Adolf Vögtlin
Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale
Adolf Vögtlin

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16. Das Friedensjahr.

Den trostlosen Spuren des erbitterten Kampfes folgend, der die Bourbaki-Armee, achtzigtausend Mann stark, nach der Schweizergrenze abgedrängt hatte, suchte ich diese auf dem kürzesten Wege zu erreichen. Zuerst begleitete mich ein Elsässer, der aus meinem Schweizertum dadurch Kapital zu schlagen wußte, daß er mich bei Bürger und Bauer als Angehöriger der Nation vorstellte, welche in so überaus großherziger Weise die versprengten Söhne Frankreichs verpflege, im Gegensatz zu der deutschen, welche den gefangenen Franzosen nur Brot und Wasser zukommen lasse. Die Erzählergabe des Phantasten, dem es nur daran gelegen war, sich mit Ehren durch die Welt zu betteln, und der zu diesem Zwecke die Zuhörer ganze Nachmittage mit lügenhaften Schilderungen aus dem Kriege so trefflich unterhielt, daß man uns Essen und Unterkunft umsonst gewährte, hatte zur Folge, daß wir nur langsam vorwärts kamen. Zuletzt wurde mir seine Frechheit gegenüber den Gastgebern unerträglich, und ich schüttelte ihn ab.

Ein Stück weit wanderte ich alsdann mit einer Barmherzigen Schwester, die von Dijon aus nach dreijähriger Abwesenheit auf Besuch in ihr Elternhaus zurückkehrte. Es dunkelte schon, und wir hatten noch einen viertelstundenlangen Wald zu durchqueren, 336 der unmittelbar vor ihrem Dorfe lag. Erst zögerte sie, diesen Weg mit einem Fremden zurückzulegen, und blieb immer einige Schritte zurück. Ich merkte, daß sie betete, wahrscheinlich zu irgendeinem Schutzheiligen. Dann wurde sie zuversichtlich, und von dem langen Wege ermüdet und an den Füßen wund geworden, überließ sie mir den Arm, worauf wir in traulichem Gespräch weiterpilgerten. Sie versprach, dafür zu sorgen, daß ich die kommende Nacht wohl aufgehoben sei. Als wir bei ihren Eltern ankamen, machten diese große Augen über ihren Begleiter. Sie nahmen mich aber, nachdem die Schwester über mich Auskunft gegeben, sehr freundlich auf und meinten, ich sollte den ganzen Abend in ihrer Gesellschaft bleiben. Allein es entging mir nicht, daß die guten Leute einander viel zu sagen hatten. Die Mutter mußte sich vor lauter Freude beständig das Wasser aus den Augen wischen. Und so zog ich mich zeitig auf mein Zimmer zurück und schlief den Schlaf des braven Mannes, der tief ist und lange dauert.

Andern morgens in später Frühe fragte mich einer der Söhne, woher ich sei und wohin ich wolle. Als ich erklärte, ich gehe nach der Schweiz, nach Luzern, meinte er, ich hätte gewiß Sehnsucht nach »alle Tage dreimal Kaffee und Kartoffeln ohne Schmalz«, wie sein Bruder es als Internierter genieße. Dieser war im Tößtal bei armen Fabrikleuten einquartiert gewesen, die ein Kartoffeläckerchen ihr Hauptbesitztum nannten. Das lautete nicht gerade schmeichelhaft; wäre es auf ihn angekommen, hätte man mich kaum zum Frühstück eingeladen; doch die Schwester und ihre Aussagen über mich verschafften mir mehr Ansehen. 337

Ich schied mit freundlichem Andenken und lenkte meine Schritte den letzten Hügeln zu; von Pontarlier ging's nach Verrières. Bald erkannte ich an den vielen Zigarrenstummeln, die auf der Straße lagen, daß ich auf heimatlichem Boden war.

In Neuenburg machte ich gründlich Rast, um mich in Stand zu setzen und die Kleider, die Not gelitten, wenn nicht in salonfähige, wenigstens so in Ordnung zu bringen, daß sie bei einem allfälligen Zusammentreffen mit Agathe dieser in Anwesenheit Dritter keine Verlegenheit bereiten würden.

Jetzt aber ging es mir zu langsam auf Schusters Rappen; selbst der Eisenbahnzug brachte mich nicht schnell genug nach Luzern.

Diesmal stieg ich nicht in der Herberge ab, sondern suchte gleich dadurch, daß ich einen bessern Gasthof bezog, mich einer höheren Gesellschaftsklasse zu nähern. Aus einem Fremdenblatt erfuhr ich den Aufenthaltsort Agathes und die gleiche Nummer brachte mir ein anderes Glück. Meine Augen fielen auf ein Gesuch, worin ein Saisongasthofbesitzer einem zuverlässigen, sprachgewandten, reiferen Manne eine einträgliche Portierstelle anbot. Ich stellte mich am nächsten Morgen vor, erzählte, wo ich gewesen, was ich getrieben, und gestand, daß ich mich nach dem Verkehr mit Menschen und einer nützlichen Tätigkeit sehne. Der hohe, schlanke Mann trat nahe an mich heran und sah mir lange durch seine scharfen Gläser in die Augen. Meine Zeugnisse überflog er nur mit einem Blick und gab sie mir zurück mit den Worten: »Ich beurteile meine Angestellten nur nach dem, was sie mir leisten. Ich verlange für mich unbedingten 338 guten Willen, Zuverlässigkeit und schneidige Dienstfertigkeit gegenüber meinen Gästen . . . Können Sie eine Sicherheit hinterlegen?«

Ich sah zu dem hohen Manne, dessen Blick mir in die Seele ging, erstaunt empor. Ein feuriger Kopf mit wallendem, schwarzem Lockenhaar. Ein Mensch, der andern noch etwas Gutes zutraut. Ein Idealist.

Weiß Gott, er hatte mich ganz in seinem Bann, und ich rief beglückt: »So viel ich habe! Es mögen noch vierhundert Franken sein.«

»Gut,« sagte er, »so wollen wir's probieren. Noch einmal: Die geringste Unzuverlässigkeit zieht die Entlassung nach sich! Morgen Punkt acht Uhr sind Sie hier und lassen sich einige Tage von meinem alten Portier in den Dienst einführen. Er begibt sich aufs Altenteil.«

Die Arbeit fiel mir nicht schwer, da die Saison erst begann und die Gäste spärlich einrückten. Mein gutes Gedächtnis hielt die Lehren des Alten fest. In der freien Zeit war es mir gestattet, mich im Bureau meines Prinzipals, der noch einen Geschäftsführer oder Sekretär hatte, aufzuhalten. Da wunderte ich mich über die vielen Sprachlehrbücher, die mein Herr besaß, und erfuhr, daß er früher Oberlehrer gewesen sei, sich aber in seinem Feuereifer halbtot gearbeitet habe, während er jetzt bei aller Schlankheit blühend aussah.

Da er merkte, wie ich ihm ergeben war und pünktlich im Dienste, nahm er sich meiner an und erteilte mir aus freien Stücken Unterricht im Englischen, das er, wie auch das Französische, meisterte. Ich fühlte, daß ich es nicht nur mit einem außerordentlich 339 gebildeten, sondern auch vornehmen und wohlwollenden Manne zu tun hatte.

Von früh bis spät war ich so beschäftigt, daß ich kaum nebenaus denken konnte; allein das Zusammensein mit diesem Herrn hielt mich frei von jeder Verdrießlichkeit und ich empfand die Unfreiheit meiner Stellung kaum. Eines Sonntags aber bat ich um Urlaub für den Nachmittag.

»Ist's was Rechtes?« fragte er mich ernst, doch gütig. Er hatte nämlich bemerkt, daß ich einen Brief mit weiblich gezogener Aufschrift erhalten hatte.

»Das will ich meinen!« sagte ich stolz und zeigte ihm das Lichtbild, das mir Agathe geschenkt hatte, damit ich sie am Dampfschiffsteg um so leichter erkenne.

»Sapristi!« rief er aus. »Die weiß, was sie will. Also keine Liebelei?«

»Nein, es ist mir ernst!«

»Gut denn. Aber genau um acht Uhr ist Heinrich Manesse wieder auf seinem Posten.«

Ich dankte vergnügten Sinnes und ging, Jubel in der Brust, am Nachmittag zum Stelldichein, dem eine Seefahrt folgen sollte.

Die Erde badete sich im Sonnenschein und schwamm in goldenem Glanze. In meinem Herzen lebte jenes kraftspendende Gefühl der Sicherheit, welches aus dem Bewußtsein der Brauchbarkeit und der redlichen Pflichterfüllung quillt. Wahrhaftig, es war etwas wie Menschenwürde in mir, obschon ich bloß das bescheidene Amt eines Portiers innehatte. Der Sämann, der im Schweiße seines Angesichtes seinen Acker von Unkraut und Wust gesäubert, kann kaum 340 mit wohligerem Behagen und mit süßerer Befriedigung auf sein Werk zurückblicken, als ich auf die letzten Wochen meines Daseins sah.

Und vor mir lag ein weites unerschlossenes Land, das ich an der Hand eines geliebten Wesens durchwandern und das unter ihren Füßen durch unsern vereinigten Fleiß erblühen sollte.

Sie durfte ich begrüßen, ihr durfte ich die weiche Hand drücken, die eine falsche Todesnachricht, dann ihre Verheiratung von mir getrennt und mit der ihres Gatten Tod mich wieder verbunden hatte.

Dort schritt sie langsam auf und nieder, ein schönes Weib, nach dem sich die vorübergehenden Männer scheu umblickten, zu dem die Frauen emporsahen, ohne das Kleid, die Schuhe und den Hut zu mustern, da deren geschmackvolle Einfachheit nicht auffiel. Jetzt stand sie in selbstsicherer Unbefangenheit am Ufer still und schaute über den blauen See nach dem fernen Schneegebirge hin. So stand keine von allen, in dieser statuenhaften Unberührbarkeit! Sie mußte es sein.

Ich näherte mich von hinten. Mein Herz schlug hoch; kaum daß ich ihren Namen flüstern konnte, so würgte mich in der Kehle die Freude des Wiedersehens.

»Agathe!«

Sie wandte sich ruhig nach mir um. Dann aber lief es wie ein freudiges Erstaunen über ihr Antlitz und überhauchte es mit rosigem Schein.

»Heinrich, du bist es?« Sie hatte es kaum gefragt, als sie mir die Hand entgegenstreckte und die meinige kraftvoll drückte. Sie behielt sie und wir 341 schritten, stumm vor innerer Bewegung, am Ufer auf und ab. Dann stand sie plötzlich still. Die Tränen stürzten ihr über die Wangen und sie hatte Mühe, ihr Schluchzen niederzukämpfen. Ich führte sie seitab von der Menge und wir nahmen unter den Platanen auf einer Schattenbank Platz. Da faßte ich ihre Hand in meine beiden und bedeckte sie mit Küssen. Keines von uns war imstande zu reden. Es warf mich zu ihr hin und ich weinte an ihrer Brust. Wir hörten die Glocken des Schiffes läuten zum Einsteigen. Die Dampfpfeife dröhnte, eine Musik intonierte den Abschiedsgruß. Noch hatten wir die Fassung nicht wiedergewonnen. Das mächtige Schiff rauschte an uns vorüber und schwenkte in weitem Bogen in den See hinaus. Wir folgten ihm lange schweigend mit den Blicken.

»Würden wir uns wiederfinden, wenn wir uns im Lärm der Menge verlören? . . . Es ist doch gut, daß wir das Schiff versäumten. Nicht?« . . . sagte sie leise und mit bewegter Stimme.

»Ja, komm, wir müssen in die Einsamkeit.«

Und wir erhoben uns und stiegen den nächsten Hügel zum Wald hinan und einer Lichtung zu, wo wir die schimmernde Stadt und den blau leuchtenden See zu Füßen hatten. Der Gang im stillen Gehölz, das laue Lüftchen, das über die Höhe strich, taten uns wohl und beruhigten uns.

Wir erzählten einander stundenlang unsere Schicksale und sie wunderte sich, wie ich aus all den Widerwärtigkeiten mit heiler Haut davongekommen sei, wie ich aus den Wirrnissen den Weg zur Ordnung gefunden habe. Und es ging ein Lichtglanz der Freude 342 über ihr liebes, schönes Gesicht, als sie mich ansah und immer wieder ansah und ausrief: »Wie gut du aussiehst! Wie gut du aussiehst! Ganz so, wie ich es mir früher gewünscht hatte!«

Dann lehnte sie wohl ihr Haupt an meine Brust, und der reine Duft ihres glänzenden Haares, das immer noch mit rötlich schimmernden Löckchen Stirn und Hals umkräuselte, berauschte mich wie Frühlingsduft.

Und wenn ich weiterfuhr, unterbrach sie mich oft:

»Daß du noch lebst? Nach alledem noch lebst?«

Welches Glück und welche Wonne, die verwunderungsvolle Frage mit einem Kusse auf ihre frischen Lippen zu bejahen und das süßeste Ja immer von neuem zu bestätigen!

Es gab sich von selbst, daß wir einander in den Armen hängen blieben, daß ich sie leidenschaftlich umhalste und an mich zog. Sie ließ es geschehen. Nur wenn ich zu stürmisch wurde, wand sie sich sachte los und schlug vor Glück eine herzliche Lache auf und fand immer einen Weg, um die Rede auf einen Gegenstand zu bringen, der ihren Geist beschäftigte.

»Du, du mußt deine Geschichte aufschreiben. Das gäbe ein Buch für die Mutlosen und Verzagten, für alle die, welche den Reichtum des Lebens nicht zu schätzen wissen, für alle die, welche den Glauben an die menschliche Kraft verloren haben.«

Mit Kleinmut warf ich ein: »Oberstiefelwichser und – Schriftsteller!«

Da rief sie entschlossen: »Das erste bist du nicht – das zweite kannst du werden. Du hast das Zeug dazu in dir! Ich kenne deine Briefe . . . Wer zum 343 Herrn geboren, ist ewig zum Knechtsein verloren. Da liegt dein Unglück. Kämpfen muß man, bis man das wird, wozu man berufen ist.«

»O du Gute. Wer weiß, was ich an deiner starken Seite geworden wäre!«

»Es ist noch nichts verloren, Heinrich! Noch ist es Zeit, die Kräfte zu sammeln, die du auf deinen Irrfahrten in alle Winde zerstreut hast . . . Nun hast du die große Heerstraße, auf welcher die arbeitende Menschheit vorwärts schreitet, gefunden. Warum sollte sie dich nicht mitnehmen und mit ihr aufwärts führen? Was in uns kräftig ist, das müssen wir pflegen und nützen.«

»Aber die Gelegenheit dazu?«

»Die schaffen uns die Guten unter den Menschen. O, es gibt gute Menschen; das hast du erfahren!«

»Das will ich nicht leugnen, aber . . .«

»Kein aber! Nur alles fahren lassen, wozu man nicht taugt; alles, worin man tauglich ist, nützen, um es darin weiter zu bringen.«

»Also vom Portier zum Hotelier?«

»Warum nicht, wenn es dich lockt? . . . Aber das glaube ich nicht. Nein, was du geschaut und erlebt hast, was die innerste Kraft des Menschen in dir ausmacht, das mußt du verwerten. Sieh, auch ich diene; allein ich fühle mich als Herrin durch das, was ich zu geben vermag und die andern von mir empfangen müssen.«

»Dir wurde der Weg gezeigt. Du hast Bildung genossen!« . . .

»Und der wackere Mann findet seinen Weg selbst! . . . Um praktisch zu reden: In dem, was du erfahren 344 hast, liegt mehr bildende Kraft als in aller schwarz auf weiß gedruckten Schulweisheit. Eigen ist dir ein starkes Gefühl, eigen die Gabe der Mitteilung, und du verfügst über moderne Sprachen.«

»Lehrer soll ich werden?«

»Nein,« rief sie aus, »Erzieher! . . . Nun hast du dich aus dem Schmutz und Kot eines verworfenen Lebens herausgefunden; warum solltest du andern den Weg dazu nicht zeigen können, sofern du den Glauben an deine eigene Fähigkeit nicht kleinmütig wegwirfst?«

»Ja, es ist wahr. In Gegenwart der Jugend war ich immer am glücklichsten, weil sie die reinsten Gefühle in mir wachrief . . . Wenn es eine Möglichkeit gäbe! . . . Wenn noch eine Möglichkeit wäre!« . . .

»Irgendwo sind sie immer, die Möglichkeiten. Es gilt, sie zu suchen . . . Hast du nicht selbst die Überzeugung gehabt, der Herr, dem du jetzt dienst, sei dir wie ein Schutzgeist vorgekommen?«

»Ja, so ist es.«

»Also Geduld!«

Ein Sturm von Gefühlen der Liebe und Hoffnung wogte mir heiß durch die Brust herauf. »O du, mein Herz, mein Herz! Die Stimme meines Innersten spricht zu mir aus deinen lieben Worten. Warum mußte ich dich entbehren, so lange entbehren?«

Ich schlang meine Arme um die zu lange Vermißte, als wollte ich sie unverlierbar besitzen. Ihre Wangen begannen zu glühen; wie Feuer rieselte es mir durch die Adern.

»Komm, stehen wir auf; es ist Zeit, daß wir gehen!« sagte sie. Ich gehorchte. Wir erhoben uns. Aber 345 indem wir am Waldsaum dahingingen, warf uns jede stärkere Wallung einander neuerdings in die Arme.

Gott, sie war nicht das Weib meiner klugen Wahl! Sie war das Weib, mit dem mich das Schicksal unauflöslich verbunden hatte. Sie mußte mir gehören. Und alle Kräfte, die in mir waren, preßten sie an mich; in mir selber wollte sich ein Leben lösen und schlug mit hoher Flut über alles, was an Verstand und Besonnenheit in mir war, wallend empor.

Die Herzensgeliebte hing in meinen Armen; ihre Wangen wurden blaß. Ihr Haupt senkte sich rückwärts. Ihr Hut lag im Grase.

Immer näher, immer inniger umwanden wir uns. Ihre Kraft verließ sie . . . . Sie dauerte mich. Ein tiefes Erbarmen kam über mich. Aber was konnte ich gegen mich selber tun?

Sie schlug die Augen zu mir auf. Was waren das für hilflos angstvolle Blicke! Und jetzt stöhnte sie: »Heinrich . . . . hab Gewalt über dich . . . . Du verdirbst uns beide . . . . Hab Gewalt über dich . . . . Bitte, bitte . . . ich will es dir danken . . . ewig . . . Wasser . . . Es dunkelt mir vor den Augen . . . .«

Ich konnte nicht von dem geliebten Leben lassen. Da ging ein Ruck durch ihren süßen Leib. Wie Raserei kam es über sie und sie riß sich mit Aufbietung aller Kraft aus meiner Umarmung los und wankte fort.

Ich sah, wie sie kämpfte und litt. Ich stand und grollte.

Dann ergriff mich Mitleid mit ihr und ich folgte ihr nach. Das Licht des Himmels umfloß sie, spielte 346 um ihr goldenes Haar. Müde schleppte sie ihre Schritte. Sie ging dahin wie ein Bote des Himmels, der auf Erden eine bittere Enttäuschung erlitten hat. So schlug das heiß ersehnte Wiedersehen um in ein grollend Auseinandergehen. Bei einem Waldbrunnen holte ich sie ein und redete sie an: »Zürnst du mir, Agathe?«

»Ich zürne dir nicht,« sagte sie mit bebender Stimme, »doch betrübt es mich. Wirst du Macht über andere haben, wenn du dich selbst nicht in der Gewalt hast?«

Das Wort blieb mir wie ein Stachel in der Seele sitzen. Ich fühlte seine Wahrheit und neigte mich vor ihr.

»Agathe, verlaß mich nicht.«

»Könnte ich das, so lange du lebst? . . . . Laß mich trinken!«

Sie neigte sich, um an der Röhre ihren Durst zu stillen. Da riß ich sie vom eiskalten Brunnen weg, ließ den dünnen Wasserfaden in meine hohle Hand rieseln und hielt sie ihr zum Trinken hin, nachdem sie ihre Hände gekühlt hatte.

Sie besann sich nicht, sondern schlürfte gierig. Nun leuchtete es wie froher Dank aus ihren erregten, weit geöffneten Augen, als sie zu mir aufschaute. Sie lächelte fein, indem sie zu mir bemerkte: »Nun hast du Recht, Heinrich! . . . . Du die Liebe nicht zu heiß, ich das Wasser nicht zu kalt! . . . Vielleicht finden wir beide eines guten Tages doch noch den goldenen Mittelweg.«

Eben schlugen auf den Türmen der kirchen- und kapellenreichen Stadt die Glocken an und lösten einander zögernd ab. Es war Zeit zur Heimkehr. 347

Auch ich trank jetzt, während Agathe sich im Spiegel des Brunnens besah und die Haare ordnete. Dann eilten wir erfrischt und halbwegs beruhigt durch die Waldnacht hinab der Stadt zu.

Pünktlich erschien ich im Gasthof. Mein Herr, Doktor Germann, sah mich befriedigt an, indem er die Taschenuhr zog.

Im Gleichmaße meiner vielen, wenn auch nicht anstrengenden Pflichten verliefen mir die Tage schnell, und dennoch schien mir der Sonntag, an dem ich Agathe zum zweitenmal treffen sollte, in weite Ferne gerückt. Endlich wagte sie es, mich auch an Wochentagen, wenn sie mit beiden Mädchen, die ihr zur Erziehung anvertraut waren, in der Nähe unseres Gasthofes spazierenging, auf ein paar Augenblicke zu sprechen.

Ihre Ruhe und Sicherheit, ihre Zuversicht, ihr Glaube an ein endlich zu ermöglichendes Zusammenleben steckten auch mich an. Unsere Spaziergänge verliefen bei kühlerer Temperatur, ohne daß deshalb aus ihren Worten und ihrem Benehmen weniger Liebe in mein Herz übergeströmt wäre.

Aber eines Abends – es mochte schon gegen den Herbst gehen und wir kehrten wohlgemut in die Stadt zurück – traf mich ein Wort aus ihrem Munde wie ein Keulenschlag auf die Brust. Mit tonloser Stimme sprach sie es, indem sie mir die Hand gab: »Nun ist es das letzte Mal gewesen, Heinrich. Übermorgen verreisen wir nach Frankreich, dann nach England.«

Mein ganzes Innere lehnte sich gegen diese überraschende Ankündigung auf: »Warum hast du mir das nicht früher gesagt, Agathe?« 348

»War es nicht besser so? Konnten nicht die wenigen schönen Stunden in Ruhe uns gehören? Hätte unser Herz sich nicht empört über die kurze Dauer unseres Glücks? Würde es nicht angesichts seines nahen Endes in seiner Begehrlichkeit immer mehr gewollt haben? . . . Gott, auch ich habe warmes Blut, darum muß ich meinen Verstand beraten.«

»Aber so jäh! . . . Was soll nun aus mir werden? In deiner Nähe fühlte ich mich stark und meinte, es müsse mir alles gelingen.«

»Täusche dich nicht, Heinrich. Wir werden einzig in der Arbeit stark. Mache das Beste aus dir; ich will an meinem Teil das gleiche tun. Über Jahr und Tag sind wir reifer fürs Leben, gewappneter, um eines für das andere zu sorgen, reicher, um unsern Pflichten zu genügen . . . Leb' wohl!«

Es war ein kurzes Abschiednehmen. Aber die vielen Tränen, die sie während des Gehens aus dem lieben Antlitz wischte, das Schüttern, das durch ihren ganzen Körper ging, als sie mir zum letztenmal wortlos die Hand drückte, sagten mir genug. Ich wußte, daß sie den Schmerz nicht leichter trug als ich. Noch sah ich sie bei ihrer Abreise auf dem Bahnhof. Sie verstand es einzurichten, mir nochmals die Hand zu streifen, daß es wie ein warmer Hauch darüberging. Lange stand ich hernach auf dem Bahnsteig und sah dem davoneilenden Zuge nach, bis ihn der schwarze Mund des Tunnels verschlang.

»Manesse!« rief mich ein Berufsgenosse an, der mich wenig gefühlvoll mit dem Ellenbogen anstieß, »die Welt steht noch!« 349

»Was weißt du!« murmelte ich nach, »ob mir nicht eine Welt versunken ist.«

In den kommenden Tagen stürzte ich mich auf die Arbeit und suchte darin aufzugehen und an nichts zu denken, was über meinen Pflichtenkreis hinausging. Als das nicht genügte, nahm ich abends englischen Sprachunterricht und erteilte einigen Mitangestellten solchen, um mich nicht in Sehnsucht zu verzehren.

Alles schien gut zu gehen, bis ich wieder in die Nähe einer Frau geriet. Anfänglich hielten mich die Briefe Agathes, die nun fast regelmäßig eintrafen, freilich aufrecht; allein die Wallungen, die in mir geweckt worden waren durch die innige Berührung des geliebten Wesens, kehrten wieder und raubten mir in der Nacht den Schlaf und am Tage die Besonnenheit.

Und seltsam, die junge Witwe, deren täglicher Gast ich wurde, übte durch ihren Händedruck, durch ihren vertraulichen Blick denselben Reiz aus wie Agathe.

Sie führte in der Nähe des Bahnhofes eine gangbare Wirtschaft, die aus allen Ständen besucht wurde, war beliebt und als ehrbare Frau geachtet.

Im Geschäft gab es allerlei zu tun und zu denken, worin sie noch nicht beschlagen war. Da wandte sie sich häufig an mich um Rat, und ich besorgte ihr kleinere Angelegenheiten, Rechtssachen, Ankäufe, in denen sich die Frau weniger auskennt. Auch machte es mir Freude, ihrem Knaben bei der Ausarbeitung seiner Hausaufgaben behilflich zu sein – und so 350 gewann ich allmählich ihr besonderes Vertrauen, ohne darum geworben zu haben.

Ein Pfarrer war da, der ihr nahelegte, der allezeit hungrigen Kirche zum Andenken an ihren Mann aus dessen Vermögen einen artigen Groschen zuzuhalten. Der Inspektor einer Lebensversicherungsgesellschaft suchte sie mit einer bedeutend kleinern Summe, als ihr Gatte versichert hatte, abzufinden, indem er drohte, es könnte ihr jede Entschädigung abgestritten werden, weil ihr Mann an den Folgen eines Rausches gestorben sei. In solchen und ähnlichen Dingen wußte ich Rat und Hilfe, so daß sie hier zu ihrer Sache kam und man ihr dort nichts nahm.

Da sie ein ordentliches Vermögen besaß, und als hübsches Weib begehrenswert war wegen ihres muntern Sinnes, fehlte es der jungen Witwe nicht an Bewerbern. Jeden Abend saßen einige da, harrten bis spät in die Nacht hinein aus, jeder an einem besondern Tischchen, um womöglich ein halbes Stündchen mit ihr allein zu sein. Unter ihnen befand sich ein verwitweter, aber noch forscher Gemeinderat, der ihr seine Neigung dadurch zu verstehen gab, daß er ihr einmal erklärte, »man« werde es schon einzurichten wissen, daß sie als Witwe in der Steuer um die Hälfte herabgesetzt werde.

Der hatte am meisten Ausdauer. Er trank einen guten Stil und wußte viel Interessantes, natürlich immer unter Verschweigung der Namen, aus der Gemeinde zu erzählen. Frau Maria, die Wirtin, behandelte ihn freundlich, ohne ihn auszuzeichnen; vielmehr glaubte ich aus einigen Vertraulichkeiten entnehmen zu müssen, ich sei ihr am wenigsten 351 gleichgültig. Allein ich hielt mich ihr gegenüber zu einem freundlichen Gleichmut, der mir um so leichter fiel, als ich Aussicht hatte, Agathe bald wiederzusehen. Doktor Germann eröffnete mir – die Fremdenzeit neigte sich mit dem Welken der Blätter ihrem Ende zu –, er habe mich einem englischen Schulbesitzer, bei dem er sich selber die ersten Sporen als Lehrer verdient hatte, als Sprachlehrer empfohlen. Die Stelle würde mir für den Winter auskömmliches Brot sichern und mir Gelegenheit geben, mich im Englischen auf die Höhe zu bringen. Angst zu haben vor der Übernahme einer solchen Stelle brauche ich nicht, da ich mehr Kenntnisse, Gewandtheit und Mitteilungsgabe besitze als die meisten angehenden foreign masters (Fremdsprachlehrer) in England, wo zu jener Zeit nicht selten brotlose Schneider und Schuster solche Bildungsämter bekleideten.

Darüber war ich erfreut und ich dachte an eine aufwärts steigende Entwicklung der Dinge; wußte ich nun doch aus Erfahrung, daß Portiers sich im Verlaufe weniger Jahre infolge ihres ausgiebigen Nebeneinkommens auf eigene Füße stellen können. Wenn ich nun auch nicht daran denken mochte, mich auf den neuen Beruf für mein Leben einzuschwören, sondern ihn bloß als materielle Übergangsstufe zu einem höhern, idealern betrachtete, – obschon mir die Art des letztern noch unbestimmt vorschwebte –, so erhielt meine Hoffnung auf Vereinigung mit meiner Geliebten durch die Bemühung meines Prinzipals und mein wirkliches Einkommen, das sich beständig vergrößern würde, endlich festen Grund und Boden und konnte sich verankern. 352

Was ich mir unter meinem zukünftigen Glück alles vorstellte, weiß ich kaum zu sagen. Vor meinem geistigen Auge lag es wie ein wohlgepflegter Garten, in welchem glühende Blumen aus dunkelm Ackergrunde aufsproßten, an deren Duft sich meine Sinne berauschten. Und nun fiel plötzlich ein Reif auf all die Pracht, daß alles welk und schwarz aussah und übeln Modergeruch verbreitete.

Agathe, die sich sonst deutlich und entschieden auszusprechen wußte, schrieb mir einen Brief, der mich in Unmut und Verzweiflung versetzte. Zwischen den Zeilen las ich einerseits einen Mangel an Hoffnung und Zuversicht heraus, der mich betrübte und mir das gewonnene Selbstvertrauen nahm; anderseits eine gewisse Ungeduld; da und dort klang es, als ob sie, angesichts meiner Unfähigkeit, ihr ein Heim zu sichern, genötigt wäre, ihre eigenen Wege zu gehen. Und das alles nach jenen seligen Stunden, die mir Jahre der Entbehrung aufwogen; nach jenen Stunden, die meinem ganzen Wollen einen solchen Antrieb nach oben gegeben hatten, daß ich mir selber als ein neuer Mensch vorkam. Ich war bereit und fühlte mich stark genug, das Nötige zu tun, nachdem ich mehr als ein Jahrzehnt ein Vaganten- und Lotterleben geführt hatte. Und die ganze Wandlung hatte sich im Segen meiner Liebe zu ihr, zu meiner Agathe, vollzogen.

Am hellen Tage war urplötzlich um mich Nacht geworden. Ganz verstört kam ich abends zu Frau Maria, setzte mich in einen Winkel und trank stumpfsinnig in mich hinein.

»Habt Ihr einen Schrecken gehabt, oder ist Euch 353 jemand gestorben?« fragte mich Frau Maria, als sie selber mich bediente.

»Ihr könntet recht haben; ein Herz ist mir gestorben und ich weiß nicht . . . ob ich ihm nachgehen soll . . .«

Ich mußte mein Leid ausschütten und erzählte der Teilnehmenden, was mir zugestoßen war. Je mehr ich mich in die Stimmung verbohrte, die jener Brief auf mich übertrug, desto näher ging mir die Sache, und endlich überwältigte mich der Gram, daß ich alle Haltung verlor. Da ergriff Frau Maria meine Hand, drückte sie und sagte: »Grämt Euch nicht so sehr; eine andere Mutter hat auch noch ein braves Kind!«

»Mit dem allein ist's nicht getan. Sie war das einzige Weib, in dem ich mich selber wiederfand, das einzige, dem ich willig gehorchte, das einzige, das sich beugte, um mich emporzuziehen, während es so viele gibt, die sich an uns klammern, um uns in ihren eigenen Schmutz, in ihr eigenes Elend herunterzuzerren.«

Nochmals drückte sie mir die Hand und sagte mit weicher Stimme: »Solche gibt's, es ist wahr, aber nicht alle sind so!«

Jetzt kam mit andern Gästen der Gemeinderat herein; auf ihn deutend, flüsterte sie mir zu: »Er fängt mir an lästig zu werden, will immer der letzte sein. Wenn Ihr ihn hinaussitzen könntet, wollte ich gerne noch ein Stündchen mit Euch reden und Euch helfen. Denn ich meine es gut mit Euch und möchte Euch vergelten, was Ihr an mir getan habt.«

Stundenlang brütete ich vor mich hin, gaffte von 354 Zeit zu Zeit in die Tagesblätter hinein, sprach dem Glase zu und vergaß alles um mich her.

Ich sah nicht, wie der Raum sich leerte, wie da und dort die Lampen gelöscht wurden, bis mich ein Ausruf des Gemeinderates weckte, der auf mich gemünzt war: »'s ist, glaub ich, Zeit zum Heimgehen! . . . Hem!«

Die Wirtin tat, als hätte sie nichts gehört und stellte einen Stuhl auf den Tisch um anzudeuten, daß sie räumen wolle.

Ich aber konnte den Wink mit dem Zaunpfahl nicht unerwidert lassen und sagte: »Die Vertreter der Ordnung gehen überall mit dem guten Beispiel voran.«

Als die Wirtin sich neutral und schweigsam verhielt, und fortfuhr, Stühle aufzustellen, fand es der Gemeinderat angezeigt, seinem Amt Ehre zu machen und den Platz zu räumen.

Frau Maria grüßte ihn freundlich und bemerkte so leise, daß ich es kaum hörte: »Nehmen Sie es ihm nicht übel; ich glaube, er hat heute etwas zu tief ins Glas geguckt.« Dann vergewisserte sie sich, ihn vor die Tür begleitend, daß der Herr Gemeinderat sich wirklich entfernte, schloß Tür und Läden und setzte sich zu mir.

In jener Nacht schlief ich nicht zu Hause; dafür erhielt ich, weil ich versäumt hatte, am Bahnhof den letzten Zug abzunehmen, von Herrn Germann am Morgen die Entlassung, was ich ganz in der Ordnung fand; doch tat es mir weh, diesem braven Mann eine Enttäuschung bereitet zu haben.

Sechs Wochen später feierte ich mit Maria die 355 Hochzeit. Ich hatte nun ein Heim und eine geregelte Tätigkeit. Maria war mir eine gütige Gattin, tat mir alles zuliebe, und ich war ihr dankbar und besorgte das Geschäft eines Wirtes, der seine Gäste zu unterhalten verstand. Allein am meisten gab meinem Gemüt der Umgang mit meinem Stiefkind, das an mir hing und das ich mit Liebe erzog, als wäre es mein eigenes. Lange konnte ich mich mit ihm abgeben und sah bald, daß es unter meiner Anleitung mit mehr Lust lernte, als in der Schule. Je tiefer es jedoch in die Monate ging und je hoffnungsvoller Maria der Geburt eines Kindes entgegensah, das sie mit Liebe unter ihrem Herzen nährte, desto mehr fühlte ich, daß in mir eine Sehnsucht ungestillt blieb. Meine Seele konnte weder vom Geschäfte noch vom Umgang mit dem guten und braven Weibe leben.

Ein Brief von Agathe, auf den ich Monate gewartet hatte, enthüllte mir mit einem Schlag die Welt, die ich entbehrte.

Ich mußte sie schon wegen der Art bewundern, mit welcher sie über meine von ihr gänzlich unerwartete Verheiratung hinwegging. Es tat ihr weh; denn sie hatte nicht geahnt, daß ihr Brief, den sie in einer mutlosen Stunde geschrieben haben mochte, wie sie uns alle in der Einsamkeit etwa überraschen, einen solchen Eindruck auf mich machen würde. Sie sah ganz richtig, daß ich dem mächtigen Augenblick zum Opfer gefallen war. Und was ich ihr von meinem Leben mitteilte, bewies ihr nur, daß ich nicht auf die Dauer glücklich sein könne. »Weißt du,« hieß es an einer Stelle, »du bist ein Kiesel, aus dem 356 nur der feuergeborne Stahl die zündenden Funken herauslockt.«

Wirklich, so treu und lieb mein Weib war, ich fing an, mich in ihrer Gegenwart zu langweilen, da sie ihren Geist nie über die allernächst liegenden Dinge hinauszurichten vermochte. Sie selber war oft erstaunt, wenn ihre Rede bei mir nicht verfing und kein Echo fand. Sie hatte von der Welt nichts gesehen und las selten die Zeitungen, nie ein Buch, während das Lesen meine eigentliche Erholung war und mein stilles Innenleben anregte, ja zeitweilen ganz anfüllte. Oft gab es sich, daß ich, ohne es zu wollen, eine freundliche Frage von ihr überhörte. Das konnte sie dann nicht ertragen und fuhr mich barsch an. Ich suchte meinen Fehler gutzumachen, indem ich mich zu einem Gespräche zwang und mich über Dinge mit ihr zu unterhalten suchte, die mich wirklich beschäftigten. Aber da mußte ich stets die betrübende Wahrnehmung machen, daß ihr ganzes Kulturinteresse bei der neuesten Mode aufhörte und daß sie keinerlei Verständnis für die treibenden Kräfte im Leben der Menschheit besaß. Frisch und munter pflückte sie den Tag, das ist wahr, wie ein Kind Blumen bricht und sie wegwirft, wenn sie welk sind. Ich liebte es, die Schönheit der Dinge zu betrachten, bis sie mein Herz mit Wonne erfüllten. Jedes Haus, jedes Bild, dessen Betrachtung ich mich hingab, jedes schöne Lied, das ich hörte, jede Dichtung, die ich las oder auf den Brettern dargestellt sah, schafften und wirkten in mir weiter, bis sich meine Seele ihrer bemächtigt hatte. Immer war ein Kämpfen und Ringen in mir, das nur zur Ruhe kam, wenn ich, mein 357 Stiefkind an der Hand, dem See entlang mich im weiten Abendlicht erging und fühlte, mit welchem Eifer der Knabe all das Schöne und Interessante aufnahm, das ich seinem um sich greifenden Verstand und Gemüt erschloß.

Ich sah etwas wie einen neuen Lebensweg vor mir liegen und war nicht ohne Hoffnung.

Da geschah ein entsetzliches Ereignis, welches mir zeigte, daß ich nur durch die Sinne mit meinem Weibe verbunden gewesen war. Ich wurde eines Abends mitten aus der Festfreude – wir feierten ein Zunftessen – nach Hause geholt. Ich ahnte, was es war: Maria sah der Niederkunft entgegen. Schleunigst brach ich auf und voll freudiger Erwartung betrat ich das Haus. Ich wollte Maria dankbar als Mutter begrüßen; nahm mir vor, ihr liebe Worte zu sagen und alles zu tun, was ihr die schwere Stunde erleichtern könnte.

Doch, welches Entsetzen, als ich die Stubentür öffnete! Nachbarfrauen waren da, ein Arzt, ein Pfarrer; alle in Bestürzung. Weinend standen die Frauen am Bette. Auf einem Sofa lag das neugeborene Knäblein. Ich bemerkte es kaum; denn ein anderer Anblick stellte sich davor, der mich mit Grauen füllte. Eine ungeheure Blutlache glänzte auf dem Boden; im ganzen Zimmer herum blutige Fußtritte; am Bette, an dem Linnen Blut.

Maria war an der Geburt gestorben.

Ich konnte in meiner Verfassung den Anblick nicht ertragen und stürzte hinaus, die Treppen hinunter, irgendwo, in einem Zimmer warf es mich hin. Es quälte und würgte mich am Halse, als sollte ich 358 ersticken; endlich machte mir Schluchzen und Schreien Luft, brachte mir die Besinnung wieder. Aber als ich hinunterging und das liebe Weib, von dem ich in guter Laune und mit einem lieben Kuß vor wenigen Stunden Abschied genommen hatte, starr ausgestreckt, die Augen geschlossen, daliegen sah, packte mich das Entsetzen von neuem. Ich rannte auf die Gasse und durchstürmte die Stadt nach allen Richtungen.

Beim Morgengrauen fand ich mich heim und konnte schlafen. Als ich erwachte, fühlte ich mich wieder als Mensch und konnte die nötigen Schritte tun, um Ordnung ins Haus zu bringen und die Vorbereitungen zur Bestattung zu treffen. Aber immer, wenn ich an die Güte meiner Maria dachte, wie sie mir alles gegeben hatte, was sie zu geben imstande gewesen war, brach ein neuer Tränenstrom hervor.

Und als ich sie begrub, konnte ich weinen wie nie zuvor in meinem Leben, und um vieles erleichtert, kehrte ich mit meinem Stiefsohn nach Hause.

Aufrichtige Beweise des Mitleids aus der Nachbarschaft, freundliche Mithilfe und neue Beschäftigung halfen mir über die Schwere der nächsten Tage hinweg und schon wollte ich mich mit meinem Schicksal aussöhnen, als mich die Widerwärtigkeiten der rechtlichen Ordnung des Hauses wieder aus dem Gleichgewicht brachten.

Meinem lieben Stiefsohn mußte das Muttergut ausbezahlt werden und mir blieb nichts mehr; überdies wurde er mir entzogen, da man von dem protestantischen Stiefvater unheilvollen Einfluß auf ihn befürchtete. Ganz schlimm wurde mir meine Flucht aus dem Hause in der Sterbenacht ausgelegt. Eine 359 Kränkung folgte auf die andere. Und so entschloß ich mich, mit meinem Knäblein nach Münster überzusiedeln, wo ich den Schutz menschlich denkender Behörden genoß und meinen kleinen Schmerzensreich bei wackern Leuten in Pflege geben konnte.

 


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