als auf Nesseln fällt. Sie hätte gewiß auch die harte Rinde des Mutterherzens erweicht, wenn ihr Kind, Liebe im Auge, Liebe in Worten und Liebe im Herzen, ihr genaht wäre.

Wie hatte ich zu Hause geprahlt mit meinem Siege über die Mutter! Jetzt, wie ich vor der Türe stand, schauderte mich's, ins Haus derselben einzutreten.

Wie, da drinnen lebt deine Mutter, die dich um das Köstlichste auf Erden gebracht hat, um eine freudige Jugendzeit! Da draußen ihr Kind, das in frühen Jahren so mißführt wurde, daß alle Hoffnung auf Besserung dahin ist. Zwei Teufel sollten einander in einem Handel begegnen, jeder bei dem andern das voraussetzend, was er selber nicht geben konnte, weil er es nicht hatte: Liebe!

Ich brauchte mehrere Wochen, während welcher Zeit ich mein Gewissen erleichterte, indem ich mich zurückzog von den Gesellen und Kostgängern und nur noch mit Agathe verkehrte. Die Anhänglichkeit und Liebe des Mädchens gab mir wieder einiges Selbstvertrauen; es war mir, wenn ich sie an der Hand in die Stadt führte oder an den glänzenden See hinunter, wo die Welt so schön und rein und voller Licht war, als werde es in meiner trüben Seele auch hell, als müsse ich an der Hand dieser Kleinen noch den Weg zu einem herrlichen Leben finden. Ich hörte aus ihrem kindlichen Munde allerlei rührende Gedichte und Geschichten, worin die Rede war vom Mutterauge, das sich nicht täuschen lasse, und vom46 Mutterherzen, das sich nie verleugnen könne, und so gelangte ich allmählich zur Vorstellung eines ergreifenden Wiedersehens zwischen Mutter und Kind.

Endlich fand ich den Mut, mich dem Hause des Präsidenten neuerdings zu nähern. An einem Fenster sah ich eine Frau stehen. Rasch die Treppe hinauf, eh' dir der Mut sinkt! Sie war verschlossen. Rasch geläutet, eh' es dich reut. Die Tür öffnete sich, eine sauber, nicht vornehm, aber gut bürgerlich gekleidete Frau mit ergrautem Haar und ängstlichem Gesicht, aus dem ein großes schönes Augenpaar schaute, fragte mich nach meinem Begehren.

»Erlauben Sie, wohnt hier Frau Manesse?«

»Ja, was willst du von ihr?«

»Kann ich ein paar Worte mit ihr reden?«

»Ich bin Frau Manesse. Rede!«

»Grüß Gott, Mutter!« sagte ich mit unfreier und gedämpfter Stimme und streckte ihr die Hand entgegen.

Welch ein Ausdruck von Angst in ihrem Gesicht! Sie fing am ganzen Leibe zu zittern an und mußte am Türpfosten Halt suchen. Dann gab sie sich einen Ruck, sah sich rasch um, ob jemand im Hausflur sei, öffnete die Stubentür und ließ mich eintreten. Die Hand gab sie mir nicht. Sie ließ mich bei der Türe stehen, während sie sich setzte und nochmals nach meinem Begehren fragte, zugleich bemerkend, ich sollte nicht laut sprechen, damit es niemand höre; auch solle ich mich kurz fassen, da jemand kommen könnte.

Auch ich zitterte, aber vor Wut; so sehr erregte mich der eiskalte Empfang. – Woher ich wisse, daß sie hier wohne? 47

Ich erklärte es ihr. Dann brachte ich meine Bitte vor. Sie fand sie unerhört. »Mein Sohn August,« sprach sie, »ist bis nach Karlsruhe gekommen, ohne daß er Reisegeld brauchte. Überhaupt ist es den Handwerksburschen erlaubt, zu betteln.«

Ich kann nicht umhin, diese Aussage wiederzugeben. Denn was sie sonst bemerkte, scheint mir durch diese einzige Bemerkung an Herzlosigkeit übertrumpft zu sein.

Endlich erklärte sie, ich solle morgen die Pflegemutter zu ihr schicken, der sie etwas geben wolle.

Da konnte ich nicht mehr an mich halten und schüttelte alles, was sich seit fünfzehn Jahren an Gram und Bitterkeit und Groll in mir gesammelt hatte, über sie aus.

Da öffnete sie die Tür und ich ging hinaus.

Wer sich an den Eltern vergreift, dem wächst die Hand aus dem Grab heraus, lautet ein alter Spruch. Weder Himmel noch Erde wollen einen solchen Bösewicht aufnehmen.

Ich aber fühlte Lust, auf der Treppe umzukehren und diejenige, die ihr Kind verstoßen hatte, an den Haaren über die Stufen herunterzureißen. Was hielt mich davon zurück? Die furchtbare Enttäuschung hatte mich elend gemacht, mir die Kraft gelähmt. Nur ein einziges liebevolles oder freundliches Wort, eine einzige stille Träne, einen Händedruck, eine Liebkosung, wie ich sie etwa zu Hause gesehen zwischen der Frau Berlinger und ihrer Agathe – und ich wäre glücklich gewesen, wäre mir nicht mehr verstoßen vorgekommen, hätte mich sicher und mutig gefühlt im Gedanken, daß ein Mutterherz irgendwo für mich schlage. 48

Es war etwas in mir entzweigegangen: der Glaube an die Menschheit. Wer wollte mich lieben, wenn es die eigene Mutter nicht tat?

Die Weisheit des göttlichen Wortes war mir damals noch ein verschlossenes Buch, obschon ich im Unterricht viel davon hörte. Ich sollte sie erst erfahren. Die allüberwindende Macht der Menschenliebe kannte ich nicht, da ich den Händen der Frommen und Guten entrissen worden war. Mein jugendlicher Geist war nur allzuleicht entschlossen, dem Haß der Welt mit Haß zu begegnen und den Kampf ums Dasein auf diesem Boden zu führen.

Ich war der Verzweiflung nahe, als ich mir auf dem Weg nach Hause vorstellte, wie ich neben meinem Leid noch die Schadenfreude der Pflegeeltern werde durchkosten müssen. Wie ich ihnen die Begegnung im Hause des Präsidenten schilderte, waren sie entrüstet über die Herzlosigkeit meiner unnatürlichen Mutter, und mein Lehrmeister wollte schnurstracks zu ihr gehen, um ihr Vorwürfe zu machen. Doch die Frau hielt ihn zurück. Berlinger hatte inzwischen, nachdem der Tunnelbau vollendet war, das Wirten und Trinken aufgesteckt und war wieder ein Mensch geworden. Zum erstenmal in meinem Leben genoß ich das unsägliche Glück, daß mir diese Leute wirkliche Teilnahme bewiesen. Die scharf ausgesprochene Auflehnung gegen die mir widerfahrene Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit hob mich, beseligte mich. Es entstand dann eine Art Bündnis zwischen uns, als Frau Berlinger am Tage darauf bei ihrem Besuch wohl die sechzig Silberstücke für mich erhielt, zugleich aber auch die gröbsten und ungerechtesten Vorwürfe 49 entgegennehmen mußte, weil sie das Geheimnis ausgeplaudert habe. Nun ratschlagten wir häufig zusammen, was gegen die Mutter zu unternehmen sei. Zeitungsinserate sollten sie aus ihrer Ruhe aufschrecken. Wir lauerten ihr vor dem Hause auf; wenn sie nicht erschien, erzählten wir den vorbeigehenden Leuten von dem Wesen, welches drinnen wohnte. Der Schuster schrieb dem Präsidenten Briefe. Endlich veranlaßte man den Pfarrer in Baumen, sie vorzuladen und ihr ins Gewissen zu reden. Jetzt wurde die Frau Berlinger nochmals zu meiner Mutter eingeladen und ihr der Vorschlag gemacht, mich gegen eine Entschädigung von fünfhundert Franken zum Auswandern zu bewegen. Ich schrieb empört, ich hoffe sie mit der Zeit zur Auswanderung nach Amerika zu veranlassen, wo sie noch mehr Gelegenheit habe, sich armen Kindern wohltätig zu erweisen, während sie das eigene Kind im Elend verkommen ließ.

Berlinger wollte einen Prozeß gegen sie einleiten, wurde aber durch Drohbriefe Doktor Harts davon abgebracht.

Die Vorbereitung auf die Konfirmation, die ernsten, manchmal weihevollen Stunden, die uns der Herr Pfarrer gab, rissen mich dann aus diesem gehässigen, rachsüchtigen Treiben heraus. Da ich mit den Söhnen großer Herren als vollkommen gleichberechtigt vor Gott betrachtet und behandelt wurde, begann ich meinen Menschenwert zu fühlen und kam von den gemeinen Ränken ab. Nur gefiel es mir nicht, daß wir uns durch ein Gelübde verpflichten sollten, dem Glauben treu zu bleiben, und ich schrieb unserm Herrn Pfarrer, den ich wegen seiner Unparteilichkeit 50 und Güte recht lieb hatte, mit verstellter Handschrift einen namenlosen Brief, worin ich erklärte, daß ich für meine Person dieses Gelübde nie und nimmer freiwillig ablege; sofern ich später einmal eine andere Kirche, ein anderes Bekenntnis für besser halte und es annähme, müßte ich ja treubrüchig werden. Ich komme also mit einem geistigen Vorbehalt zum Abendmahl.

Der Brief warf Staub auf, der Herr Pfarrer flehte vor der Klasse den Schreiber, dessen Vater offenbar einer Sekte angehöre, an, sich zu nennen, indem er zugleich in Abrede stellte, daß ein Konfirmand diesen Brief geschrieben haben könne. In mir vermutete er den Urheber kaum, sonst hätte er mir nicht den schönen Abschiedsspruch gegeben: »Der, so in dir das gute Werk angefangen hat, der wolle es auch vollenden, bis auf den Tag Jesu Christi!«

Und jetzt? . . . Nach mehr als zwanzigjähriger Irrfahrt, nach Überstehung von Ängsten und Todesgefahren, Schiffbruch, Kriegselend und Seuchen, fühle ich mich freier in Christo als je und meinem Herrn, dem Erlöser, nahe.

»Daß in Erfüllung geht
Hoffnung, ist Gott gewillt;
Über die Erde weht
Sehnsucht, von Gott gestillt.«

So singen in einer Dichtung diejenigen, die das Kreuz auf sich genommen. Auch ich bin ein Kreuzfahrer und habe für das heilige Grab gestritten, damit Gott in mir lebendig werde und lebendig bleibe für und für.

Aber noch lange verhüllten mir die Wolken, welche, 51 von himmlischem Glanz umsäumt, über die Erde wandern und einander das Hohelied von der menschlichen Seligkeit zusingen, sinnverwirrend das Haupt und den Ausblick auf den engen Pfad zur Heimat – des Herzens.

 


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