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Siebzehntes Capitel.
Ja und Nein

Mrs. Branican ließ sofort den Arzt holen. Dieser aber erklärte trotz des veränderten Zustandes, der sich in der geistigen Kraft des Kranken bemerkbar machte, daß dies nur ein letztes Aufflackern des Lebens sei, daß der Tod herannahe. Der Sterbende schien nur Mrs. Branican zu sehen; weder Zach Fren noch dem Arzte schenkte er irgend welche Aufmerksamkeit. Alles, was von seiner geistigen Kraft noch übrig geblieben war, concentrirte sich auf die Frau seines Capitäns, auf Dolly Branican.

»Harry Felton, fragte sie, wenn John lebt, wo haben Sie ihn zurückgelassen? ... Wo ist er? ...«

Harry Felton antwortete nicht.

»Er kann nicht sprechen, sagte der Arzt, aber vielleicht können wir durch Zeichen von ihm eine Antwort erhalten.

– Schon seinem Blicke werde ich die Antwort ablesen können, erwiderte Mrs. Branican.

– Warten Sie, sagte Zach Fren. Die Fragen müssen ihm auf eine bestimmte Weise vorgelegt werden, wie wir Seeleute es thun. Lassen Sie mich nur machen.

Mrs. Branican möge Felton bei der Hand nehmen, und ihm in die Augen sehen. Ich werde ihn fragen ... und er wird mit dem Blicke Ja oder Nein sagen. Das genügt uns schon! ...«

Mrs. Branican beugte sich über Harry Felton und nahm ihn bei der Hand. Wenn Zach Fren ihn zuerst gefragt hätte, wo sich der Capitän befinde, so wäre es unmöglich gewesen, eine genügende Antwort zu erhalten, weil sie Harry Felton gezwungen hätte, den Namen eines Landes, einer Provinz oder eines Fleckens auszusprechen, was ihm nicht möglich gewesen wäre. Besser war es, allmählich die ganze Geschichte des »Franklin« abzufragen, und zwar von dem Tage an, wo er zum letztenmale gesehen wurde, bis zu dem, wo Harry Felton sich von John Branican trennte.

»Felton, sagte Zach Fren mit klarer Stimme, neben Ihnen steht Mrs. Branican, die Frau John Branican's, des Commandanten des ›Franklin‹. Haben Sie sie erkannt?«

Die Lippen Harry Felton's bewegten sich nicht, aber eine leichte Bewegung seiner Augenlider, ein schwacher Druck seiner Hand gaben eine bejahende Antwort.

»Der ›Franklin‹, hub Zach Fren an, ist nirgends signalisirt worden, seitdem er im Süden der Insel Celebes gesehen worden ist ... Sie verstehen mich? ... Sie hören mich, nicht wahr, Felton?«

Der Blick gab wieder bejahende Antwort.

»Nun hören Sie mir zu! Je nachdem Sie die Augen öffnen oder schließen, werde ich wissen, ob das, was ich sage richtig ist oder nicht.«

Es war nicht zu bezweifeln, daß Harry Felton die Worte Zach Fren's verstanden hatte.

»Als der Capitän John das Javanische Meer verließ, nahm er den Weg in die See von Timor?

– Ja.

– Durch die Sunda-Meerenge?

– Ja.

– Freiwillig?«

Diese Frage wurde verneint, worüber man sich nicht täuschen konnte.

»Nein! sagte Zach Fren. So hatte auch er und Capitän Ellis es immer geglaubt.

– War dies während eines Sturmes? fragte Zach Fren.

– Ja.

– Ein Wirbelsturm hat Euch wahrscheinlich im Javanischen Meere überrascht?

– Ja.

– Und der hat Euch in die Sunda-Meerenge getrieben?

– Ja.

– Vielleicht war der »Franklin« arg zugerichtet, das Takelwerk zerstört, das Steuer gebrochen?

– Ja.«

Mrs. Branican sah Harry Felton fest an, ohne ein Wort zu sagen.

»Capitän John wußte nicht, wo er war? fuhr Zach Fren fort.

– Nein.

– Und nachdem er mit der Zeit bis in die See von Timor getrieben worden war, scheiterte er an den Riffen der Insel Browse?«

Eine leichte Bewegung zeugte von der Ueberraschung Harry Felton's, der gewiß den Namen der Insel nicht kannte, auf welcher der »Franklin« gescheitert war. Zach Fren fuhr fort:

»Als Sie San-Diego verließen, befanden sich an Bord der Capitän John, Harry Felton, zwölf Matrosen, im Ganzen vierzehn ... Wart Ihr noch vierzehn nach dem Schiffbruche des ›Franklin‹?

– Nein.

– Einige sind wohl zu Grunde gegangen, als das Schiff an den Felsen zerschellte?

– Ja.

– Einer? ... Zwei?«

Ein bejahendes Zeichen bestätigte die letzte Zahl.

In diesem Augenblicke wurde für einige Zeit auf den Rath des Arztes hin mit dem Fragen eingehalten, da dasselbe den Kranken sichtlich ermüdete.

Dann stellte Zach Fren Fragen, wie John, Harry Felton und ihre zehn Matrosen ihr Leben gefristet hätten. Ohne die Lebensmittel des Schiffes, die aus Conserven und Mehl bestanden, und an den Strand gebracht worden waren, ohne den Fischfang, der eines ihrer hauptsächlichsten Erhaltungsmittel bildete, wären sie Hungers gestorben.

Ihre Fahne, die an dem Signalmaste hing, wurde nie bemerkt, und doch konnten sie nur von einem vorüberfahrenden Schiffe gerettet werden. Als Zach Fren fragte:

»Wie lange habt Ihr auf der Insel Browse gelebt? ... Ein Jahr ... zwei Jahre ... drei Jahre ... vier Jahre ... sechs Jahre?«

Harry Felton beantwortete die letzte Ziffer.

So hatten also Capitän John und seine Gefährten von 1875 bis 1881 auf dieser Insel gelebt.

Aber wie gelang es ihnen, sie zu verlassen? Das war einer der interessantesten Punkte, die Zach Fren fragte:

»Habt Ihr ein Boot aus den Trümmern des Schiffes bauen können?

– Nein.«

»Lebt er?« fragte sie.

Dieser Ansicht waren auch der Capitän und Zach Fren, als sie die Insel Browse durchsuchten.

Zach Fren war jetzt in Verlegenheit, wie er erfragen sollte, auf welche Weise es den Schiffbrüchigen gelungen war, die Insel zu verlassen.

»Sie sagen, fragte er, dass kein Schiff die Signale bemerkt hat?

– Nein.

– So ist vielleicht ein malayisches Boot oder eines der Eingeborenen von Australien gelandet?

... wurde sie von einem Burschen angesprochen.

– Nein.

– So war es also eine Schaluppe – die Schaluppe eines Schiffes – die an die Insel geworfen wurde?

– Ja.

– Eine verschlagene Schaluppe?

– Ja.«

Dieser Punkt war jetzt klar und Zach Fren konnte die natürlichen Folgen daraus ziehen.

»Diese Schaluppe habt Ihr ausgebessert?

– Ja.

– Und der Capitän John hat sie benutzt, um an die nächste Küste zu gelangen?

– Ja.«

Aber warum hatten sich nicht Alle eingeschifft? Das war sehr wichtig.

»Ohne Zweifel war die Schaluppe zu klein, um zwölf Personen zu fassen?

– Ja.

– Und so sind sieben fortgefahren, Capitän John, Sie und fünf Matrosen?

– Ja.«

Man konnte deutlich in dem Blicke des Sterbenden lesen, daß es vielleicht noch möglich wäre, die Zurückgelassenen zu retten. Aber auf ein Zeichen Dollys stand Zach Fren davon ab, ihm zu sagen, daß die fünf Matrosen zugrunde gegangen wären. Nun wurde Harry Felton wieder einige Minuten Ruhe gelassen, während der er mit geschlossenen Augen dalag, die Hand der Mrs. Branican fortwährend drückend.

Dolly war jetzt mit ihren Gedanken auf der Insel Browse und sah Alles vor ihren Augen ... Sie erblickte John, der Alles zur Rettung seiner Gefährten versuchte ... Sie hörte ihn, sie sprach zu ihm, sie ermuthigte ihn, sie unternahm die Ueberfahrt mit ihm ... Doch wo war diese Schaluppe gelandet?

Harry Felton schlug die Augen wieder auf und Zach Fren begann von neuem:

»So hatten Capitän John, Sie und fünf Matrosen die Insel Browse also verlassen?

– Ja.

– Und das Boot fuhr gegen Osten, um das nächste Land zu erreichen?

– Ja.

– War das Australien?

– Ja.

– Wurde es durch einen Sturm dahin verschlagen?

– Nein.

– Sie konnten in einer Bucht der Küste Australiens landen?

– Ja.

– Ohne Zweifel in der Nähe des Cap Lévêque?

– Ja.

– Vielleicht im York-Sund?

– Ja.

– Fielen Sie beim Landen Eingebornen in die Hände?

– Ja.

– Und sie schleppten Euch fort?

– Ja.

– Alle?

– Nein.

– Einige wurden bei der Landung von den Eingebornen erschlagen?

– Ja.

– Einer ... zwei ... drei ... vier?

– Ja.

– Ihr waret also nur drei, als die Australier Euch in das Innere des Landes schleppten?

– Ja.

– Der Capitän, Sie und einer der Matrosen?

– Ja.

– Ist dieser Matrose noch bei Capitän John?

– Nein.

– Ist er etwa gestorben?

– Ja.

– Schon längst?

– Ja.«

So waren also John und Harry Felton die einzigen Ueberlebenden des »Franklin«, und von diesen hatte Einer auch nur noch wenige Stunden zu leben.

Es war nicht leicht, von Harry Felton Auskunft über den Capitän John zu erhalten, die man doch möglichst genau erlangen mußte. Mehr als einmal mußte Zach Fren seine Fragen unterbrechen; wenn er sie wieder aufnahm, ließ ihn Mrs. Branican Frage um Frage stellen, um Alles zu erfahren, was sich seit den neun Jahren, d. h. von dem Tage an zugetragen hatte, wo der Capitän John und Harry Felton von den Eingebornen der Küste gefangen genommen wurden. Man erfuhr also, daß dies Nomaden waren ... Die Gefangenen mußten sie auf ihren steten Zügen durch Dampierland begleiten, indem sie ein elendes Dasein fristeten ... Warum hatten sie dieselben geschont? ... Wollte man für sie vielleicht von den englischen Behörden ein hohes Lösegeld erpressen? Ja, und dies schien aus den Antworten Harry Felton's hervorzugehen. Es handelte sich also nur um das Lösegeld, wenn es ihnen gelang, bis zu diesen Eingebornen vorzudringen. Einige andere Fragen ergaben, daß Capitän John und Harry Felton so gut bewacht wurden, daß sie im Verlaufe von neun Jahren keine Gelegenheit zur Flucht finden konnten.

Endlich bot sich ihnen eine günstige Gelegenheit. Die Gefangenen kamen über einen Ort überein, wo sie sich treffen wollten, um gemeinschaftlich zu fliehen; aber aus irgend einem, Harry Felton unbekannten Grunde war John verhindert, an dem festgesetzten Ort zu erscheinen. Harry Felton wartete mehrere Tage, und da er nicht allein fliehen wollte, so suchte er den Stamm wieder auf. Dieser hatte aber seinen Platz verlassen und war weitergezogen ... Er war entschlossen, seinen Capitän zu befreien, wenn es ihm gelänge, eines der Dörfer im Innern zu erreichen; er irrte herum, verbarg sich, um nicht in die Hände der Eingebornen zu fallen, litt Hunger und Durst und furchtbare Strapazen ... Durch sechs Monate war er so herumgeirrt, bis er schließlich ohnmächtig an dem Ufer des Parru niedersank. Hier wurde er, wie wir wissen, gefunden, auf Grund seiner Papiere erkannt und nach Sydney gebracht, wo er auf so wunderbare Weise so lange lebte, bis er Alles sagen konnte, was man so viele Jahre vergebens zu erfahren gesucht hatte. So war denn der Capitän John am Leben, aber der Gefangene eines Nomadenstammes, welcher die Einöden des Dampier durchzog.

Als nun Zach Fren verschiedene Stämme nannte, welche gewöhnlich in diesen Gegenden lebten, machte der Sterbende bei dem Namen Indas ein bejahendes Zeichen.

Zach Fren gelang es sogar zu erfahren, daß sich dieser Stamm während des Winters gewöhnlich an den Ufern des Fitz-Roy-River aufhalte, einem Zuflusse des Golfes von Lévêque, im Nordwesten von Australien.

»Dort müssen wir John suchen, sagte Mrs. Branican, dort werden wir ihn finden.«

Harry Felton verstand sie, denn sein Blick belebte sich bei dem Gedanken, daß der Capitän John doch gerettet werde ... gerettet werde durch sie.

Harry Felton hatte nun Alles gesagt und er schloß die Augen. In welchen Zustand hatten diesen so muthigen und kräftigen Menschen die Strapazen, Entbehrungen und besonders der furchtbare Einfluß des australischen Klimas gebracht! ... Und er mußte eben jetzt sterben, wo sein Elend gerade ein Ende hatte! Konnte dasselbe nicht auch dem Capitän John zustoßen, wenn er versucht hätte, durch die Einöden von Central-Australien zu entfliehen? Bedrohten nicht dieselben Gefahren diejenigen, welche den Stamm der Indas aufsuchen wollten?

Auf der andern Seite ging jener unbekannte junge Mann.

Aber ein solcher Gedanke kam Mrs. Branican nicht in den Sinn, denn schon während der Ueberfahrt nach Australien hatte sie eine neue Expedition ins Auge gefaßt und die Einzelheiten derselben durchdacht; es handelte sich nur darum, dieselbe zur Ausführung zu bringen.

Harry Felton starb gegen neun Uhr Abends. Noch einmal rief ihn Dolly bei seinem Namen ... Noch einmal hörte er sie ... Seine Augenlider erhoben sich und seinen Lippen entrang sich endlich der Name: »John ... John!«

Dann hob sich seine Brust – er hatte ausgerungen.

Als Mrs. Branican an diesem Abend das Hospiz verließ, wurde sie von einem Burschen angesprochen, der sie bei der Thür erwartete. Es war ein junger Matrose der Handelsmarine von dem Schiffe »Brisbane«, das den Postdienst an der Australischen Küste zwischen Sydney und Adelaïde besorgte.

»Mrs. Branican? sagte er mit gerührter Stimme.

– Was wünschen Sie, mein Kind? erwiderte Dolly.

– Ist Harry Felton gestorben?

– Ja, er ist todt.

– Und der Capitän John?

– Er lebt! ... er lebt!

– Ich danke, Mrs. Branican,« erwiderte der Knabe.

Dolly hatte kaum sein Gesicht ordentlich gesehen, und er entfernte sich, ohne zu sagen, wer er war, noch warum er diese Fragen gestellt hatte.

Am folgenden Tage fand das Begräbniß Harry Felton's statt, dem die Matrosen des Hafens und ein großer Theil der Bevölkerung von Sydney beiwohnte.

Mrs. Branican ging hinter dem Sarge, und neben ihr der treue Freund des Capitän John, ihr ergebener Gefährte.

Auf der anderen Seite ging jener unbekannte junge Mann, der dem Officier des »Franklin« ebenfalls die letzte Ehre erwies.

 

*

Ende des ersten Theiles.

 


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