Jules Verne
Die Eissphinx. Erster Band
Jules Verne

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XVI. Die Insel Tsalal

Die Nacht verging ohne Störung. Kein Boot hatte die Insel Tsalal verlassen, kein Eingeborner sich am Ufer gezeigt. Danach ließ sich nur annehmen, daß die Bevölkerung mehr im Innern siedelte. Wir wußten ja auch aus dem Berichte, daß man drei bis vier Stunden marschieren mußte, um nach dem Hauptorte der Insel Tsalal zu gelangen.

Jedenfalls war die »Halbrane« bei ihrer Ankunft nicht bemerkt worden und das war ja am Ende recht günstig.

Wir ankerten bei zehn Faden Tiefe drei Seemeilen von der Küste.

Um sechs Uhr wurde der Anker gelichtet, und die von schwachem Morgenwinde getriebene Goëlette legte sich eine halbe Seemeile vor einem Korallenriffe, das den Atolls des Großen Oceans ähnelte, wieder fest. Von hier aus war es leicht, die ganze Insel zu überblicken.

Ein Umfang von neun bis zehn Seemeilen – was Arthur Pym nicht mit erwähnt hatte – eine zerklüftete, schwer zugängliche Küste, lange grüne Ebenen, eingerahmt von mäßig hoher Hügelreihe – das ist das Bild, das die Insel Tsalal darbot. Ich wiederhole, daß das Ufer verlassen war. Man sah ein Boot weder draußen auf dem Wasser, noch in den kleinen Buchten. Ueber die Felsen erhob sich kein Rauch und es hatte den Anschein, als ob an dieser Seite kein menschliches Wesen wohnte.

Was war denn seit elf Jahren vorgegangen? Vielleicht lebte der Häuptling der Eingebornen, jener Too-Wit, überhaupt nicht mehr? – Doch wo blieb dann die verhältnißmäßig zahlreiche Bevölkerung . . . und William Guy . . . und die Überlebenden von der englischen Goëlette? . . .

Als die »Jane« in dieser Gegend erschien, war es das erste Mal, daß die Tsalalier ein wirkliches Schiff sahen, und als sie dessen Verdeck betraten, hielten sie es für ein ungeheures Thier, die Masten für seine Gliedmaßen und die Segel für eine Art Bekleidung. Jetzt mußten sie wissen, woran sie damit waren. Doch wenn sie jetzt nicht versuchten, zu uns zu kommen, welcher Ursache sollte man diese eigenthümliche Zurückhaltung zuschreiben?

»Das große Boot ins Meer!« befahl der Kapitän Len Guy mit ungeduldiger Stimme.

Der Befehl wurde ausgeführt, und der Kapitän Len Guy wendete sich an den Lieutenant mit den Worten:

»Jem, laß acht Mann mit Martin Holt einsteigen und Hunt mag das Steuer übernehmen. Du wirst hier an der Stelle bleiben und sowohl nach dem Lande, als nach dem Meere zu die Augen offen halten . . .«

»Seien Sie darum unbesorgt, Kapitän.«

»Wir werden ans Land gehen und nach dem Dorfe Klock-Klock zu gelangen suchen. Wenn es auf dem Wasser zu einer Ueberraschung käme, so giebst Du drei Kanonenschüsse ab . . .«

»Richtig, drei Kanonenschüsse in Zwischenräumen von einer Minute,« antwortete der Lieutenant.

»Kommen wir bis zum Abend nicht zurück, so sende das zweite Boot gut bewaffnet und mit zehn Mann unter Führung des Hochbootsmanns. Die Leute mögen dann eine Kabellänge vom Ufer halten, um uns zu erwarten . . . Verstanden?«

»Vollkommen.«

»Und Du selbst verläßt das Schiff keine Minute, Jem!«

»Auf keinen Fall!«

»Sollten wir nicht aufgefunden werden, so wirst Du, nachdem alles, was dazu möglich ist, versucht war, die Führung der Goëlette übernehmen und sie nach den Falklands zurückbringen.«

»Ganz wie Sie befehlen!«

Das große Boot war bald bereit gestellt. Acht Mann nahmen darin Platz, darunter Martin Holt und Hunt, alle mit Gewehren und Pistolen bewaffnet und mit Patronenbeutel und großem Messer ausgerüstet.

Im letzten Augenblick trat ich noch vor und fragte:

»Würden Sie mir nicht gestatten, Sie ans Land zu begleiten, Herr Kapitän?«

»Wenn Sie dazu Lust haben, gern, Herr Jeorling.«

In meine Cabine zurückeilend, ergriff ich mein Gewehr (eine doppelläufige Jagdflinte), das Pulverhorn, den Schrotbeutel, steckte einige Kugeln zu mir und schloß mich dem Kapitän auf einem im Hintertheile des Bootes freigehaltenen Platze an.

Wir stießen ab und steuerten, von kräftigen Ruderschlägen getrieben, dem Klippenrande zu, um die Oeffnung aufzusuchen, durch die Arthur Pym und Dirk Peters am 19. Januar 1828 mit dem Boote der »Jane« gefahren waren.

In diesem Augenblicke tauchten damals die Wilden in ihren langen Piroguen auf . . . William Guy hatte ihnen mit einem weißen Taschentuche als Zeichen seiner friedlichen Absichten zugewinkt, worauf jene mit dem Ausrufe anamoo-moo und lama-lama antworteten und der Kapitän deren Häuptling gestattete, das Schiff zu betreten.

Dem Berichte nach entwickelten sich zwischen den Wilden und der Mannschaft der »Jane« bald freundliche Beziehungen. Es wurde ausgemacht, bei der Rückkehr der Goëlette, die erst noch eine Fahrt weiter nach Süden ausführen sollte, hier eine Ladung der werthvollen Seekühe einzunehmen. Zu jener Fortsetzung der Reise hatte vorzüglich Arthur Pym gedrängt. Wie bekannt, fielen drei Tage später, am 1. Februar, der Kapitän William Guy und einunddreißig seiner Leute in den Schluchten bei Klock-Klock einer teuflischen Hinterlist zum Opfer und von den sechs zur Bewachung der »Jane« zurückgelassenen Leuten konnte sich bei der Explosion auf dem Schiffe kein einziger retten.

Zwanzig Minuten lang glitt unser Boot längs des Riffkranzes hin. Sobald Hunt den Durchgang darin entdeckt hatte, steuerte er hinein und einem schmalen Felseneinschnitt zu.

Zwei Matrosen verblieben im Boote, das durch die kurze, zweihundert Toisen breite Wasserstraße zurückfuhr und an den schwärzlichen Klippen an ihrem Eingänge festgelegt wurde.

Nach Ersteigung einer sich aufwärts windenden Schlucht, die den Zugang nach der Uferhöhe vermittelte, wandte sich unsre kleine Truppe, mit Hunt an der Spitze, dem Innern der Insel zu.

Unterwegs tauschten der Kapitän Len Guy und ich unsere Bemerkungen über das Land aus, das nach Aussage Arthur Pym's »sich von allen, von civilisierten Menschen jemals besuchten Ländern sehr wesentlich unterschied«.

Das sollten wir bald selbst erfahren. Jedenfalls erschienen die ebenen Flächen im allgemeinen schwarz, als ob der Humus darauf aus pulverisierter Lava bestände, und nirgends erblickte man etwas, »das weiß war«.

Hundert Schritte von einer solchen Stelle lief Hunt plötzlich auf eine mächtige Felsenmasse zu, die er mit der Behendigkeit einer Eidechse erkletterte. Dann richtete er sich auf ihrem Gipfel auf und ließ die Blicke über ein Gesichtsfeld von mehreren Seemeilen umherschweifen.

Hunt schien die Haltung eines Mannes anzunehmen, »der sich hier nicht mehr zurechtfand«.

»Was mag er denn haben? . . .« fragte mich der Kapitän, der Hunt aufmerksam beobachtete.

»Was er hat, Herr Kapitän,« erwiderte ich, »weiß ich zwar nicht, es wird aber auch Ihnen aufgefallen sein, daß an diesem Mann alles seltsam, daß sein Verhalten unerklärlich ist und er in gewisser Hinsicht verdiente, unter den ›neuen Wesen‹ zu figurieren, die Arthur Pym auf dieser Insel getroffen zu haben behauptet . . . Man möchte fast annehmen, daß . . .«

»Nun . . . daß? . . .« wiederholte der Kapitän Len Guy.

Doch ohne den angefangenen Satz zu vollenden, rief ich:

»Sind Sie sicher, Herr Kapitän, bei der gestrigen Höhenmessung keinen Fehler begangen zu haben?«

»Vollkommen sicher!«

»Ihre Berechnung ergab also? . . .«

»Genau 83°20' der Breite und 43°5' der Länge.«

»Wirklich genau?«

»Wie ich Ihnen sagte.«

»Es ist also nicht zu bezweifeln, daß das hier die Insel Tsalal ist?«

»Nein, Herr Jeorling, wenn die Insel Tsalal die Lage hat, die Arthur Pym dafür angiebt.«

Hieran war demnach nichts mehr zu deuteln. Hatte sich Arthur Pym freilich über die nach Graden und Minuten angegebene Lage nicht getäuscht, so wußten wir nur nicht, was von der Treue seines Berichtes zu halten sei, soweit dieser die Gegend betraf, die wir unter Führung Hunt's durchzogen. Er sprach von Seltsamkeiten, die ihm ganz fremd gewesen wären, von Bäumen, deren keiner den Erzeugnissen der heißen und der gemäßigten oder der nördlichen kalten Zone, und auch nicht denen »der unteren südlichen Breiten« – so lauten seine Worte – ähnlich sahen. Er spricht dort von Felsen ganz eigenen Gefüges, sowohl ihrer Masse, als ihren Lagerschichten nach . . . von wunderbaren Bächen, deren Bett eine unbeschreibliche, jedenfalls nicht durchsichtige Flüssigkeit enthielt, eine in verschiedene Aderstreifen getheilte Art Lösung von arabischem Gummi, die alle Farbenwechsel schillernder Seide aufwies und die die Kraft der Cohäsion nicht wieder vereinigte, wenn man sie mit einer Messerklinge zertheilt hatte.

Nun, davon war nichts, oder doch nichts mehr zu sehen. Kein Baum, kein Gebüsch, kein Strauch überragte die trostlose Fläche. Von den bewaldeten Hügeln zwischen denen das Dorf Klock-Klock liegen sollte, bemerkten wir keine Spur, von den Bächen, aus denen die Leute von der »Jane« ihren Durst nicht zu stillen wagten, entdeckten wir keinen einzigen . . . nicht einmal einen Tropfen gewöhnlichen oder andersartigen Wassers . . . Ueberall die entsetzliche, abstoßende, vollkommenste Trockenheit.

Hunt ging inzwischen, ohne je zu zaudern, raschen Schrittes dahin. Es sah aus, als führte ihn ein natürlicher Instinct, wie die Schwalben, die Wandertauben, die den kürzesten Weg nach ihrem Neste – »im Bienenfluge«, sagen wir in Amerika – zurückfinden. Ich weiß nicht, welche Ahnung uns trieb, ihm wie dem erprobtesten Führer, wie einem Chingachook und Anderen, zu folgen. Doch ist das ja nicht so erstaunlich, war es doch ein Landsmann jener Helden Fenimore Cooper's.

Ich hebe aber nochmals hervor, daß wir die von Arthur Pym geschilderte fabelhafte Landschaft hier nicht vor Augen hatten. Unser Fuß schritt nur über verwilderten, erschütterten Erdboden hin. Er sah schwarz, ja so schwarz aus, als wäre er durch die Wirkung plutonischer Kräfte aus den Eingeweiden der Erde heraufgeschleudert. Man hätte an eine entsetzliche und unwiderstehliche Umwälzung denken können, die seine ganze Oberfläche durcheinander geschüttelt hätte.

Auch von den in dem Berichte erwähnten Thieren sahen wir kein einziges Exemplar, weder von den Enten der Anas valisnaria-Art, noch von den Galapagos-Schildkröten, den schwarzen Fischenten, den schwarzen, in ihrer Gestalt den Bussarden ähnlichen Vögeln, oder von den schwarzen Schweinen mit Schwanzquaste und Antilopenbeinen, den Schafen mit schwarzem Vließ und den Albatrossen mit schwarzem Gefieder. Selbst die im antarktischen Gebiete sonst so zahlreichen Pinguine schienen aus dieser unbewohnbar gewordenen Gegend geflohen zu sein. Es war die schweigende, düstere Einsamkeit der abschreckenden Wüstenei!

Und auch kein menschliches Wesen . . . niemand . . . im Innern der Insel so wenig wie an deren Ufer!

Hatten wir denn noch Aussicht, inmitten dieser Einöde den Kapitän William Guy und die Ueberlebenden von der »Jane« aufzufinden?

Ich sah den Kapitän Len Guy an. Sein bleiches Gesicht, seine tief gefurchte Stirne verriethen deutlich genug, daß seine Hoffnung zu schwinden begann.

Wir erreichten endlich das Thal, in dem früher das Dorf Klock-Klock gelegen hatte. Auch hier wie anderswo, alles verlassen . . . nicht eine einzige jener Wohnstätten – so elend sie immer gewesen sein mochten – noch von den »Yampoos«, die mittelst eines großen schwarzen Felles hergestellt wurden, das auf einem, vier Fuß über dem Boden abgeschnittenen Baumstamm ruhte, keine jener Hütten aus abgehauenen Zweigen oder jener Trogloditenhöhlen, die aus den Wänden des Hügels – einer schwarzen, der Walkererde ähnlichen Masse – ausgebrochen waren. Und der plätschernde Bach am Abhange der Schlucht, wo war er, wohin entleerte er sein geheimnisvolles Wasser, das über einen schwarzsandigen Grund hinströmte?

Was die tsalalische Bevölkerung angeht, jene fast nackt auftretenden Männer, von denen nur einzelne mit einem schwarzen Felle bekleidet, alle aber mit Spießen und Keulen bewaffnet waren, jene schlanken, großen, wohlgebauten Frauen, »mit einer Grazie und Ungezwungenheit des Auftretens, wie man solches in keiner civilisierten Gesellschaft wiederfindet«, die große Kinderschaar, die sie begleitete . . . ja, was war aus dieser ganzen Welt von schwarzhäutigen, schwarzhaarigen Eingeborenen mit den schwarzen Zähnen geworden, aus jenen Leuten, die die weiße Farbe so schwer erschreckte?

Vergeblich werd' ich die Wohnstätte Too-Wit's suchen, die aus vier großen, durch Holzbolzen zusammengehaltenen Fellen hergestellt war, welche an kleinen, in die Erde getriebenen Pflöcken befestigt waren. Ich konnte nicht einmal mehr die betreffende Stelle finden! . . . Und doch war es hier gewesen, wo William Guy, Arthur Pym, Dirk Peters und ihre Gefährten mit gewissen Beweisen von Ehrerbietung aufgenommen worden waren, während eine Menge Insulaner sich vor der Hütte drängten. Hier war es, wo die Mahlzeit aufgetragen wurde, wobei es noch zuckende Eingeweide eines unbekannten Thieres gab, die Too-Wit und die Seinen mit widerlicher Gier verschlangen . . .

Jetzt wurde es mir plötzlich heller im Kopfe. Es war wie eine Offenbarung. Ich errieth, was mit der Insel vorgegangen war, was die Veranlassung dieser Vereinsamung, die Ursache des Durcheinanders war, dessen Spuren der Erdboden zeigte.

»Ein Erdbeben!« rief ich. »Ja, hierzu genügten zwei bis drei so furchtbare Stöße, die so gewöhnlich in Gebieten sind, unter die das Meer Eingang findet. Da brechen sich eines Tages die angehäuften, gespannten Dämpfe einen Ausweg und vernichten alles an der Erdoberfläche . . .«

»Ein Erdbeben hätte an dieser Stelle die Insel Tsalal verwüstet?« murmelte der Kapitän Len Guy.

»Gewiß, Herr Kapitän, es hat die eigenartige Vegetation vernichtet, die Bäche mit der merkwürdigen Flüssigkeit und alle die Naturwunder weggefegt, die in der Tiefe der Erde begraben sind und von denen wir keine Spur mehr auffinden werden. Hier ist nichts mehr von dem zu sehen, was Arthur Pym einst an der gleichen Stelle gesehen hatte!«

Hunt, der näher getreten war, lauschte unsern Worten und hob und senkte den gewaltigen Kopf als Zeichen der Zustimmung.

»Sind diese Strecken des südlichen Meeres denn nicht vulkanischer Natur?« fuhr ich fort. »Wenn die ›Halbrane‹ uns nach Victoria-Land beförderte, würden wir da nicht den Erebus und den Terror in vollem Ausbruch finden?«

»Wenn aber eine Eruption stattgefunden hätte,« bemerkte Martin Holt, »dann müßten wir doch Lavaströme auffinden.«

»Ich behaupte nicht, daß es zu einem Auswurf gekommen sei,« antwortete ich dem Segelwerksmaat, »sondern nur, daß der Boden durch ein Erdbeben durcheinander gerüttelt worden ist.«

Eine nähere Erwägung mußte meine Anschauung als annehmbar erscheinen lassen.

Da erinnere ich mich noch daran, daß Tsalal nach Arthur Pym's Angabe zu einer sich nach Westen fortsetzenden Inselgruppe gehörte. Entging sie damals der Vernichtung, so war es möglich, daß die tsalalische Bevölkerung sich nach einer der Nachbarinseln geflüchtet hatte. Es erschien also angezeigt, diesen Archipel zu untersuchen, wo die Ueberlebenden von der »Jane« nach dem Verlassen Tsalals, das gewiß keinerlei Hilfsquellen mehr bot, Zuflucht gefunden haben konnten.

Ich theilte das dem Kapitän Len Guy mit.

»Ja,« rief er, und große Thränen perlten ihm aus den Augen, »ja, das ist möglich! Und doch, wo hätten mein Bruder und seine unglücklichen Gefährten Mittel zur Flucht hernehmen sollen . . . ist es nicht wahrscheinlicher, daß sie bei der Erderschütterung umgekommen wären? . . .«

Ein Wink von Hunt veranlaßte uns, ihm zu folgen.

Nachdem er zwei Flintenschuß weit in dem Thale vorgedrungen war, blieb er stehen.

Welch ein Bild zeigte sich da vor unsern Blicken!

Hier lag ein Haufen von Knochenresten, von Armknochen, Oberschenkeln, Wirbeln, kurz, Trümmern des ganzen Gerüstes, das das menschliche Skelett bildet, und ohne einen Fetzen Fleisch, ein Häufchen Schädel noch mit einzelnen Haarbüscheln darauf . . . kurz, eine ungeordnete Menge Knochen, die an dieser Stelle gebleicht waren.

Der entsetzliche Anblick erfüllte uns mit Schauder und Schrecken.

Lag hier, was von der auf mehrere Tausend geschätzten Bevölkerung der Insel übrig geblieben war? Doch wenn die Bewohner bei jenem Erdbeben bis zum letzten Mann umgekommen waren, wie erklärte es sich, daß diese Trümmer über der Erde vermengt und nicht in deren Eingeweiden begraben lagen? Und konnte man wohl annehmen, daß diese Eingebornen, Männer, Frauen, Kinder und Greise, an dieser Stelle überrascht worden wären und keine Zeit gefunden hätten, mit ihren Booten nach den andern Inseln der Gruppe zu entweichen?

Wir standen regungslos, erschüttert, verzweifelt, unfähig, ein Wort hervorzubringen!

»Mein Bruder . . . mein armer Bruder!« schluchzte der Kapitän Len Guy niederknieend.

Bei reiflicher Ueberlegung fiel mir doch manches auf, was ich mich anzunehmen weigerte. Wie war diese Katastrophe mit den Bemerkungen in Patterson's Notizbuch in Einklang zu bringen? . . . Jene sagten ausdrücklich, daß der zweite Officier der »Jane« seine Gefährten vor sieben Monaten auf der Insel Tsalal zurückgelassen hatte. Sie konnten also bei dem Erdbeben nicht umgekommen sein, das nach dem Aussehen der Knochen entschieden vor mehreren Jahren und nach der Abfahrt Arthur Pym's und Dirk Peters' stattgefunden haben mußte, da der Bericht desselben nicht Erwähnung that.

Diese Thatsachen waren wirklich unvereinbar. Erfolgte das Erdbeben erst in neuerer Zeit, so konnte man ihm das Vorhandensein der schon ganz gebleichten Skelette nicht zuschreiben. Jedenfalls waren die Ueberlebenden von der »Jane« nicht unter den Knochenresten. Doch . . . wo waren sie dann? . . .

Da das Thal von Klock-Klock sich auch noch weiter fortsetzte, mußten wir umkehren, um den Weg zum Ufer wieder einzuschlagen.

Kaum eine halbe Seemeile hatten wir an dem Abhange zurückgelegt, als Hunt nochmals vor einzelnen Knochenresten, die schon halb zu Staub zerfallen waren und einem menschlichen Wesen nicht anzugehören schienen, stehen blieb.

Waren das Ueberreste eines jener seltsamen, von Arthur Pym beschriebenen Thiere, von denen wir keines erblickt hatten?

Ein Schrei oder richtiger eine Art wildes Grunzen kam aus Hunt's Munde.

Seine große Hand, die sich gegen uns ausstreckte, hielt ein metallenes Halsband.

Ja . . . ein Halsband aus Kupfer, ein durch Oxydation halb zerfressenes Halsband, auf dem noch einige eingravierte Buchstaben lesbar waren.

Tigre. – Arthur Pym. –

Tigre! das war der Neufundländer, der seinem Herrn das Leben gerettet hatte, als dieser im Frachtraum des »Grampus« versteckt lag. Tigre, der Symptome von Hundswuth gezeigt hatte . . . Tigre, der bei der Meuterei dem Matrosen Jones, den Dirk Peters gleich darauf abthat, an die Kehle gesprungen war! . . .

Das treue Thier war beim Schiffbruche des »Grampus« also nicht umgekommen. Man hatte es gleichzeitig mit Arthur Pym und dem Mestizen an Bord der »Jane« gerettet. Und doch erwähnt der Bericht hiervon nichts, ja, seit dem Ueberfall der Goëlette ist von dem Hunde gar nicht mehr die Rede.

In meinem Innern drängten sich tausend Widersprüche. Ich wußte die Thatsachen nicht zusammenzureimen. Nur das stand außer Zweifel, daß Tigre mit Arthur Pym beim Schiffbruche dem Tode entgangen, daß er diesem nach der Insel Tsalal gefolgt und auch beim Einsturz des Hügels bei Klock-Klock nicht umgekommen war, und daß er endlich den Tod bei der Katastrophe gefunden hatte, die einen Theil der tsalalischen Bevölkerung vernichtete.

William Guy und seine fünf Matrosen konnten sich aber unbedingt nicht unter den die Erde bedeckenden Skeletten befinden, da sie bei der Abfahrt Patterson's, also vor sieben Monaten, noch lebten und jene Katastrophe mindestens um mehrere Jahre zurücklag.

Drei Stunden später waren wir, ohne eine weitere Entdeckung gemacht zu haben, an Bord der »Halbrane« zurück.

Der Kapitän Len Guy begab sich nach seiner Cabine, schloß sich darin ein und erschien nicht einmal zum Abendessen.

Ich hielt es für besser, seinen Schmerz zu achten, und bemühte mich gar nicht, ihn heute wiederzusehen.

Am nächsten Tag verlangte es mich aber, noch einmal nach der Insel zu gehen, diese von einem Ufer bis zum andern zu durchsuchen, und ich bat deshalb den Lieutenant, mich dahin übersetzen zu lassen.

Jem West stimmte bei, nachdem er sich die Erlaubniß vom Kapitän Len Guy geholt hatte, der davon absah, uns zu begleiten.

Hunt, der Hochbootsmann, Martin Holt und ich, wir nahmen im Boote, diesmal ohne Waffen, Platz, denn wir hatten ja nichts zu fürchten.

Nach der Landung an der nämlichen Stelle, wie am Vortage, führte uns Hunt noch einmal nach dem Hügel von Klock-Klock.

Einmal da, stiegen wir zu der engen Schlucht hinab, wo Arthur Pym, Dirk Peters und der Matrose Allen getrennt von William Guy und ihren Kameraden durch den Spalt eindrangen, der sich in der seifigen Bergmasse, einer Art mürben Steratit, gebildet hatte.

Hier sah man jetzt nichts mehr von den Bergwänden, die beim Erdbeben verschwunden sein mochten, auch nichts von dem Spalt, dessen früheren Eingang einige Haselnußsträucher beschatteten, noch etwas von dem dunkeln Gange, in dem Allen erstickt war, oder von der Terrasse, von der aus Arthur Pym und der Mestize den Angriff der Boote der Eingebornen auf die Goëlette und die Explosion, die Tausende von Opfern forderte, beobachtet hatten.

Es war auch nichts mehr übrig von dem künstlich zum Einsturz gebrachten Hügel, wo der Kapitän der »Jane«, sein zweiter Officier Patterson und die fünf Matrosen noch glücklich mit dem Leben davonkamen.

Ebensowenig fand sich etwas von dem Labyrinth, dessen Windungen und Wände Buchstaben bildeten, die wieder Wörter darstellten, welche Wörter in einem Satze des Textes von Arthur Pym wiederkehren, eines Satzes, dessen erste Zeile so viel wie »Weißes Wesen« und die zweite »Südgebiet« bezeichnet.

Der Hügel, das Dorf Klock-Klock und alles, was der Insel Tsalal ein übernatürliches Aussehen verlieh, war also verschwunden. Jetzt wird sich das Geheimniß jener fremdartigen Entdeckungen niemand wieder enthüllen.

Uns blieb weiter nichts übrig, als längs des östlichen Ufers nach der Goëlette zurückzukehren.

Hunt führte uns dabei über die Stelle, wo die Schuppen zur Bereitung der Meerkühe errichtet worden waren. Wir fanden davon auch noch schwache Ueberbleibsel.

Ich brauche wohl nicht zu bemerken, daß jetzt kein Tekeli-li an unsere Ohren schlug – jener Ruf, den die Insulaner und die riesigen schwarzen Vögel in der Luft gleichmäßig ausstießen. Ueberall Schweigen und Einöde!

Ein letzter Halt wurde an der Stelle gemacht, wo Arthur Pym und Dirk Peters sich des Bootes bemächtigt hatten, das sie nach den höchsten Breiten hinaustrug . . . bis nach jenem Horizont düsterer Dünste, bei deren gelegentlichem Zerreißen die große menschliche Gestalt, der weiße Riese, auftauchte.

Die Arme gekreuzt, schien Hunt das unermeßliche Meer vor uns mit den Augen zu verzehren.

»Nun, Hunt? . . .« redete ich ihn an.

Der Mann hörte mich wohl kaum, er wandte nicht einmal den Kopf nach mir um.

»Was beginnen wir noch hier?« fragte ich, seine Schulter berührend.

Da erbebte er unter meiner Hand und warf mir einen Blick zu, der mir bis ins Herz drang.

»Vorwärts, Hunt,« rief Hurliguerly, »willst Du denn auf diesem Felsblock Wurzel schlagen? – Siehst Du nicht, daß uns die ›Halbrane‹ da draußen erwartet? – Vorwärts! Morgen segeln wir ab. Hier ist für uns nichts mehr zu thun!«

Es schien mir, als ob die zitternden Lippen Hunt's das Wort »nichts« wiederholten, während seine Haltung gegen die Mahnung des Hochbootsmannes protestierte.

Das Boot führte uns nach dem Schiffe zurück.

Der Kapitän Len Guy hatte seine Cabine nicht verlassen.

Jem West, dem kein Befehl zum Ankerlichten zugegangen war, ging wartend auf dem Hinterdeck auf und ab.

Ich setzte mich am Fuße des Großmastes nieder und betrachtete das vor uns weit offen liegende Meer.

In diesem Augenblicke trat der Kapitän Len Guy bleich und mit verstörten Zügen aus dem Deckhause.

»Herr Jeorling,« begann er, »ich bin mir bewußt, alles gethan zu haben, was zu thun möglich war. Kann ich bezüglich meines Bruders William und seiner Gefährten noch weitere Hoffnung hegen? . . . Nein . . . wir müssen umkehren, ehe der Winter uns überrascht . . .«

Der Kapitän Len Guy erhob sich und warf einen letzten Blick nach der Insel Tsalal hin.

»Morgen, Jem,« sagte er, »fahren wir ganz frühzeitig ab.«

Da ertönten von einer tiefen Stimme die Worte:

»Und Pym . . . der arme Pym? . . .«

Ich erkannte diese Stimme wieder.

Es war dieselbe, die ich unlängst im Traume gehört hatte!

 

Ende des ersten Bandes.

 


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