Jules Verne
Die Eissphinx. Erster Band
Jules Verne

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII. Tristan d'Acunha

Vier Tage darauf lief die »Halbrane« die merkwürdige Insel Tristan d'Acunha an, die gleichsam den Dampfkessel der afrikanischen Meere bildet.

Gewiß war es ein außergewöhnlicher Zufall, das vorher erzählte Zusammentreffen in fünfhundert Lieues Entfernung vom Polarkreise, das Auftauchen der Leiche Patterson's. Jetzt waren der Kapitän von der »Halbrane« und sein Bruder, der Kapitän von der »Jane« durch diesen freilich todten Zeugen der Fahrt Arthur Pym's gleichsam aufs neue verknüpft. Jedermann wird das unwahrscheinlich finden, und doch tritt es gegen das, was ich noch zu erzählen habe, ganz bedeutend zurück.

Was mir von Anfang an alle Grenzen der Unwahrscheinlichkeit zu überschreiten schien, war die Annahme, daß der Roman des amerikanischen Dichters auf Thatsachen beruhe . . . Mein Verstand empörte sich dagegen! . . . Ich wollte die Augen selbst vor den Beweisen dafür verschließen.

Schließlich mußt' ich mich doch ergeben und meine letzten Zweifel verschwanden mit dem Leichnam Patterson's in der Tiefe des Weltmeers.

Und nicht nur unser Kapitän war durch Bande des Blutes mit dieser dramatischen und wahrhaftigen Geschichte verknüpft, wie ich es vor kurzer Zeit erfahren hatte, sondern auch unser Segelmaat stand mit ihr in gewisser Verbindung. Martin Holt war nämlich der Bruder eines der besten Matrosen vom »Grampus«, einer derjenigen, die bei der Rettung Arthur Pym's und Dirk Peters' durch die »Jane« jedenfalls mit umgekommen waren.

Zwischen dem dreiundachtzigsten und vierundachtzigsten Grade südlicher Breite hatten also sieben englische Seeleute – die heute bis auf sechs vermindert waren – elf Jahre lang auf der Insel Tsalal gelebt, der Kapitän William Guy, der zweite Officier Patterson und die fünf Matrosen von der »Jane«, die – doch durch welches Wunder? – den Eingebornen von Klock-Klock glücklich entgangen waren.

Und was wollte der Kapitän Len Guy nun unternehmen? – Darüber konnte nicht der leiseste Zweifel aufkommen. Er würde alles versuchen, um die Ueberlebenden von der »Jane« zu retten . . . würde sich mit der »Halbrane« nach dem von Arthur Pym bezeichneten Längengrade begeben und sich mit dem Schiffe bis nach der im Notizbuche Patterson's angegebenen Insel Tsalal hinauswagen. Sein Lieutenant Jem West ging auf alle Fälle, wohin er ihm zu gehen befahl; seine Mannschaft zögerte gewiß nicht, ihm zu folgen, und die Furcht vor Gefahren, die diese Expedition, die sich vielleicht bis jenseits der der Menschenkraft gezogenen Grenzen ausdehnte, etwa mit sich bringen konnte, würde sie nicht abzuschrecken vermögen. Der Geist ihres Kapitäns lebte in den Leuten, der Arm Jem West's bewegte ihre Arme . . .

Das war also der Grund, warum der Kapitän Len Guy die Aufnahme von Passagieren verweigerte, warum er erklärte, nie einer vorherbestimmten Reiseroute zu folgen, da er immer auf die Gelegenheit wartete, sich mit einiger Aussicht auf Erfolg nach dem Südpolarmeere zu begeben.

Ja, wäre die »Halbrane« schon in dem Zustande gewesen, diesen Zug zu unternehmen, ich glaube, der Kapitän Len Guy hätte augenblicklich der Befehl ertheilt, nach Süden zu steuern. Und nach dem, was ich ihm bei meiner Einschiffung erklärt hatte, wär' ich gar nicht in der Lage gewesen, ihn zur Einhaltung des jetzigen Curses zu bestimmen, um mich an der Insel Tristan d'Acunha abzusetzen.

Vorläufig machte es sich aber nöthig, auf dieser Insel, von der wir nicht mehr weit entfernt waren, Süßwasser einzunehmen. Dort fand sich wohl auch die Möglichkeit, die Goëlette zum Kampfe gegen die Eisberge auszurüsten und das freie Meer zu erreichen, denn jenseits des zweiundachtzigsten Breitengrades sollte es ja eisfrei sein, dann weiter vorzudringen, als einem Cook, Weddell, einem Biscoe und Kamp gelungen war, und das zu versuchen, was einst der Lieutenant Wilkes von der amerikanischen Marine versucht hatte.

Nun, an Tristan d'Acunha einmal gelandet, gedachte ich dort ein andres Schiff abzuwarten. Doch selbst wenn die »Halbrane« jetzt ausgerüstet gewesen wäre, die waghalsige Fahrt zu unternehmen, hätte es die Jahreszeit noch nicht einmal gestattet, den Polarkreis zu überschreiten. Jetzt war die erste Septemberwoche noch nicht vorbei und mindestens mußten noch zwei Monate verstreichen, ehe der südliche Sommer den Packeiswall lockerte und die Eisschollen zum Zerfallen brachte.

Nur dann – das war allen Seefahrern bekannt – das heißt, von Mitte November bis zu Anfang März, können solche Unternehmungen mit einiger Aussicht auf Erfolg ausgeführt werden, dann ist die Lufttemperatur erträglicher, sind Stürme weniger häufig, dann »kalben« die Eisberge (d. h. sie reißen sich von der dahinterliegenden Masse los), das Packeis öffnet sich stellenweise und fortwährendes Tageslicht badet jene entlegenen Gebiete. Hier galten also Vorsichtsmaßregeln, die die »Halbrane« vernünftigerweise Weise nicht außer Acht lassen durfte. Im Bedarfsfalle konnte unsere Goëlette, nachdem sie ihren Wasservorrath auf Tristan d'Acunha ergänzt und frische Nahrungsmittel eingenommen hatte, bis dahin noch immer an den Falklands-Inseln oder der amerikanischen Küste einen für etwaige Ausbesserungen besser geeigneten Hafenplatz aufsuchen, als den an dieser, in der Wasserwüste des südatlantischen Oceans verlornen Gruppe.

Bei klarer Luft ist deren Hauptinsel auf fünfundachtzig bis neunzig Seemeilen weit sichtbar. Die nachfolgenden Mittheilungen über Tristan d'Acunha erhielt ich von dem Hochbootsmann, der nach öfters wiederholten Besuchen der Insel seine Aussagen auf persönliche Anschauung und Erfahrung stützte.

Tristan d'Acunha liegt etwas südlich von der Zone des beständigen Südwestwindes. Sein mildes und feuchtes Klima zeigt eine gemäßigte Luftwärme, die nie unter fünfundzwanzig Grad Fahrenheit (etwa 4°C unter Null) herabsinkt und nie über achtundsechzig Grad (20°C über Null) ansteigt. Die vorherrschenden Winde kommen aus Westen und Nordwesten und während des Winters – im August und September – aus Süden.

Die Insel wurde, seit 1811, von dem Amerikaner Lambert nebst mehreren Landsleuten desselben bewohnt, die zum Fange von Seesäugethieren ausgezogen waren. Nach ihnen ließen sich hier zur Ueberwachung des Meeres bei St. Helena bestimmte englische Soldaten häuslich nieder, die erst 1821, nach dem Tode Napoleons, wieder abzogen.

Tristan d'Acunha zählte dreißig oder vierzig Jahre später etwa hundert Bewohner von recht hübschem Typus, Abkömmlinge von Europäern, Amerikanern und Holländern vom Cap; vorher war auch hier eine Republik gegründet worden, der ein Patriarch – derjenige der Familienväter, der die meisten Kinder hatte – vorstand, und zuletzt erkannte die Inselgruppe die Oberherrlichkeit Großbritanniens an – von alledem war aber 1839, als die »Halbrane« dort vor Anker gehen sollte, noch keine Rede.

Uebrigens sollte ich mich durch persönliche Beobachtung bald überzeugen, daß Tristan d'Acunha gar kein so begehrenswerther Besitz war, obwohl sein Name im 16. Jahrhundert »Land des Lebens« lautete. Wenn es sich einer ihm eigenthümlichen Flora erfreut, so besteht diese doch nur aus Farrenkräutern, Lykopoden und einer stacheligen Graminee, einer Ginsterart (Spartine), die den Fuß der Berge überkleidet. Was die häusliche Fauna angeht, so bilden Rinder, Schafe und Schweine den einzigen Reichthum und sind der Gegenstand eines unbedeutenden Handels mit St. Helena. Reptilien und Insecten kommen gar nicht vor, und die Wälder bergen nur eine kaum gefährliche Katzenart – eine wieder wild gewordene Art Hauskatze.

Der einzige Baum, den die Insel hervorbringt, ist ein achtzehn bis zwanzig Fuß hoher Kreuzdorn, dagegen wird viel zu Heizungszwecken benütztes Holz durch die Strömungen hierher getragen. Von Gemüsepflanzen fand ich nur Kohl, Steck- und rothe Rüben, Zwiebeln, nebst Kürbissen und von Früchten Birnen, Pfirsiche und recht minderwerthige Weintrauben. Der Liebhaber der Vogelwelt hätte nichts andres als Möven, Sturmvögel, Pinguine und Albatrosse zu jagen; weitere Vertreter hat ihm die Ornithologie von Tristan d'Acunha nicht zu bieten.

Am Morgen des 5. September war es, als der hohe Vulcan der Hauptinsel sichtbar wurde – ein schneebedeckter Bergstock von zwölfhundert Toisen Höhe, dessen erloschenen Krater ein kleines Seebecken bildet. Bei weiterer Annäherung am folgenden Morgen konnte man die breiten Ströme alter Lava unterscheiden, die einem Moränenfelde glichen.

Hier schwammen Streifen riesigen Meergrases auf der Meeresfläche, wirkliche vegetabilische Taue, die bei einer Länge von sechs- bis zwölfhundert Fuß zuweilen so dick wie eine Tonne waren.

Ich habe hier einzufügen, daß sich der Kapitän Len Guy an den drei Tagen nach dem Zusammentreffen mit der Eisscholle auf dem Verdeck nur zeigte, wenn er eine Höhenmessung der Sonne vornahm. Gleich nachher kehrte er in seine Cabine zurück, und nur beim Essen hatte ich noch Gelegenheit, ihn zu sehen. Es war unmöglich gewesen, ihn aus seiner Schweigsamkeit, die mehr völliger Stummheit gleichkam, zu erwecken. Selbst Jem West hätte hier nichts erzielt. Ich bewahrte die strengste Zurückhaltung, in der Meinung, die Stunde werde schon kommen, wo mir Len Guy von seinem Bruder William und von seinem Vorhaben, dessen und seiner Landsleute Rettung zu versuchen, sprechen würde. Diese Stunde war, wie ich hier wiederhole, in Anbetracht der Jahreszeit noch nicht gekommen, als die Goëlette am 6. September bei achtzehn Faden Tiefe Anker warf, und zwar an der Nordwestküste nahe der größeren Insel, bei »Ansiedlung«, im Hintergrunde der Falmouth-Bai, genau an der Stelle, die Arthur Pym in seinem Berichte als Ankerplatz der »Jane« bezeichnet hatte.

Ich sagte, der größern Insel, denn die Gruppe von Tristan d'Acunha besteht auch aus noch zwei minder bedeutenden. Gegen acht Lieues im Südwesten liegt die Insel Inaccessible und etwa fünf Lieues im Südosten die Insel Nightingale. Der ganze Archipel ist etwa unter 37 Grad 8 Minuten südlicher Breite und 12 Grad 8 Minuten westlicher Länge zu suchen.

Die Inseln sind kreisrund. Auf der Karte ähnelt Tristan d'Acunha einem aufgespannten Regenschirm von fünfzehn Seemeilen Umfang, dessen nach dem Mittelpunkte zusammenlaufende Stäbe von den regelmäßigen Bergrücken dargestellt werden, die von dem centralen Vulcane ausgehen.

Die Gruppe bildet ein fast unabhängiges oceanisches Landgebiet, das von dem Portugiesen entdeckt wurde, der ihm seinen Namen beilegte. Nach einer Untersuchung durch Holländer im Jahre 1643 und einer durch Franzosen im Jahre 1767, siedelten sich hier einige Amerikaner zum Zwecke des Fanges von Seekälbern an, die an den Küsten in großer Menge vorkommen. Natürlich folgten diesen bald die unausbleiblichen Engländer.

Zur Zeit, als die »Jane« hier gelegen hatte, »herrschte« ein früherer englischer Artillerie-Unterofficier über eine kleine Colonie von sechsundzwanzig Personen, die, nur im Besitze einer Goëlette von mäßigem Tonnengehalt, mit dem Cap Handelsverbindungen unterhielten. Bei unserer Ankunft hatte derselbe »Gouverneur«, namens Glaß, wohl schon gegen fünfzig »Unterthanen«, doch, wie Arthur Pym bemerkt, ganz »frei von jedem Eingriff der britischen Regierung«. Ein Meer, dessen Tiefe zwischen zwölf- und fünfzehnhundert Faden schwankt, umspült die Gruppe, neben der die südliche Aequinoctialströmung nach Westen hin verläuft. Im Allgemeinen sind hier regelmäßige Südwestwinde vorherrschend, während Stürme nur selten auftreten. Im Winter gelangen die treibenden Eisschollen oft bis zehn Grade über den Breitengrad der Gruppe hinaus, ohne St. Helena doch je zu erreichen – ebensowenig wie die großen Spritzfische (Wale u. dgl.), die zu warmes Wasser stets zu meiden suchen.

Die an den Spitzen eines Dreiecks liegenden Inseln sind von einander durch verschiedne, gegen zehn Seemeilen breite und bequem schiffbare Wasserstraßen getrennt. Ihre Küsten liegen frei und dicht, um Tristan d'Acunha hat das Meer schon hundert Faden Tiefe.

An jenen Ex-Unterofficier hatte sich nun die »Halbrane« nach ihrer Ankunft zu wenden. Der Mann erwies sich übrigens recht wohlwollend. Jem West, dem der Kapitän Len Guy es überließ, die Wasserbehälter neu zu füllen und frisches Fleisch und Gemüse einzukaufen, konnte Glaß' Zuvorkommenheit nur rühmen, wenn dieser auch darauf hielt, eine anständige Bezahlung zu erlangen.

Bald nach der Ankunft der »Halbrane« zeigte es sich indeß, daß auf Tristan d'Acunha nicht alles zu beschaffen war, was zur Ausrüstung eines Schiffes gehörte, das eine Fahrt nach dem Antarktischen Meere ausführen wollte. Bezüglich der Nahrungsmittel kann Tristan d'Acunha dagegen von den Seefahrern mit Vortheil aufgesucht werden. Ihre Vorgänger haben nach der Gruppe allerlei Hausthiere, Schafe, Schweine, Rinder und Geflügel eingeführt, während der amerikanische Kapitän Patten, der Befehlshaber der »Industry«, gegen Ende vorigen Jahrhunderts hier nur vereinzelte wilde Ziegen vorgefunden hatte. Nach ihm ließ der Kapitän Colguhum, von der amerikanischen Brigg »Betsey«, Pflanzungen von Zwiebeln, Kartoffeln und verschiedenen Gemüsen anlegen, die bei dem fruchtbaren Erdboden recht gut gediehen. Das erzählt Arthur Pym wenigstens in seinem Bericht, und man hat kaum Ursache, daran zu zweifeln.

Der Leser wird bemerken, daß ich von dem Helden Edgar Poë's wie von einem Menschen spreche, an dessen Existenz ich niemals gedeutelt hatte. Es verwundert mich auch, daß der Kapitän Len Guy gegen mich auf dieses Thema nie wieder zu sprechen kam. Offenbar waren die so bestimmten Aufzeichnungen, die sich in Patterson's Notizbuche vorfanden, doch nicht in Berechnung jenes Zwischenfalls fabriciert, und es hätte mir übel angestanden, meinen frühern Irrthum nicht einzugestehen.

Wenn ich übrigens noch irgendwelchen Zweifel hegte, kam zu den Angaben des zweiten Officiers von der »Jane« noch ein weiterer, unwiderlegbarer Beweis.

Am Tage nach unserm Eintreffen war ich bei Ansiedlung an einem schönen Strande von schwärzlichem Sand ans Land gegangen. Ich sagte mir, daß ein solcher Strand doch nicht habe nach der Insel Tsalal versetzt werden können, wo diese Trauerfarbe mit Ausschluß des Weiß herrschte, das die Insulaner in eine so heftige, in Schlaffheit und geistige Stumpfheit ausgehende Aufregung versetzte. Doch wenn ich diese wunderbaren Dinge auch nicht direct für erfunden hielt, konnte Arthur Pym doch vielleicht das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen sein. Was davon zu halten wäre, das müßte sich ja bei der Insel Tsalal ausweisen, wenn die »Halbrane« je dahin gelangte.

Ich begegnete dem Ex-Corporal Glaß, einem gut conservierten Manne mit freilich ziemlich verschmitztem Gesichtsausdruck, dessen sechzig Jahre seine sprudelnde Lebhaftigkeit nicht zu schwächen vermocht hatten. Abgesehen von dem Geschäftsverkehr mit dem Cap und den Falklands-Inseln, trieb er noch einen ausgedehnten Handel mit Robbenfellen und See-Elephantenöl, und seine Geschäfte gediehen offenbar nach Wunsch.

Da er zum Plaudern viel Neigung hatte, verwickelte ich diesen Gouverneur eigener Wahl, den die Colonie jedoch anerkannte, gleich beim ersten Zusammentreffen mühelos in eine Unterhaltung, die sich nach mehr als einer Seite hin recht interessant gestalten sollte.

»Laufen Tristan d'Acunha wohl viele Schiffe an?« fragte ich

»O, so viele, wie wir brauchen, allemal, werther Herr,« antwortete er und rieb sich die Hände hinter dem Rücken – eine, wie es scheint, bei ihm eingewurzelte Gewohnheit.

»In der schönen Jahreszeit natürlich,« fuhr ich fort.

»Ja, in der schönen Jahreszeit, wenn wir in unserer Gegend überhaupt von einer schlechten sprechen können.«

»Da gratuliere ich Ihnen, Herr Glaß. Zu bedauern ist freilich, daß Tristan d'Acunha keinen eigentlichen Hafen aufweist, und wenn ein Schiff draußen im offenen Meer ankern muß . . .«

»Auf dem offenen Meere, mein Herr? . . . Was meinen Sie damit?« rief der Ex-Corporal mit einer Lebhaftigkeit, die große Eigenliebe verrieth.

»Ich meine nur, Herr Glaß, wenn Sie hier Kais zum Anlegen hätten . . .«

»Wozu das, mein Herr, wenn die Natur uns eine Bai wie diese bescheert hat, wo man gegen jeden Sturm gesichert ist und sich im Nothfall mit der Nase an den Felsen festlegen kann? . . . Nein, Tristan hat freilich keinen Hafen, aber es braucht auch keinen!«

Warum hätt' ich dem wackern Manne widersprechen sollen? Er war auf seine Insel ebenso stolz, wie der Fürst von Monaco ein Recht hat, auf sein Duodez-Fürstenthum stolz zu sein.

Ich schwenkte also von dem ersten Thema ab und wir schwatzten von diesem und jenem. Er erbot sich, einen Ausflug durch die dichten Wälder, die bis zur halben Höhe des Mittelgipfels hinanreichen, zu veranstalten.

Ich dankte, entschuldigte mich aber, sein Anerbieten ablehnen zu müssen. Die Stunden unsers Aufenthaltes konnte ich schon mit einigen mineralogischen Studien ausfüllen. Die »Halbrane« sollte auch sofort nach der Neuverproviantierung die Anker lichten.

»Ihr Kapitän muß ganz besondere Eile haben,« bemerkte der Gouverneur Glaß.

»Finden Sie das? . . .«

»Solche Eile, daß sein Lieutenant mit mir nicht einmal wegen des Einkaufs von Fellen und Oel verhandelt.«

»Wir brauchen nur frische Nahrungsmittel und Süßwasser, Herr Glaß.«

»Nun, mein Herr,« entgegnete der Gouverneur, etwas verdrossen, »was die ›Halbrane‹ nicht mitnimmt, werden andre Schiffe nicht liegen lassen!«

Bald darauf nahm er wieder das Wort.

»Wohin geht Ihre Goëlette von hier aus?«

»Jedenfalls nach den Falklands-Inseln, wo sie Reparaturen vornehmen lassen kann.«

»Sie, werther Herr, sind, wie ich vermuthe, nur Passagier? . . .«

»Wie Sie sagen, Herr Glaß. Ich hatte sogar die Absicht, auf Tristan d'Acunha einige Wochen zu verweilen, mußte davon aber schließlich absehen.«

»Das bedaure ich wirklich, werther Herr!« erklärte der Gouverneur. »Wir würden uns glücklich geschätzt haben, Sie gastfreundlich aufzunehmen, bis ein anderes Schiff eintraf.«

»Eine Gastfreundschaft, die ich gewiß zu schätzen gewußt hätte,« versicherte ich. »Leider kann ich davon nicht Gebrauch machen . . .«

In der That war ich entschlossen, die Goëlette auf keinen Fall zu verlassen. Nach dem nöthigen Aufenthalte hier sollte sie nach den Falklands-Inseln steuern, wo alle Vorbereitungen zu einer Fahrt ins Antarktische Meer getroffen werden sollten. Bis dahin gedachte ich mitzufahren, da sich dort gewiß ohne großen Zeitverlust eine Gelegenheit zur Rückkehr nach Amerika bieten mußte, und der Kapitän Len Guy würde ja jedenfalls zustimmen, mich mitzunehmen.

Mit dem Ausdruck der Verwunderung fuhr der Ex-Corporal darauf fort:

»Wahrhaftig, ich habe von Ihrem Kapitän weder die Farbe der Haare noch den Teint seines Gesichts gesehen . . .«

»Ich glaube, er denkt gar nicht daran, einmal ans Land zu gehen, Herr Glaß.«

»Ist er etwa krank?«

»Daß ich nicht wüßte! Doch das ficht Sie wohl kaum an, er hat sich ja durch seinen Lieutenant vertreten lassen.«

»O, mit dem ist ja nichts zu reden! . . . Kaum daß man dann und wann zwei Worte aus ihm herausbringt! . . . Zum Glück kommen die Piaster leichter aus seiner Börse, als die Worte aus seinem Munde.«

»Das ist ja das wichtigste, Herr Glaß!«

»Ja freilich, Herr . . .?«

»Jeorling, aus Connecticut.«

»Na, da weiß ich doch nun Ihren Namen, während ich den des Kapitäns der »Halbrane«noch nicht kenne.«

»Er heißt Guy . . . Len Guy . . .«

»Ein Engländer?«

»Ja, ein Engländer.«

»Er brauchte sich wohl auch die Mühe nicht verdrießen zu lassen, einen Landsmann aufzusuchen, Herr Jeorling . . . Doch . . . erlauben Sie . . . ich habe doch schon einmal mit einem Kapitän namens Guy zu thun gehabt . . .«

»Etwa William Guy? fragte ich lebhaft.«

»Ganz recht, William Guy . . .«

»Der die ›Jane‹ befehligte . . .?«

»Die ›Jane‹ . . . richtig.«

»Eine englische Goëlette, die vor elf Jahren bei Tristan d'Acunha ankerte?«

»Vor elf Jahren, ja, Herr Jeorling. Schon sieben Jahre früher hatte ich hier auf der Insel verweilt, wo mich im Jahre 1824 der Kapitän Jeffrey vom »Berwick« aus London fand. Ich erinnere mich jenes William Guy so genau, als ob ich ihn vor mir sähe . . . es war ein braver Mann, der das Herz auf der Zunge hatte, und ich lieferte ihm damals eine Ladung Robbenfelle. Er sah ein bischen vornehm, sogar stolz aus . . . war aber gutmüthiger Natur . . .«

»Und die ›Jane‹?« fragte ich.

»Die seh' ich auch noch . . . dort an der nämlichen Stelle, wo die ›Halbrane‹ liegt . . . ein hübsches Fahrzeug von hundertachtzig Tonnen mit weit ausladendem Bug . . . sie hatte Liverpool als Heimatshafen . . .«

»Ja, das stimmt,« rief ich überrascht, »das stimmt alles!«

»Und fährt die ›Jane‹ auch jetzt noch, Herr Jeorling?«

»Nein, Herr Glaß.«

»Ist sie etwa gar verunglückt? . . .«

»Das ist mit Sicherheit anzunehmen, und der größte Theil der Mannschaft ist mit ihr verschwunden.«

»Können Sie mir auch sagen, wie das sich zugetragen hat, Herr Jeorling?«

»Gewiß, Herr Glaß! Die ›Jane‹ schlug von Tristan d'Acunha aus den Curs nach den Auroras-Inseln und andern ein, die William Guy aufzufinden hoffte. Er stützte sich dabei auf Angaben . . .«

»Die von mir herrührten, Herr Jeorling!« fiel der Ex-Corporal ein. »Nun . . . und jene andern Inseln . . . darf ich wissen, ob die ›Jane‹ sie entdeckt hat?«

»Nein, ebensowenig wie die Auroras, obwohl William Guy sich mehrere Jahre in jenen Gewässern, von Osten nach Westen segelnd, aufgehalten hat, wobei auf der Mars stets ein Mann auf Ausguck saß . . .«

»Da muß er doch die richtige Oertlichkeit verfehlt haben, Herr Jeorling, denn nach der Aussage verschiedner Walfänger, die ich für ganz glaubwürdig halte, müssen jene Inseln vorhanden sein. Es ist ja gar schon davon die Rede gewesen, sie nach meinem Namen zu taufen . . .«

»Und das gewiß mit Recht,« fügte ich höflich ein.

»Und wenn sie nicht doch noch entdeckt werden sollten, wäre das recht ärgerlich,« setzte der Gouverneur hinzu, der eine gute Portion Eitelkeit verrieth.

»Damals wollte der Kapitän William Guy also,« fuhr ich fort, »ein schon lange bestehendes Vorhaben ausführen, wozu ihn ein Passagier antrieb, der sich auf der »Jane« befand.«

»Arthur Gordon Pym,« rief Glaß sofort, »und sein Gefährte Dirk Peters . . . die beide von der Goëlette aus dem Meere aufgefischt worden waren.«

»Haben Sie denn die Leute gekannt, Herr Glaß?« fragte ich gespannt.

»Ob ich sie gekannt habe, Herr Jeorling! – Es war ein eigenthümlicher Bursche, dieser Arthur Pym . . . immer begierig, sich in Abenteuer zu stürzen . . . ein unerschrockener Amerikaner, der jedenfalls gleich bereit gewesen wäre, selbst nach dem Monde abzufahren! . . . Er wäre also nicht nach den genannten Inseln gekommen?«

»Nein, Herr Glaß; die Goëlette William Guy's scheint bei ihrer Fahrt aber den Polarkreis überschritten und das Packeis durchbrochen zu haben, wodurch sie dann weiter hinaufgelangt wäre, als je ein Fahrzeug vor ihr.«

»Ah, eine erfolgreiche Reise!« rief Glaß.

»Gewiß . . . Doch leider ist die ›Jane‹ davon nicht zurückgekehrt.«

»Arthur Pym und Dirk Peters – letzterer eine Art Mestize von außergewöhnlicher Körperkraft, den sechs Mann nicht hätten zu Boden werfen können – die wären also umgekommen, Herr Jeorling?«

»Nein, das nicht, Herr Glaß; Arthur Pym und Dirk Peters vermochten der Katastrophe zu entgehen, der die ›Jane‹ mit der Mehrzahl ihrer Leute zum Opfer gefallen ist. Sie sind sogar nach Amerika heimgekehrt . . . auf welche Weise, ist freilich unbekannt. Später ist Arthur Pym unter unerklärt gebliebenen Verhältnissen gestorben. Der Mestize aber, der sich nach Illinois zurückgezogen hatte, ist eines Tages, ohne jemand davon zu benachrichtigen, verschwunden und seine Spur ist gänzlich verloren.«

»Und William Guy selbst?« fragte Glaß.

Ich erzählte nun, wie die Leiche Patterson's, des zweiten Officiers von der »Jane«, von uns auf einer Scholle gefunden worden war, und fügte hinzu, daß alles darauf hindeute, daß der Kapitän der »Jane« mit fünf seiner Leute noch auf einer tief südlich, kaum sechs Grade vom Pole gelegenen Insel leben möge.

»O, Herr Jeorling,« rief Glaß lebhaft, »möchte es doch gelingen, William Guy und seine Matrosen, die mir alle als recht brave Leute erschienen, bald zu retten!«

»Das wird die ›Halbrane‹ jedenfalls versuchen, sobald sie dazu in Stand gesetzt ist, denn Kapitän Len Guy ist der leibliche Bruder jenes William Guy . . .«

»Was Sie sagen, Herr Jeorling!« fuhr Glaß auf. »Nun, obwohl ich den Kapitän Len Guy nicht kenne, möchte ich doch behaupten, daß die zwei Brüder sich nicht ähneln . . . wenigstens nicht bezüglich der Art und Weise, wie sie sich dem Gouverneur von Tristan d'Acunha gegenüber verhalten haben!«

Ich sah, daß der Ex-Corporal sich durch die Indifferenz Len Guy's, der ihm nicht einmal einen Besuch abgestattet hatte, tief verletzt fühlte. Man bedenke nur: Der Beherrscher dieser unabhängigen Insel, dessen Machtbereich auch noch zwei Nachbarinseln, Inaccesible und Nigthingale, umfaßte! Er tröstete sich aber jedenfalls mit der Aussicht, seine Waare fünfundzwanzig Procent über den reellen Werth abzusetzen.

Der Kapitän Len Guy zeigte keinen Augenblick die Absicht, den Fuß ans Land zu setzen. Das war um so auffälliger, als er doch wußte und wissen mußte, daß die »Jane« hier an der Nordwestküste von Tristan d'Acunha vor Anker gelegen hatte, ehe sie nach den südlichen Meeren absegelte. Sich aber mit dem letzten Europäer, der seinem Bruder noch die Hand gedrückt hatte, in Verbindung zu setzen, das erschien doch gewiß angezeigt.

Jem West und seine Leute blieben indeß die einzigen, die ans Land kamen. Dabei beeilten sie sich nach Möglichkeit, das Zinn- und Kupfererz, die bisherige Fracht der Goëlette, zu löschen und frischen Proviant nebst Süßwasser einzunehmen.

Die ganze Zeit über verweilte der Kapitän Len Guy an Bord, sogar ohne je das Verdeck zu betreten, und immer sah ich ihn über den Tisch gebeugt durch das Schiebfenster seiner Cabine.

Auf dem Tische lagen Karten ausgebreitet und Bücher aufgeschlagen. Ohne Zweifel waren die Karten solche der Südpolargebiete, und die Bücher solche, die die Fahrten der Vorgänger der »Jane« in den geheimnisvollen antarktischen Einöden schilderten.

Darunter befand sich auch ein hundertmal gelesener und wiedergelesener Band, dessen meiste Blattecken eingebogen waren, während die freien Seitenränder zahlreiche Bleistiftnotizen enthielten . . . Auf dem Umschlage aber leuchtete der, wie mit feurigen Buchstaben gedruckte Titel: Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym.

 


 << zurück weiter >>