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Achtes Capitel.
Eine schwierige Lage

Mrs. Branican, die ihren Verstand wieder erhalten hatte, war wie vom Tode erstanden. Da sie dieser Blitz der Erinnerung nicht niedergeschlagen hatte, konnte man, durfte man hoffen, daß diese Genesung sicher war? Würde ihre geistige Kraft nicht noch einmal unterliegen, wenn sie erfahren würde, daß seit vier Jahren alle Nachrichten über den »Franklin« ausgeblieben waren, daß man ihn für verloren halten mußte, Menschen wie Ladung, daß sie nie mehr den Capitän John wiedersehen werde? ...

Dolly, die durch diese nervöse Erschütterung ganz gebrochen war, wurde sofort nach Prospect-House zurückgebracht. Weder Mr. William Andrew noch der Dr. Brumley wollten sie verlassen, und Dank den ergebenen Frauen, die sie bedienten, wurde ihr jede Pflege zutheil, welche ihr Zustand erheischte.

Aber die nervöse Aufregung war so groß gewesen, daß sie von einem heftigen Fieber ergriffen wurde. Sie lag sogar einige Tage im Delirium, was die Aerzte sehr beunruhigte, obwohl Dolly in den vollen Wiederbesitz ihrer geistigen Kräfte gelangte. In Wahrheit, als der Augenblick gekommen war, ihr die ganze Tragweite des Unglücks mitzutheilen, da mußte viel Vorsicht beobachtet werden.

Und als Dolly zum erstenmale fragte, seit wie langer Zeit sie krank gewesen sei, da erwiderte Dr. Brumley, der auf diese Frage gefaßt war:

»Seit zwei Monaten!

– Erst ... seit zwei Monaten ...« sagte sie leise.

Es schien ihr, als wären schon hundert Jahre verflossen.

»Zwei Monate! fügte sie hinzu. John kann ja noch nicht zurück sein, da erst zwei Monate verflossen sind ... Und weiß er, daß unser armes Kind? ...«

– Herr Andrew hat es geschrieben ... erwiderte der Arzt ohne Zögern.

– Und hat man irgend welche Nachrichten über den »Franklin« erhalten?«

Es wurde der Frau geantwortet, daß der Capitän John von Singapore hatte schreiben sollen, aber die Briefe wären noch nicht angekommen, doch nach den Seenachrichten müßte man glauben, daß der »Franklin« binnen Kurzem nach Indien kommen werde, und daß die Depeschen ebenfalls bald eintreffen müßten.

Sie fürchtete sich nicht vor dem donnernden Brechen der Wogen.

Als nun Dolly fragte, warum Jane Burker nicht bei ihr sei, erwiderte der Arzt, daß Mr. und Mrs. Burker verreist wären, und daß man nicht wüßte, wann sie zurückkehrten.

Es fiel nun Mr. William Andrew die schwere Aufgabe zu, der Mrs. Branican den Untergang des »Franklin« mitzutheilen. Aber man war übereingekommen, daß er ihr das erst dann sagen sollte, wenn ihr Geist stark genug wäre, diesen neuen Schlag zu ertragen. Er mußte sogar dafür sorgen, daß sie Alles nur nach und nach erfahre, woraus sie dann selbst den Schluß ziehen konnte, daß Niemand den Schiffbruch überlebt habe.

Die Passagiere hatten Mrs. Branican erkannt.

Die Erbschaftsangelegenheit wurde ebenfalls auf eine spätere Zeit verschoben, denn Mrs. Branican würde früh genug erfahren, daß sie ein Vermögen besitze, welches ihr Gatte nicht mit ihr theilen konnte.

Während der folgenden vierzehn Tage stand Mrs. Branican in gar keiner Verbindung mit der Außenwelt. Mr. William Andrew und der Dr. Brumley waren die Einzigen, die bei ihr Zutritt hatten. Das Fieber, welches anfangs sehr heftig auftrat, nahm allmählich ab und sollte wahrscheinlich bald ganz verschwinden. Der Arzt hatte sowohl aus Gesundheitsrücksichten, als auch um der Beantwortung aller Fragen zu entgehen, welche die Kranke stellte, ihr befohlen, das größte Stillschweigen zu beobachten. Ueberhaupt vermied man vor ihr jede Berührung der Vergangenheit, was ihr nur immer verrathen konnte, daß seit dem Tode ihres Kindes, seit der Abreise ihres Mannes vier Jahre verflossen waren. Während einiger Zeit galt für sie nicht das Jahr 1879, sondern 1875.

Ueberhaupt hegte Dolly nur einen Wunsch oder vielmehr eine natürliche Ungeduld, sobald wie möglich einen Brief von John zu erhalten. Da sie dachte, daß der »Franklin« bald in Calcutta ankäme, wenn er überhaupt nicht schon dort war, so würde das Haus Andrew bald durch ein Telegramm in Kenntniß gesetzt werden; die überseeische Post werde nicht lange auf sich warten lassen ... Dann würde sie selbst, sobald sie die Kraft hätte, an John schreiben ... Ach! was sollte sie ihm schreiben? ... Es wäre der erste Brief, den sie ihm seit ihrer Hochzeit schreiben würde, da sie nie vor der Abfahrt des »Franklin« getrennt waren ... Ja, wie viel Trauriges würde dieser erste Brief enthalten!

Und nun erinnerte sie sich an die Vergangenheit, und sie beschuldigte sich, den Tod ihres Kindes herbeigeführt zu haben! ... Dieser unglückselige Tag, der 31. März, fiel ihr ein ... Wenn sie das Kind zu Hause gelassen hätte, so würde es heute noch leben! ... Warum hatte sie es mit auf das Schiff genommen? ... Warum hatte sie den Vorschlag des Capitän Ellis nicht angenommen, an Bord des Schiffes zu bleiben bis zum Quai von San-Diego? ... Das fürchterliche Unglück hätte sich nicht ereignet! ... Und warum hatte sie auch in einem unüberlegten Augenblicke das Kind aus den Armen der Amme gerissen, gerade als der Dampfer sich plötzlich wendete, um nicht zusammenzustoßen! ... Sie war gestürzt, und das Kind war ihr aus den Armen gefallen ... Ihr, der Mutter ... und sie hatte nicht den Gedanken gehabt, es fest zu halten ... Und als der Matrose sie an Bord getragen hatte, war das Kind nicht mehr in ihren Armen! ... Armes Kind, das nicht einmal ein Grab hatte, über dem seine Mutter weinen konnte!

Alle diese Bilder, die an ihrem Geiste vorüberzogen, gaben ihr nicht jene Ruhe, der sie so bedurfte. Ein heftiges Delirium, hervorgerufen durch einen neuen Fieberanfall, machte Dr. Brumley sehr viel Sorge, zum Glück ging diese Krisis aber vorüber und verschwand endlich ganz. Man hatte nichts mehr wegen des geistigen Zustandes der Mrs. Branican zu fürchten. Der Augenblick kam heran, wo Mr. William Andrew ihr Alles sagen wollte.

Sobald Dolly ihrer Wiedergenesung entgegenging, durfte sie das Bett verlassen; man legte sie auf eine Chaiselongue an den Fenstern ihres Zimmers, von wo sie den ganzen Golf von San Diego überblicken konnte. Hier verharrte sie stundenlang unbeweglich.

Dann wollte Dolly an John schreiben, denn es drängte sie, ihm Alles von dem Kinde zu erzählen, das er nicht mehr wiedersehen würde; sie schüttete so ihren ganzen Schmerz aus in einem Briefe, den ihr Gatte nie erhalten sollte.

Mr. William Andrew nahm den Brief in Empfang und versprach, ihn nach Indien zu schicken, worauf Mrs. Branican wieder ziemlich ruhig wurde und nur in der Hoffnung lebte, auf directem oder indirectem Wege über den »Franklin« Nachricht zu erhalten.

Aber dies konnte nicht so fort gehen, denn Dolly mußte früher oder später, und zwar aus der großen Vorsicht erkennen, daß man ihr etwas verberge. Je mehr sie sich in den Gedanken hineinlebte, daß sie bald einen Brief von John erhalten werde, desto furchtbarer mußte der Schlag sein!

Und dies schien nur allzu sicher zu sein in Folge einer Unterredung, welche Mrs. Branican und Mr. William Andrew am 19. Juni hatten.

Zum erstenmale war Dolly in den Garten des Prospect-House hinab gegangen, wo Mr. William Andrew sie auf einer Bank sitzen sah. Er setzte sich neben sie, nahm sie bei der Hand und drückte diese.

Mrs. Branican fühlte sich schon kräftig genug. Ihr Antlitz hatte den früheren Teint wieder angenommen, obgleich ihre Augen noch immer verweint waren.

»Ich sehe, daß Ihre Genesung rasche Fortschritte macht, liebe Dolly, sagte Mr. William Andrew. Ja, es geht Ihnen schon besser!

– In der That, Herr Andrew, erwiderte Dolly, aber ich komme mir in diesen zwei Monaten so gealtert vor! ... Wie wird mich da mein armer John verändert finden! ... Und dann muß ich ihn allein erwarten! ... Nur ich bin noch da ...

– Muth, liebe Dolly, Muth! ... Nur nicht verzweifeln! ... Ich bin jetzt Ihr Vater ... ja, Ihr Vater ... und ich will, daß Sie mir gehorchen!

– Lieber Herr Andrew!

– Das will ich hören!

– Der Brief, den ich John geschrieben habe, ist doch schon fort? ... fragte Dolly.

– Gewiß ... und Sie müssen geduldig seine Antwort abwarten! ... Die indische Post verspätet sich oft ... Da, Sie weinen schon wieder! ... Ich bitte Sie, weinen Sie nicht! ...

– Kann ich anders ... Herr Andrew? Wenn ich bedenke ... und bin ich nicht die Ursache ... ich ...

– Nein, arme Mutter, nein! Gott hat Sie grausam geschlagen, aber er will auch, daß jeder Schmerz ein Ende habe ...

– Gott! sagte Mrs. Branican leise, Gott, der mir meinen John zurückbringen soll!

– Liebe Dolly, ist der Arzt heute schon hier gewesen? fragte Mr. William Andrew.

– Ja, und meine Gesundheit kommt ihm heute bedeutend besser vor! ... Ich fühle mich kräftig, und bald werde ich ausgehen können ...

– Nicht früher, als er es erlaubt, Dolly.

– Nein, Herr Andrew, ich verspreche Ihnen, daß ich keine Unvorsichtigkeit begehen werde.

– Ich rechne auf Ihr Versprechen.

– Sie haben noch nichts Näheres von dem »Franklin« gehört, Herr Andrew?

– Nein, und ich wundere mich auch nicht darüber ... Die Schiffe brauchen oft sehr lange Zeit, bis sie nach Indien kommen ...

– John hätte von Singapore schreiben können? ... Hat er dort keinen Aufenthalt genommen?

– O ja, Dolly! ... Aber wenn er die Post nur um einige Stunden versäumt hat, so müssen sich seine Briefe um wenigstens vierzehn Tage verspäten.

– Also ... Sie finden nichts sonderbares darin, daß John Ihnen bisher noch keinen Brief hat schicken können? ...

– Keineswegs ... erwiderte Mr. William Andrew, welcher fühlte, wie dieses Gespräch ihn in Verlegenheit setzte.

– Und die Schiffszeitungen haben seine Fahrt noch nicht erwähnt? fragte Dolly.

– Nein ... seitdem er dem »Boundary« begegnet ist ... vor ungefähr ...

– Ja ... vor ungefähr zwei Monaten ... Und warum haben sich die zwei Schiffe begegnen müssen! ... Ich wäre nicht an Bord des ›Boundary‹ gegangen ... und mein armes Kind« ...

Mrs. Branican fing an zu weinen.

»Dolly, meine liebe Dolly, weinen Sie nicht, ich bitte Sie, weinen Sie nicht!

– Ach! Herr Andrew, ich weiß nicht ... eine Ahnung sagt mir manchmal ... ich kann es mir nicht erklären ... es kommt mir vor, als wenn ein neues Unglück ... ich mache mir so viele Sorgen um John ...

– Das brauchen Sie nicht, Dolly! ... Es ist kein Grund zur Besorgniß vorhanden ...

– Herr Andrew, fragte Mrs. Branican, könnten Sie mir nicht mehrere Schiffszeitungen senden, worin einige Seenachrichten stehen? Ich möchte sie lesen ...

– Gewiß, meine liebe Dolly, ich werde es thun ... Uebrigens, wenn man etwas über den ›Franklin‹ erfährt ... sei es, daß er auf dem Meere gesehen, sei es, daß seine bevorstehende Ankunft in Indien signalisirt wurde, so würde ich es zuerst wissen, und sobald ...«

Aber er mußte dem Gespräche eine andere Wendung geben, denn die Frau würde schließlich seine zögernden Antworten bemerkt haben, umsomehr, als er sie nicht anzusehen wagte, wenn sie ihn noch weiter fragte. Auch wollte er zum erstenmal von dem Tode ihres Onkels und dem ungeheuren Vermögen sprechen, das ihr zugefallen war, als Dolly fragte:

»Jane Burker und ihr Mann sind verreist, wie man mir erzählte ... Ist es lange her, daß sie San-Diego verlassen haben? ...

– Nein ... seit zwei bis drei Wochen ...

– Und werden sie nicht bald zurückkommen?

– Ich weiß nicht ... erwiderte Mr. William Andrew. Wir haben keine Nachricht erhalten ...

– Man weiß also nicht, wohin sie gereist sind?

– Man weiß es nicht, meine liebe Dolly. Len Burker war sehr wichtige Geschäfte eingegangen ... die ihn weit ... sehr weit gerufen haben ...

– Und Jane? ...

– Mrs. Burker hat ihren Gatten begleiten müssen ... und ich kann Ihnen nicht sagen, was vorgegangen ist ...

– Arme Jane, sagte Mrs. Branican. Ich liebe sie so sehr und ich werde glücklich sein, sie wieder zu sehen ... Nicht wahr, sie ist die einzige Verwandte, die ich noch habe?«

Sie dachte weder mehr an Edward Starter, noch an die Familienbande, die sie mit ihm verknüpften.

»Wie kommt es, daß Jane mir nicht ein einzigesmal geschrieben hat? fragte sie.

– Meine liebe Dolly ... Sie waren schon sehr krank, als Mr. Burker und seine Frau San-Diego verließen ...

– In der That, Herr Andrew, warum soll man Jemandem schreiben, der nichts versteht! ... Arme Jane, wie ist sie zu beklagen! ... Sie hat ein hartes Leben gehabt ... ich habe immer gefürchtet, daß Len Burker sich in irgend eine gefährliche Speculation einlassen wird ... Vielleicht befürchtete Jane dasselbe.

– Und doch hätte Niemand so etwas erwartet ...

– Hat vielleicht Len Burker in Folge schlechter Geschäfte San-Diego verlassen müssen? fragte Dolly lebhaft, indem sie Mr. William Andrew in die Augen sah, da er sichtlich verlegen wurde. Herr Andrew, sprechen Sie! ... verhehlen Sie mir nichts! ... ich will Alles wissen! ...

– Nun, Dolly, ich will Ihnen nicht ein Unglück verbergen, welches Sie sonst bald erfahren würden ... Ja, in der letzten Zeit hatte sich die Lage Len Burker's sehr verschlechtert ... Er konnte seinen Verpflichtungen nicht nachkommen ... er wurde von allen Seiten gedrängt ... und um der Verhaftung zu entgehen, mußte er flüchten ...

– Und Jane folgte ihm?

– Er hat sie gewiß dazu gezwungen, und Sie wissen, daß sie keinen Willen hatte ...

– Arme Jane! ... arme Jane! sagte die Frau leise. Wie beklage ich sie, und wenn ich ihr hätte helfen können ...

– Sie hätten es thun können, ja ... Sie hätten Len Burker retten können, wenn nicht um seinetwillen, der gar keine Sympathie verdiente, so wenigstens wegen seiner Frau ...

– Und John hätte sicher, ich weiß es, einer solchen Verwendung unseres kleinen Vermögens zugestimmt.«

Mr. William Andrew hütete sich wohl zu erwidern, daß ihre Mitgift von Len Burker verbraucht worden war. Er hätte dann sagen müssen, daß er ihr Curator gewesen war, und sie würde sich vielleicht gefragt haben, wie in so kurzer Zeit – in zwei Monaten – sich so Vieles konnte ereignet haben. So erwiderte er ihr nur:

»Sprechen Sie nichts von Ihrem bescheidenen Vermögen, liebe Dolly ... Es hat sich sehr verändert.

– Was wollen Sie damit sagen?

– Ich will damit sagen, daß Sie reich sind ... sehr reich.

– Ich?

– Ihr Onkel Edward Starter ist gestorben ...

– Gestorben? ... Er ist gestorben! ... Und wann?

– Am ...«

Mr. William Andrew hätte sich bald verrathen, indem er den wahren Todestag angeben wollte, also vor zwei Jahren, was dann die ganze Wahrheit hätte erkennen lassen.

Aber Dolly dachte jetzt nur, daß der Tod ihres Onkels, das Verschwinden ihrer Cousine sie allein in der Welt stehen ließ. Und als sie erfuhr, daß sie von dem Onkel, den sie kaum gekannt und von dem sie mit John durch Beerbung eine glänzende Zukunft erwartet hatte, zwei Millionen Dollars erhalten hatte, so sah sie darin nur die Gelegenheit, wie viel Gutes sie hätte thun können.

»Ja, Herr Andrew, ich wäre der armen Jane zu Hilfe gekommen ... Ich hätte sie vor dem Ruin und der Schande bewahrt! ... Wo ist sie? ... Wo kann sie sein ... was wird aus ihr werden? ...«

Mr. William Andrew konnte nur wiederholen, daß man Nachforschungen angestellt habe, die aber zu keinem Resultate führten. Len Burker hatte sich vielleicht in eine entlegene Gegend der Vereinigten Staaten geflüchtet oder vielleicht Amerika ganz verlassen. Es war unmöglich gewesen, es zu erfahren.

Als sie in einer ziemlich finsteren Ecke niederkniete.

»Doch wenn Jane und er erst seit einigen Wochen aus San-Diego verschwunden sind, versetzte Mrs. Branican, so wird man doch erfahren ...

– Ja ... einige Wochen« ... beeilte sich Mr. William Andrew zu antworten.

Aber in diesem Augenblicke dachte Mrs. Branican nur daran, dass, Dank der Erbschaft Edward Starter's, John nicht mehr nöthig hätte, in die See zu stechen ... daß er sie nie mehr verlassen ... daß diese Reise für das Haus Andrew die letzte sein würde, die er unternommen hätte ...

Und war es nicht auch die letzte, da der Capitän John nicht mehr zurückkehren sollte!

»Lieber Herr Andrew, rief Dolly, wenn John einmal zurück sein wird, so darf er nicht mehr fort ... Seine Begeisterung für das Seemannsleben muß er mir opfern! ... Wir werden zusammen leben ... für immer zusammen! ... Nichts wird uns mehr trennen!«

Bei dem Gedanken, daß dieses Glück durch ein einziges Wort vernichtet werden könnte, ein Wort, das er bald aussprechen müßte, konnte Mr. William Andrew seine Fassung nicht mehr bewahren. Er beeilte sich, diesem Gespräch ein Ende zu machen; doch bevor er sich entfernte, nahm er Mrs. Branican das Versprechen ab, keine Unvorsichtigkeit zu begehen, sich nicht hinauszuwagen, ehe der Arzt es ihr nicht erlaubt hätte. Seinerseits wiederholte er, daß er, sobald er direct oder indirect eine Nachricht über den »Franklin« erhalten werde, dies sofort werde im Prospect-House melden lassen.

Als Mr. William Andrew diese Unterredung Dr. Brumley mittheilte, konnte dieser nicht umhin, seine Besorgniß auszudrücken, eine Indiscretion möchte Mrs. Branican den ganzen Sachverhalt erkennen lassen: daß ihr Wahnsinn vier Jahre gedauert, daß man seit vier Jahren nichts über den »Franklin« gehört hätte, daß sie John nie mehr sehen würde.

Es wurde daher beschlossen, daß in ungefähr acht Tagen, wenn Mrs. Branican durch keinen plausiblen Grund mehr im Hause zurückgehalten werden konnte, sie von Allem in Kenntniß gesetzt werde.

»Möge Gott ihr Kraft zu dieser Prüfung geben!« sagte Mr. William Andrew.

In der letzten Juniwoche lebte Mrs. Branican so, wie sie es immer gewohnt war. Dank der Pflege, mit der man sie umgab, erhielt sie ebenso ihre physischen Kräfte wieder, wie sich zu gleicher Zeit ihr Geist stärkte. Auch Mr. William Andrew wurde durch ihre Fragen immer mehr in Verlegenheit gebracht, da sie sich oft nach Dingen erkundigte, die er ihr nicht sagen durfte.

Am 23. Juni Nachmittags besuchte er sie, um ihr eine bedeutende Summe Geldes zur Verfügung zu stellen und ihr Rechenschaft über ihr Vermögen abzulegen, das in der Bank von San-Diego sicher angelegt war. An diesem Tage war Mrs. Branican gegen Alles, was Mr. William Andrew ihr sagte, auffallend gleichgiltig. Sie hörte ihm kaum zu. Sie sprach nur von John, sie dachte nur an ihn. Wie! Noch kein Brief? ... Dies beunruhigte sie sehr! ... Wieso kam es, daß das Haus Andrew nicht einmal eine Depesche erhielt, welche die Ankunft des »Franklin« in Indien anzeigte?

Mr. William Andrew suchte Dolly zu beruhigen, indem er sagte, daß er soeben ein Telegramm nach Calcutta gesendet habe und daß jeden Tag die Antwort eintreffen müsse. Kurz, wenn es ihm gelang, sie von diesem Gedanken abzubringen, so setzte sie ihn neuerdings in große Verlegenheit, als sie ihn fragte:

»Herr Andrew, es lebt ein Mann, von dem ich noch nicht mit Ihnen gesprochen habe ... der nämlich, der mir das Leben gerettet hat und der mein armes Kind nicht hat retten können ... der Matrose ...

– Der Matrose? wiederholte er nicht ohne sichtliches Zögern.

– Ja ... dieser muthige Mann ... dem ich das Leben verdanke ... Ist er belohnt worden?

– Ja, Dolly.«

Und so verhielt es sich auch in der That.

»Ist er in San-Diego, Herr Andrew?

– Nein ... liebe Dolly ... Nein! Ich habe gehört, daß er wieder in die See gestochen ist ...«

Das war auch wahr.

Nachdem er den Hafendienst verlassen hatte, schiffte er sich wieder ein.

»Aber wenigstens werden Sie mir sagen können, wie er heißt? fragte Mrs. Branican.

– Er heißt Zach Fren.

– Zach Fren? ... Gut! ... Ich danke Ihnen, Herr Andrew,« erwiderte Dolly. Sie bestand nicht weiter darauf, etwas Näheres über den Seemann zu hören, nachdem sie jetzt seinen Namen kannte.

Aber seit jenem Tage kam ihr dieser Zach Fren nicht aus dem Sinn. Er war von nun an in ihrem Geiste unauslöschlich mit der Erinnerung an die Katastrophe in dem Golfe von San Diego verknüpft. Diesen Zach Fren würde sie nach Beendigung seiner Fahrt wiederfinden ... Sie würde erfahren, auf welchem Schiffe er sich befinde ... wahrscheinlich ein Schiff aus dem Hafen von San Diego ... Dieses Schiff würde in einem halben Jahre ... in einem Jahre zurückkommen ... und dann ... gewiß würde dann der »Franklin« vor ihm ankommen ... John und sie würden zusammen Zach Fren belohnen ... ihm diese Dankesschuld abzahlen ... O, John würde bald zurückkehren ... er würde auf sein Commando verzichten und dann würden sie sich nie mehr trennen!

»Warum werden sich an diesem Tage unsere Küsse, dachte sie, mit den Thränen vereinigen müssen?«


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