Jules Verne
Die Eissphinx. Erster Band
Jules Verne

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XIII. Längs des Packeises

Trotz der außerordentlichen Beunruhigung der Gewässer jenseits des Polarkreises war unsere Fahrt bisher doch noch ausnahmsweise günstig verlaufen. Welch ein Glück mußte es aber erst sein, wenn die »Halbrane« in der ersten Decemberhälfte gar den von Weddell eingehaltenen Weg ganz offen finden sollte!

Ich spreche hier von dem Wege Weddell's, als ob es sich hier um eine wohlgepflegte, mit den nöthigen Meilensteinen besetzte Landstraße handelte, wo auf einem Wegweiser zu lesen wäre: »Weg nach dem Südpole!«

Im Laufe des 10. konnte die Goëlette ohne Schwierigkeiten gegen die losen, einzeln treibenden Schollen aufkommen. Auch die Windrichtung nöthigte sie nicht zum Kreuzen, sondern gestattete ihr, auf gerader Linie durch das Treibeis zu segeln. Obgleich wir noch einen Monat von dem Zeitpunkte entfernt waren, wo der Aufbruch des Eises sich im Großen vollzieht, versicherte der Kapitän als Kenner der Verhältnisse doch, daß das, was gewöhnlich erst im Januar geschah, diesmal schon im December eintreten werde.

Die zahlreichen umherirrenden Massen zu vermeiden, setzte die Mannschaft nicht in Verlegenheit. Eigentliche Schwierigkeiten sollten wahrscheinlich erst an dem nahe bevorstehenden Tage auftauchen, wo die Goëlette versuchen würde, sich einen Weg durch das Packeis zu bahnen.

Ueberdies war hier keine Ueberraschung zu befürchten. Das Vorhandensein größerer Eismengen verrieth sich schon durch eine gelblichere Färbung der Atmosphäre, durch das, was die Walfänger als den »Blink« bezeichnen. Es ist nur eine den Polarzonen eigenthümliche Strahlungserscheinung, über die sich der Kenner niemals täuschen kann.

Die »Halbrane« segelte fünf fernere Tage ohne jede Beschädigung weiter und ohne auch nur einen Augenblick einen Zusammenstoß zu fürchten gehabt zu haben. Je weiter sie freilich nach Süden hinunter vordrang, desto zahlreicher wurden die Eisschollen und desto enger die Durchfahrt zwischen ihnen. Eine Beobachtung vom 14. ergab für unsere Lage 72°37' der Breite, während die Länge sich unverändert zwischen dem zwei- und dem dreiundvierzigsten Meridian hielt. Das war schon ein Punkt, den nur wenige Seefahrer jenseits des Polarkreises zu erreichen vermocht hatten – weder Balleny noch Bellingshausen. Wir befanden uns jetzt nur noch zwei Grade weniger hoch, als James Weddell seinerzeit gekommen war.

Inmitten der trüben, bleichen, von Vogelguano bedeckten Trümmer verlangte die Führung der Goëlette mehr und mehr Vorsicht. Einzelne Schollen sahen wirklich wie leprös aus. Wie winzig erschien ihrem schon beträchtlichen Rauminhalt gegenüber unser Fahrzeug, dessen Maste verschiedene Eisberge sogar noch überragten!

Zu der Verschiedenheit der Größe dieser Krystallmassen kam auch noch die ihrer Formen – eine unendliche Mannigfaltigkeit. Es brachte eine wahrhaft wunderbare Wirkung hervor, wenn die aus den Dunstmassen hervortretenden Blöcke die Sonnenstrahlen gleich geschliffenen Edelsteinen gebrochen zurückwarfen. Zuweilen schossen daraus röthliche Strahlenbündel hervor, deren Zustandekommen noch etwas unklar ist, dann wieder erschienen, jedenfalls infolge der Lichtbrechung, solche in violetter oder blauer Farbe.

Ich konnte mich an dem in Arthur Pym's Bericht so ausgezeichnet geschilderten Schauspiele gar nicht sattsehen – hier an den Pyramiden mit scharfen Spitzen, dort an den Domen mit Kuppeln wie denen einer byzantinischen Kirche; oder mit seitlich aufgetriebener Kugelform, wie an russischen Kirchen, an den Dolmen (gallischen Felsengräbern) mit wagrechten Deckplatten, den Cromlechs (Steinkreisen) und den Menchirs (aufrecht stehenden Stein-, hier Eisplatten) wie auf dem Felde von Karnac, an den zerbrochenen Vasen, den umgekehrten Tassen – kurz an allen Gestalten, die ein phantasiereiches Auge zuweilen aus eigenthümlichen Wolkenbildungen zu erkennen liebt . . . Und sind die Wolken nicht thatsächlich die treibenden Schollen des Himmelsmeeres?

Ich muß anerkennen, daß der Kapitän Len Guy mit vieler Kühnheit ebensoviel Klugheit verband. Nie fuhr er unter dem Winde vor einem Eisberge hin, wenn nicht Raum genug da war, um jedes beliebige, plötzlich angezeigte Segelmanöver ungehindert ausführen zu können. Vertraut mit allen Zufälligkeiten einer solchen Schifffahrt, zögerte er nie, auch mitten in das Gewirr von Schollen und Eisblöcken einzudringen.

An jenem Tage sagte er zu mir:

»Es ist nicht das erste Mal, Herr Jeorling, daß ich in das Polarmeer vorzudringen suche . . . leider bisher ohne Erfolg. Doch wenn ich das schon unternahm, als ich nur unbestimmte Vermuthungen über das Schicksal der ›Jane‹ hatte, was sollte ich heute nicht wagen, wo jene Vermuthungen zur Gewißheit geworden sind?«

»Ich verstehe Sie, Herr Kapitän, und meiner Ansicht nach muß Ihre früher gewonnene Erfahrung auf diesen Gebieten unsere Aussichten auf Erfolg wesentlich vergrößern.«

»Gewiß, Herr Jeorling! Doch was jenseits des Packeises liegt, ist, wie so vielen andern Polarfahrern, auch mir noch unbekannt.«

»Unbekannt? . . . O, nicht gänzlich, Herr Kapitän, da wir die zuverlässigen Berichte Weddell's und . . . nun ja . . . auch die Arthur Pym's besitzen.«

»Ja . . . das weiß ich! Sie sprechen von einem offenen Meere . . .«

»Glauben Sie daran etwa nicht?«

»O, daran glaub' ich natürlich. Es ist sicherlich vorhanden, dafür sprechen sehr gewichtige Gründe. Es liegt ja auf der Hand, daß die als Eisberge und Eisfelder bezeichneten Massen sich im freien Meere gar nicht bilden können. Nur eine gewaltige, unwiderstehliche Kraft, wie sie dem Wogenanprall innewohnt, vermochte sie von den Ländern oder Inseln der höchsten Breiten abzusprengen. Dann führten Strömungen sie nach etwas wärmerem Wasser, wo die Stöße der Wellen sie aufeinanderthürmen, während ihre Gipfel und Untertheile von der Luft und dem Wasser abgenagt werden.«

»Das erscheint mir sehr annehmbar,« erwiderte ich.

»Diese Massen,« fuhr der Kapitän Len Guy fort, »bilden sich also nicht erst im eigentlichen Packeis. Sie erreichen es nur im Abtreiben, zertrümmern es hier und da und brechen sich einen Weg hindurch. Man darf demnach die südliche Eiszone nicht nach der nördlichen beurtheilen. Die Verhältnisse beider decken sich nicht. Auch Cook berichtet, daß er in den grönländischen Meeren nie, selbst in den höchsten Breiten, etwas ähnliches wie die Eisberge des Antarktischen Meeres angetroffen habe.«

»Und woran mag das liegen?« fragte ich.

»Ohne Zweifel daran, daß in den nördlichen Polargebieten der Einfluß der Südwinde vorherrscht. Diese kommen dahin aber, nachdem sie sich an dem von Mittelamerika hinaufströmenden Wasser und an den erhitzten Landmassen von Europa und Asien nicht unbeträchtlich erwärmt haben. Hier aber wirken die nächstgelegenen Länder, das Cap der Guten Hoffnung, Patagonien und Tasmanien, nicht sonderlich auf die Luftströmungen ein, und deshalb bleibt die Temperatur in dem antarktischen Gebiete weit gleichmäßiger.«

»Das ist eine wichtige Beobachtung, Herr Kapitän, und sie rechtfertigt Ihre Anschauungen bezüglich eines offnen Meeres.«

»Ja . . . eines offnen . . . wenigstens etwa zehn Grade hinter der Packeisgrenze. Wenn wir erst diese überwunden haben, ist das Schwerste geschehen. Sie hatten ganz recht, zu sagen, Herr Jeorling, daß das Vorhandensein eines offenen Meeres von Weddell ausdrücklich anerkannt . . .«

»Und von Arthur Pym bestätigt wurde, Herr Kapitän!«

»Ja . . . ja . . . auch von Arthur Pym!«

Vom 15. December ab nahmen die Schwierigkeiten der Fahrt mit der Anzahl der Eisschollen zu. Der immer zwischen Nordost und Nordwest stehende, niemals nach Süden umschlagende Wind blieb uns auch ferner günstig. Wir brauchten kein einziges Mal zwischen den Eisbergen und Eisfeldern zu lavieren oder uns an solche anzulegen, was immer seine Gefahren hat. Die Brise frischte allerdings zuweilen so stark auf, daß wir die Segelfläche vermindern mußten. Dann sah man das Meer längs der Blöcke hinschäumen, wobei es sie mit Wasserstaub, wie Felsen mit einer schwimmenden Insel, bedeckte, ohne ihre Fortbewegung jedoch aufheben zu können.

Wiederholt wurde durch Winkelmessungen von Jem West die Höhe der Eismassen bestimmt, und seine Rechnungen ergaben, daß sie zwischen zehn und hundert Toisen schwankte.

Ich für meinen Theil stimmte der Ansicht des Kapitän Len Guy zu, daß sich solche gewaltige Massen nur an einem Ufer, vielleicht eines polaren Festlandes, gebildet haben könnten. Dieses vermuthete Festland mußte aber offenbar mit Buchten besetzt, von Meeresarmen zertheilt und von Wasserstraßen zerschnitten sein, die es der »Jane« ermöglicht hatten, bis zur Insel Tsalal vorzudringen.

Die Annahme von Polarländern ist es ja gerade, was die Unternehmungen von Forschungsreisenden veranlaßt, womöglich bis zum arktischen oder antarktischen Pole zu gelangen. Auch sie nehmen für die Eisberge einen festen Untergrund an, von dem diese sich mit Eintritt der Schneeschmelze ablösen. Bei einer ausschließlichen Wasserdecke der nördlichen und südlichen Kappen der Erdkugel hätten sich die Seefahrer wahrscheinlich schon längst bis zu den Drehpunkten unseres Planeten Bahn gebrochen.

Man konnte also als gewiß gelten lassen, daß der Kapitän William Guy von der »Jane« bei seiner Fahrt bis zum dreiundachtzigsten Breitengrade, entweder durch seinen Instinct als Seefahrer oder durch den Zufall begünstigt, durch irgend einen breiten Meeresarm so weit hinaufgekommen war.

Auf unsere Mannschaft machte der Umstand, daß die Goëlette sich ohne Zögern mitten unter diese treibenden Massen wagte, doch einen etwas beklemmenden Eindruck, wenigstens auf die neuen Leute, denn für die alten war das keine Ueberraschung mehr. Die Gewohnheit machte freilich alle gegen die Zufälligkeiten unserer Segelfahrt bald gleichgiltig.

Am sorgsamsten mußte jetzt auf den Wachdienst gesehen werden. Deshalb ließ Jem West auch am Fockmast eine Tonne – ein sogenanntes »Elsternest« – hissen, worin sich ein Mann fortwährend auf Ausguck befand.

Von günstiger Brise getrieben, glitt die »Halbrane« rasch dahin. Die Temperatur war erträglich – etwa zweiundvierzig Grad (+5 bis 6º Celsius). Eine Gefahr brachten nur die Nebelmassen, die über dem vielfach gesperrten Meere hinzogen und die Vermeidung von Collisionen erschwerten.

Am 16. hatten unsere Leute recht harte Arbeit. Packeisstücke und Schollen ließen oft nur einen recht schmalen Durchgang frei, der auch noch gewunden und mit scharf vorspringenden Winkeln besetzt war, so daß wir oft einer Schlangenlinie folgen mußten.

Vier- oder fünfmal in der Stunde ertönten Befehle, wie:

»Luv' an!«

»Laß treiben!« und dergleichen.

Der Mann am Steuer hatte tüchtig mit dem Rade zu thun, während die Matrosen jetzt die Stellung des Mars- und des Bramsegels wechselten oder die untern Segel gegen den Wind braßten.

Unter solchen Umständen säumte keiner bei seinen Verrichtungen und Hunt zeichnete sich wieder vor Allen dabei aus.

Wo sich dieser Mann – ein Seemann mit Leib und Seele – am nützlichsten erwies, das war dann, wenn es darauf ankam, ein Greling (kleines Kabeltau) auf eine Eisscholle zu bringen, es da mit einem Wurfanker zu befestigen und das Tau mit dem Spill zu verbinden, um die langsam aufgeholte Goëlette um das Hinderniß herum zu bugsieren. Wenn es nothwendig wurde, sprang Hunt bei solchen Gelegenheiten in das kleine Boot, trieb es zwischen den Eistrümmern hin und bestieg selbst die glatten Schollen. Der Kapitän Len Guy und die Mannschaft erklärten Hunt auch für einen Matrosen ohne Gleichen. Das Geheimnisvolle seiner Persönlichkeit reizte gerade deshalb die Neugierde aller im höchsten Maße.

Wiederholt kam es vor, daß Hunt und Martin Holt das nämliche Boot bestiegen, um eine gefährliche Aufgabe gemeinsam auszuführen. Ertheilte ihm der Segelwerksmaat dabei dann einen Befehl, so kam er diesem mit Eifer und Geschicklichkeit nach, nur gab er nie darauf eine Antwort.

Am heutigen Tage konnte die »Halbrane« vom Packeis nicht mehr weit entfernt sein. Segelte sie in gleicher Richtung wie bisher weiter, so mußte sie es bald erreichen und hatte dann nur noch eine Durchfahrt aufzusuchen. Noch hatte der Ausguck aber über die Eisfelder hinweg und zwischen den launenhaften Spitzen der Eisberge keinen zusammenhängenden Kamm von Eis erkennen können.

Am 16. machte sich die gewissenhafteste, unausgesetzte Vorsicht nöthig, denn das von den unaufhörlichen Stößen erschütterte Steuerruder drohte schließlich zerstört zu werden.

Gleichzeitig litt das Fahrzeug auch unter häufigen Stößen von Eisschollen, die sich an seiner Seite hin rieben und dadurch fast gefährlicher wurden, als die großen Eisberge. Trafen die letzteren mit den Seiten des Fahrzeugs zusammen, so erfolgten freilich recht arge Stöße; die bezüglich der Spanten und der Bekleidung sehr fest gebaute »Halbrane« hatte darum aber nicht zu fürchten, daß sie zerdrückt würde oder daß sie ihre Beschalung verlöre, denn eine solche hatte sie überhaupt nicht.

Um das Steuerruder ließ Jem West aus Planken und Rundhölzern noch einen gitterartigen Schutz errichten, der die unmittelbare Eispressung davon abhielt.

Die Seesäugethiere hatten auch diese Gewässer mit ihren treibenden Schollen und Blöcken von jeder Größe und Gestalt nicht verlassen. Walfische gab er hier in großer Menge, und es bot ein zauberisches Schauspiel, die Wassersäulen zu sehen, die aus ihren Spritzlöchern emporstiegen. Neben den Finn- und den Buckelwalen erschienen auch viele sehr große Meerschweine, oft im Gewicht von mehreren hundert Pfund, die Hearne mit großer Geschicklichkeit harpunierte, wenn sie ihm in Wurfweite kamen. Seine Beute wurde stets freudig begrüßt, denn Endicott verstand gewisse Theile davon recht schmackhaft zuzubereiten.

Von antarktischen Vogelarten zogen große Völker von Sturmvögeln, Captauben und Cormorans schreiend an uns vorüber, während endlos lange Reihen von Pinguinen an den Rändern der Eisfelder saßen und stumpfsinnig den Bewegungen der Goëlette zusahen. Diese Thiere sind die richtigen Bewohner der traurigen Einöden nahe dem Pole, und die Natur hätte hierfür einen entsprechenderen Typus gar nicht erschaffen können.

Am Morgen des 17. meldete der Ausguck im Elsterneste endlich das Packeis.

»An Steuerbord voran!« rief er.

Fünf bis sechs Seemeilen weit im Süden erhob sich ein langer, wie mit Sägezähnen besetzter niedriger Kamm, der sich vom klaren Himmel dahinter abhob und längs dessen Tausende von Schollen dahintrieben. Dieser unbewegliche Wall verlief von Nordwesten nach Südosten, und wenn die Goëlette daran hinsegelte, gelangte sie schon damit noch um einige Grade weiter nach Süden.

Will man sich eine zutreffende Vorstellung von dem Unterschiede zwischen dem Packeise und der eigentlichen, alles absperrenden Eiswand machen, so darf man Folgendes nicht vergessen:

Die letztere bildet sich, wie ich schon bemerkte, nicht auf offenem Meere. Sie muß unbedingt einen festen Untergrund haben, um ihre wagrechten Eisgebilde längs eines Ufers aufzurichten oder um die bergähnlichen Gipfel im Hintergrunde aufzubauen. Doch wenn die genannte Sperrwand an sich auch den sie tragenden Grund nicht verlassen kann, so ist sie es, nach den verläßlichsten Beobachtern, doch, die die Eisberge und Eisfelder, die Blöcke, Schollen und Trümmer liefert, die wir in unabsehbarer Menge dahintreiben sahen. Die Küsten, die sie trugen, unterliegen Strömungen, welche aus wärmeren Meeren herkommen. Zur Zeit der Springfluthen, die hier eine beträchtliche Höhe erreichen, wird ihr unterer Rand ausgehöhlt, zerrieben, abgenagt und ungeheure Blöcke – Hunderte binnen wenigen Stunden – lösen sich mit betäubendem Gepolter los, fallen ins Meer, tauchen erst in der furchtbaren Brandung unter und steigen dann wieder zur Oberfläche auf. Damit sind sie zu Eisbergen geworden, von denen nur das obere Drittel sichtbar ist und die so lange weiter schwimmen, bis die klimatischen Einflüsse der niederen Breiten ihre Auflösung herbeiführen.

Eines Tages unterhielt ich mich über diesen Gegenstand mit dem Kapitän Len Guy.

»Diese Erklärung ist ganz richtig,« bestätigte er mir, »und die äußerste, letzte Eiswand bietet dem Seefahrer ein unüberwindliches Hinderniß, weil ein Uferland ihre Unterlage bildet. Anders liegt es mit dem sogenannten Packeis. Das entsteht erst weit von der Landmasse und bildet sich auf dem Meere selbst durch das unablässige Zusammenfrieren treibender Eismassen. Da es aber den Angriffen des Seegangs und der Abnagung durch das im Sommer wärmere Wasser ebenfalls ausgesetzt ist, zertheilt es sich hier und da, läßt Wasserstraßen zwischen sich frei, und schon viele Schiffe haben streckenweise bis hinter dasselbe gelangen können.«

»Ganz recht,« fügte ich hinzu, »das Packeis bildet keine endlos zusammenhängende Masse, die man nicht zu umsegeln vermöchte.«

»Auch Weddell hat hindurchgelangen können, Herr Jeorling, freilich unter außergewöhnlich günstigen und sehr frühzeitig auftretenden Temperaturverhältnissen, die ja nur selten sind. Da die gleichen Verhältnisse aber auch heuer vorliegen, ist es nicht vorwitzig, zu sagen, daß wir sie auszunützen wissen werden.«

»Gewiß, Herr Kapitän, und jetzt wo das Packeis in Sicht ist . . .«

»Werd' ich die ›Halbrane‹ so weit wie möglich in dessen Nähe gehen und sie in den ersten Durchgang, den wir entdecken, einlaufen lassen. Zeigt sich kein solcher, so versuchen wir am Packeis bis zu seinem östlichen Ende hinzusteuern, und zwar mit Hilfe der dahin verlaufenden Strömung und so dicht wie möglich am Winde, wenn dieser aus Nordosten stehen bleibt.«

In schneller Fahrt nach Süden begegnete die Goëlette Eisfeldern von gewaltiger Ausdehnung. Durch Messung mehrerer Seitenwinkel und der Basis (mittelst des Logs) ließ sich ihre Oberfläche auf fünf- bis sechshundert Quadrattoisen bestimmen. Man mußte mit gleich viel Sicherheit und Vorsicht steuern, um sich nicht in einer der engen Wasserstraßen dazwischen zu fangen, deren Ausgang nicht immer gleich zu sehen war.

Als die »Halbrane« sich nur noch drei Seemeilen vom Packeis entfernt befand, braßte sie inmitten eines großen Beckens auf, wo sie sich nach allen Seiten hin frei bewegen konnte.

Jetzt wurde ein Boot zu Wasser gebracht, worin der Kapitän Len Guy mit dem Hochbootsmann, vier Matrosen an den Riemen und einer am Ruder Platz nahmen. Dasselbe glitt nach dem riesigen Eiswalle zu, suchte hier vergeblich einen Durchgang, den die Goëlette hätte benützen können, und kehrte nach dreistündiger, anstrengender Untersuchung nach dem Schiffe zurück.

Bald darauf fiel ein Schauer mit Schnee vermischten Regens, der die Lufttemperatur auf sechsunddreißig Grad (+2,22° Celsius) herabsetzte und uns die Aussicht nach dem Packeis vollständig abschnitt.

Wir mußten deshalb nach Südost wenden und durch die zahllosen Schollen immer mit der Vorsicht hinsegeln, nicht an den Eiswall verschlagen zu werden, denn von ihm wieder frei zu kommen, hätte sehr ernste Schwierigkeiten geboten.

Jem West gab Befehl, die Segel so einzustellen, daß wir so dicht wie möglich am Winde hinliefen.

Die Mannschaft arbeitete hurtig, und die über Steuerbord geneigte Goëlette drang mit der Geschwindigkeit von sieben bis acht Seemeilen in das auf ihrem Wege verstreute Gewirr von Eisblöcken ein. Sie wußte ihnen auszuweichen, wenn ein Zusammenstoß damit gefährlich gewesen wäre, oder fuhr, wenn es sich um dünnere Schollen handelte, grade darauf los und zersprengte sie mit ihrem Vordersteven, der wie ein Rammsporn wirkte. Oft knirschte und krachte es längs der Wand des Schiffes, das zuweilen durch und durch erzitterte, dann aber gelangte die »Halbrane« wieder in freies Wasser.

Am wichtigsten war es natürlich, sich vor einen Anprall an eigentliche Eisberge zu hüten. Das bot keine Schwierigkeiten bei klarem Wetter, das rechtzeitig alle nothwendigen Maßregeln gestattete, die Geschwindigkeit der Goëlette zu vergrößern oder zu verkleinern. Bei den häufigen Nebeln, die den Gesichtskreis auf eine, höchstens zwei Kabellängen beschränkten, blieb die Fahrt aber immerhin gefährlich.

Doch von den Eisbergen abgesehen, war die »Halbrane« ja auch dem Zusammenstoß mit Eisfeldern ausgesetzt, und wer es nicht selbst gesehen hat, kann sich keine Vorstellung von der Kraft machen, die solchen in Bewegung befindlichen Massen innewohnt.

Gerade an diesem Tage beobachteten wir, wie ein nur langsam hintreibendes Eisfeld an ein ruhig liegendes anprallte. Dieses zweite wurde völlig zersprengt, seine Oberfläche durcheinandergewürfelt und das ganze so gut wie vernichtet. Nur gewaltige Trümmer blieben davon übereinander geschoben übrig, »Hummocks«, die bis zu hundert Fuß aufragten, und sogenannte »Kälber«, die wieder aus dem Wasser auftauchten. Das kann ja nicht wundernehmen, wenn man bedenkt, daß das anprallende Eisfeld eine Masse von vielleicht zwanzig Millionen Tonnen bildete.

Vierundzwanzig Stunden verliefen unter diesen Verhältnissen, während die Goëlette sich drei bis vier Seemeilen von der Eisgrenze entfernt hielt. Näher daran hinzusegeln, hätte nur in Einbuchtungen geführt, aus denen schwer wieder herauszukommen gewesen wäre. Kapitän Len Guy hätte es doch vielleicht gewagt, er fürchtete nur immer, an einer sich bietenden Durchfahrt, ohne sie zu bemerken, vorbeizusegeln.

»Hätte ich ein Begleitschiff,« sagte er zu mir, »so hielte ich mich der Packeisgrenze so nahe wie möglich. Es ist überhaupt ein großer Vortheil, zu Zweien zu sein, wenn man eine solche Fahrt unternimmt. Die ›Halbrane‹ ist aber allein, und wenn wir sie verlieren sollten . . .«

Obwohl unsre Goëlette sich nun immer in einer von der Klugheit gebotenen Entfernung hielt, setzte sie sich doch dabei noch wirklichen Gefahren aus. Nach einer Strecke von wenigen hundert Toisen, mußte sie plötzlich angehalten oder ihre Richtung verändert werden, und das manchmal in dem Augenblicke, wo die Spitze ihres Klüverbaumes schon ganz nahe daran war, irgendwo anzustoßen. Stundenlang war Jem West genöthigt, fortwährend den Curs zu wechseln und nur sehr langsam vorzudringen, um dem Stoße eines Eisfeldes zu entgehen.

Zum Glück wehte der Wind stetig aus Ost bis Nordnordost und gestattete so, entweder leicht oder ziemlich dicht daran hinzufahren. Er frischte auch nicht besonders auf. Wäre er aber zum Sturme angewachsen, so weiß ich nicht, was aus der Goëlette jetzt hätte werden sollen, oder ich weiß vielmehr zu gut, daß sie dabei den Untergang gefunden hätte.

In diesem Falle wäre uns jedes Entkommen abgeschnitten gewesen, und die »Halbrane« an der Grenze, dem »Ufer« des Packeises gestrandet.

Nach langem Suchen mußte der Kapitän Len Guy darauf verzichten, in dieser Mauer einen Durchgang zu finden, und es blieb ihm nichts anders übrig, als bis zu deren Südostausläufer weiter zu segeln. Beim Einhalten dieser Richtung verloren wir übrigens nichts an der schon erreichten Breite. Eine Beobachtung am 18. ergab für die Lage der »Halbrane« dreiundsiebzig Grad Breite.

Ich weise nochmals darauf hin, daß wohl kaum jemals eine Reise über die antarktischen Gewässer so vom Glücke wie die unsere begünstigt worden war – durch den frühzeitigen Sommer, den beständigen Nordwind und eine Mitteltemperatur, für die der Thermometer neunundvierzig Grad Fahrenheit (+9,54° Celsius) angab. Selbstverständlich erfreuten wir uns andauernder Tageshelle, denn alle vierundzwanzig Stunden sandte uns die Sonne ihre Strahlen aus allen Himmelsgegenden zu.

An den Eisbergen bildeten sich vielfach Wasserfäden, die deren Wände aushöhlten und zu plätschernden Cascaden zusammenflossen. Deshalb hatten wir uns auch vor plötzlichen Lageveränderungen der Eisberge in Acht zu nehmen, wenn sich infolge Abnagung ihres Untergrundes der Schwerpunkt derselben verlegte.

Noch zwei- oder dreimal fuhren wir auf weniger als drei Seemeilen an das Packeis heran. Es war ja unmöglich, daß es von den klimatischen Einflüssen unberührt geblieben wäre und daß sich nicht da und dort ein Riß darin gebildet hätte.

Diese Versuche blieben erfolglos und wir mußten uns wieder der westöstlichen Strömung anvertrauen. Sie unterstützte uns übrigens und es war nur bedauerlich, dadurch vom dreiundvierzigsten Meridian weggeführt zu werden, nach dem die Goëlette doch zurückkehren mußte, um sicher nach der Insel Tsalal zu gelangen. Der Ostwind trieb sie indessen einigermaßen wieder nach ihrer Fahrlinie hin.

Bei dieser Recognoscierung – das möchte ich hier einflechten – haben wir auch nirgends Land oder nur eine Andeutung davon im Meere ringsum entdeckt, was mit den von früheren Seefahrern aufgenommenen Karten völlig übereinstimmt, die trotz ihrer Unvollständigkeiten bezüglich der Hauptlinien doch verläßlich sind. Ich weiß recht gut, daß Schiffe wiederholt da vorübergekommen sind, wo Landmassen angegeben waren; das konnte aber für die Insel Tsalal nicht zutreffen. Wenn die »Jane« sie erreichen konnte, so mußte dieser Theil des Antarktischen Oceans offenes Wasser haben, und bei einem so zeitigen Sommer hatten wir in dieser Beziehung gewiß keine Hindernisse zu fürchten.

Endlich am 19., zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, ertönte von den Raaen des Fockmastes ein Ausruf.

»Was giebt es?« fragte Jem West.

»Das Packeis zeigt im Südosten einen Durchbruch . . .«

»Und dahinter? . . .«

»Ist nichts zu sehen!«

Der Lieutenant erkletterte die Wanten und stand in wenigen Augenblicken an den Mastseilen der Marsstenge.

Unten warteten alle mit fieberhafter Ungeduld. Wenn nun der Ausguck sich getäuscht hatte! . . . Wenn eine optische Illusion . . . In keinem Falle würde doch Jem West einem Irrthum verfallen.

Nach einer Beobachtung von zehn Minuten – zehn endlosen Minuten – erschallte seine klare Stimme bis zum Verdeck herunter.

»Offenes Wasser!« rief er.

Einstimmige Hurrahs ertönten als Antwort.

Die Goëlette drehte so scharf am Winde wie möglich nach Südosten bei.

Zwei Stunden später war das Ende des Packeises umsegelt, und vor uns lag eine glitzernde, völlig eisfreie Meeresfläche ausgebreitet.

 


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