Jules Verne
Die Eissphinx. Erster Band
Jules Verne

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XV. Die Insel Bennet

Nachdem die »Halbrane« vom Polarkreise an gegen achthundert Seemeilen hinter sich gebracht hatte, befand sie sich jetzt in Sicht der Insel Bennet! Die Mannschaft bedurfte sehr der Ruhe, denn in den letzten Stunden hatte die Goëlette auf dem ganz stillen Meere mittelst der Boote geschleppt werden müssen. Die Landung wurde deshalb auf den nächsten Tag verschoben, und ich zog mich in meine Cabine zurück.

Diesmal unterbrach kein Geflüster meinen Schlummer und früh um fünf Uhr war ich einer der ersten auf dem Verdeck.

Es versteht sich von selbst, daß Jem West alle Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte, die eine Fahrt in dieser verdächtigen Gegend angezeigt erscheinen ließ. An Bord herrschte die strengste Wachsamkeit. Die Mörser waren geladen, Kugeln und Kartuschen lagen bereit, Gewehre und Pistolen waren fertig zur Hand und die Enternetze konnten jeden Augenblick gehißt werden. Man erinnerte sich eben des Angriffs der »Jane« durch die Bewohner der Insel Tsalal gar zu gut. Unsere Goëlette lag jetzt kaum sechzig Seemeilen von dem Schauplatze jener schrecklichen Katastrophe.

Die Nacht verging ohne Alarm. Bei Tagesanbruch zeigte sich kein Boot im Gesichtskreise der »Halbrane«, kein Eingeborner am Strande. Die Oertlichkeit erschien verlassen und übrigens hatte auch der Kapitän William Guy hier keine Spuren von menschlichen Wesen gefunden. Man sah weder Hütten auf dem Ufergelände noch etwa eine hinter diesem aufwirbelnde Rauchsäule, die bewiesen hätte, daß die Insel Bennet bewohnt wäre.

Von dem Eiland sah ich – ganz den Angaben Arthur Pym's entsprechend – nur eine felsige, unebene Fläche, die im Umfang eine Lieue messen mochte und völlig unfruchtbar erschien, wenigstens zeigte sich keine Spur von Vegetation darauf.

Unsere Goëlette lag vor einem einzigen Anker etwa eine Seemeile nördlich davon.

Der Kapitän Len Guy bemerkte mir gegenüber, daß über die Lage des Eilands kein Irrthum möglich sei.

»Herr Jeorling,« sagte er, »sehen Sie dort das Vorgebirge im Osten?«

»Gewiß, Herr Kapitän . . .«

»Aehnelt die Gestaltung seines übereinander gehäuften Gesteins nicht großen Baumwollballen?«

»Ganz recht, und dasselbe war auch im Berichte angegeben.«

»Wir haben also nur an jenem Vorgebirge ans Land zu gehen, Herr Jeorling. Wer weiß, ob wir dort nicht einzelne Spuren von den Leuten der »Jane« finden, wenn es diesen gelungen war, von der Insel Tsalal zu entfliehen!«

Hier sei nur noch ein Wort über die Gemüthsverfassung eingefügt, in der wir an Bord der »Halbrane« uns alle befanden.

Wenige Kabellängen vor uns lag das Eiland, das Arthur Pym und Dirk Peters elf Jahre vorher betreten hatten. Als die »Jane« dahin kam, war es keineswegs unter so günstigen Umständen, wie wir uns deren erfreuten, bei ihr ging das Brennmaterial allmählich zu Ende und unter der Besatzung traten Erscheinungen von Skorbut zu Tage. An Bord unsrer Goëlette herrschte dagegen der erfreulichste Gesundheitszustand, und wenn die neu angemusterten Leute auch unter sich murrten, so zeigten sich doch die alten voller Eifer und Hoffnung, dem Ziele so nahe zu sein.

Was der Gedanke, der Wunsch, die Sehnsucht des Kapitän Len Guy war, das ist ja leicht zu errathen . . . er verschlang die Insel Bennet geradezu mit den Augen.

Einen Mann aber gab es unter uns, dessen Blicke daran vielleicht noch gespannter hafteten . . . das war der Matrose Hunt.

Seit der Anker im Grunde lag, hatte er sich, wie es sonst seine Gewohnheit war, auf dem Verdeck niemals hingelegt, nicht einmal, um einige Stunden zu schlafen. Auf die Reling vorn an Steuerbord gelehnt, den breiten Mund fest geschlossen und die Stirn in tausend Falten, hatte er diesen Platz nicht wieder verlassen und seine Blicke wandten sich keine Secunde von dem vor ihm liegenden Ufer ab.

Ich erinnere hier daran, daß der Name »Bennet« der des Associés des Kapitäns der »Jane« war, der ihm zu Ehren dem ersten, im Polargebiete entdeckten Lande beigelegt worden war.

Ehe er die »Halbrane« verließ, ermahnte Len Guy den Lieutenant, stets die größte Wachsamkeit zu beobachten . . . eine Empfehlung, deren es bei Jem West kaum bedurfte. Unsere Nachforschung sollte sich nicht über einen halben Tag ausdehnen. Wäre das Boot im Laufe des Nachmittags nicht zurückgekehrt, so sollte ein zweites ausgesendet werden, um jenes aufzusuchen.

»Achte vor allem auf unsere neue Mannschaft!« setzte der Kapitän Len Guy hinzu.

»Seien Sie ohne Sorge, Herr Kapitän,« antwortete der Lieutenant. »Da Sie vier Mann an die Riemen brauchen, könnten Sie diese ja aus den Neuen wählen. Damit wären vier unruhige Köpfe weniger an Bord.«

Das war ein guter Rath, denn unter dem verderblichen Einfluß Hearne's ließ die Unzufriedenheit seiner Genossen von den Falklands schon Zeichen von weiterer Zunahme wahrnehmen.

Nach Bereitstellung des Bootes nahmen vier von den neuen Leuten in dessen Vordertheile Platz, während Hunt auf sein besonderes Verlangen das Steuer führte. Der Kapitän Len Guy, der Hochbootsmann und ich setzten uns, alle wohlbewaffnet, im Hintertheile nieder, und dann stießen wir ab, um den nördlichen Theil der kleinen Insel anzulaufen.

Eine Viertelstunde später hatten wir das Vorgebirge umschifft, das aus der Nähe gesehen, den Anblick geschnürter Ballen nicht mehr bot. Weiterhin öffnete sich eine kleine Bucht, in der die Boote der »Jane« gelandet waren.

Nach dieser Bucht steuerte jetzt Hunt, auf dessen Instinct wir uns getrost verlassen konnten. Er wand sich mit auffallender Sicherheit durch die Felsenspitzen, die da und dort die Wasserfläche kaum überragten. Man hätte glauben mögen, daß er das Wasser hier genau kenne . . .

Die Untersuchung des Eilands konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Der Kapitän Len Guy hatte dafür auch nur einige Stunden vorgesehen, und wenn sich hier die oder jene Spuren vorfanden, konnten sie uns gar nicht entgehen.

Wir landeten also im Hintergrunde der Bucht an einem steinichten, mit mageren Flechten bedeckten Ufer. Die Fluth ging schon zurück und legte den Sandboden eines Strandstreifens frei, worauf schwärzliche Blöcke, großen Nägelköpfen ähnlich, verstreut lagen.

Der Kapitän Len Guy wies mich auf dem sandigen Grunde auf eine große Menge länglicher Mollusken hin, die bei einer Länge zwischen drei und achtzehn Zoll zwischen einem und acht Zoll dick waren. Die einen davon lagen flach auf der Seite, die andern krochen von der Sonne beschienenen Stellen zu, um sich von den ganz kleinen Lebewesen zu ernähren, die die Korallenriffe aufbauen. An zwei bis drei Stellen bemerkte ich auch in der Bildung begriffene Korallenbänke.

»Diese Mollusken,« erklärte mir der Kapitän Len Guy, »sind die sogenannten Meerkühe, die von den Chinesen besonders geschätzt werden. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenke, Herr Jeorling, geschieht es deshalb, weil die ›Jane‹ hierher gegangen war, um solche Meerkühe zu erlangen. Sie haben nicht vergessen, daß mein Bruder mit Too-Wit, dem Häuptling der Insel Tsalal, wegen der Lieferung einiger hundert Piculs dieser Mollusken verhandelt und er nahe dem Ufer einige Schuppen hatte errichten lassen, wo sich drei Mann mit der Zurichtung des Fanges beschäftigen sollten, während die Goëlette ihre Entdeckungsreise fortsetzte. Sie erinnern sich auch, unter welchen Umständen das Fahrzeug überfallen und zerstört wurde.«

Ja, alle diese Einzelheiten standen mir klar vor Augen, ebenso wie das, was Arthur Pym über diese Meerkühe (Gasteropeda pulmonifera Cuvier) berichtet. Sie gleichen einer Art Wurm oder Raupe und haben weder Schalen noch Füße, sondern nur elastische Bauchringe. Hat man solche Mollusken auf dem Strande gesammelt, so zerschneidet man sie der Länge nach, weidet sie aus, wäscht sie gründlich, läßt sie sieden oder vergräbt sie für einige Stunden und setzt sie nachher der Sonnenhitze aus; endlich werden sie gedörrt und in Fässern verpackt nach China befördert. Auf den Märkten des Himmlischen Reichs hoch geschätzt, und zwar aus gleichem Grunde wie die Schwalbennester, die man für eine besonders stärkende Nahrung hält, werden sie – die beste Sorte – bis zu neunzig Dollars für das Picul (d. s. 133½ Pfund) verkauft, meist in Canton, doch auch in Singapore, in Batavia und Manila.

Als wir das Felsenufer erreicht hatten, wurden zwei Mann zur Bewachung des Bootes zurückgelassen. In Begleitung der beiden andern schlugen wir, der Kapitän Len Guy, der Hochbootsmann, Hunt und ich, eine Richtung nach dem Innern der Insel Bennet ein.

Hunt ging schweigend voraus, während ich mit dem Kapitän Len Guy und dem Hochbootsmann einige Worte wechselte. Man hätte wahrlich sagen können, daß jener uns als Führer diente, und ich konnte es nicht unterlassen, einzelne diesbezügliche Bemerkungen zu machen.

Eigentlich war das für uns ja gleichgiltig, denn vor allem kam es darauf an, erst nach vollständiger Durchsuchung der Insel an Bord zurückzukehren.

Der Boden, über den wir hinschritten, war ungemein dürr. Zu jeder Cultur ungeeignet, hätte er Schiffbrüchigen nicht die geringsten Hilfsmittel bieten können.

Wie hätte man darauf leben sollen, da er nur eine einzige Pflanze, eine Art stachliges Feigenmoos, hervorbrachte, mit dem sich die rohesten Wiederkäuer nicht begnügt hätten. Stand dem Kapitän William Guy und seinen Leuten nach der Zerstörung der »Jane« keine andere Zuflucht zu Gebote, so mußten sie schon längst bis zum letzten Mann verhungert sein.

Von dem niedrigen Hügel, der in der Mitte der Insel Bennet aufragte, konnten wir diese in ihrer Gesammtheit überblicken . . . doch nirgends war etwas besonderes zu erkennen. Immerhin konnten sich vielleicht Fußspuren erhalten haben oder Aschenreste von Feuerstellen, Trümmer von Wohnhütten – kurz, greifbare Beweise, daß einige Leute von der »Jane« hierher gekommen waren.

Um hierüber Gewißheit zu erlangen, beschlossen wir, von dem Grunde der Bucht aus, wo das Boot gelandet hatte, der ganzen Küstenlinie nachzugehen.

Beim Abstieg von dem Hügel setzte sich Hunt wieder an die Spitze der kleinen Truppe, als wäre es verabredet, daß er uns führte. Wir folgten ihm also, als er nach dem südlichen Ausläufer der Insel zu voranschritt.

An dessen Spitze angelangt, sah sich Hunt überall um, bückte sich und wies zwischen zerstreuten Steinblöcken auf ein Stück halbverfaultes Holz hin.

»Ah, ich erinnere mich!« rief ich. »Arthur Pym erwähnt dieses Stück Holz, das zum geschnitzten Vordersteven eines Schiffes gehört zu haben schien.«

»Einem Steven mit Bildschnitzereien, worunter mein Bruder die Zeichnung einer Schildkröte zu erkennen glaubte,« fügte der Kapitän Len Guy hinzu.

»Ganz recht,« fuhr ich fort, »diese Aehnlichkeit wurde von Arthur Pym aber als zweifelhaft hingestellt. Da sich das Stück Holz aber noch an der im Bericht angegebenen Stelle vorfindet, muß man schließen, daß die Insel Bennet nach dem Aufenthalte der ›Jane‹ hier von niemand wieder betreten worden ist. Ich halte es also für eine Zeitvergeudung, nach weiteren Spuren zu suchen. Erst auf der Insel Tsalal werden wir Aufschluß erhalten . . .«

»Ja . . . ja . . . auf der Insel Tsalal!« fiel mir der Kapitän ins Wort.

Wir kehrten nun nach der Bucht hin zurück und hielten uns immer, nahe der Fluthwellengrenze, an dem felsigen Ufer. An manchen Stellen zeigten sich Anfänge von Korallenbänken. Meerkühe gab es in solcher Menge, daß wir leicht hätten eine volle Ladung davon einheimsen können.

Hunt ging immer schweigend und die Augen zur Erde gerichtet weiter.

Ließen wir die Blicke in die Weite hinaus schweifen, so zeigte sich uns nichts als die unbegrenzte Wasserwüste. Nur im Norden von uns schaukelte die »Halbrane« bei dem leichten Wellengange. Nach Süden hin zeigte sich keine Andeutung eines Landes, denn die Insel Tsalal hätten wir in dieser Richtung noch nicht sehen können, da sie dreißig Bogenminuten, also dreißig Seemeilen weiter südlich zu suchen war.

Nachdem wir die ganze Insel umschritten hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als an Bord zurückzukehren und so bald als möglich nach Tsalal zu abzusegeln.

Wir begaben uns nun wieder nach dem östlichen Strande, Hunt immer gegen zehn Schritte vor uns. Da blieb dieser plötzlich stehen und winkte uns eiligst zu sich heran.

In einem Augenblicke waren wir neben ihm.

Hatte Hunt über das aufgefundene Stück Holz keinerlei Verwunderung sehen lassen, so änderte sich seine Haltung, als er jetzt bei einem wurmstichigen, auf dem Sande liegenden Plankenreste niederkniete. Er strich mit seinen großen Händen darüber hin, betastete das Holz, als wollte er jede Unebenheit genau daran fühlen, und suchte nach irgend etwas an der Oberfläche, das einen Aufschluß über vergangene Vorfälle hätte liefern können.

Die kerneichene, fünf bis sechs Fuß lange und sechs Zoll breite Planke mußte von einem ziemlich großen Schiffe herrühren, vielleicht einem solchen von mehreren hundert Tonnen. Die schwarze Farbe, die sie früher bedeckt hatte, war zum größten Theil unter einer dichten Schmutzschicht, einer Folge klimatischer Unbilden, verschwunden. Genauer betrachtet, schien die Planke aus dem geschmückten Stern (Hinterwand) eines Fahrzeugs zu stammen.

Der Hochbootsmann machte eine derartige Bemerkung.

»Ja . . . ja . . .« bestätigte der Kapitän Len Guy, »sie bildete einst einen Theil einer Achterverzierung!«

Der noch immer knieende Hunt erhob den Kopf und nickte zustimmend.

»Diese Planke,« antwortete ich, »kann aber nur nach einem Schiffbruche an die Insel Bennet geworfen worden sein. Jedenfalls haben sie Gegenströmungen aus dem offenen Meer hierher getragen, und . . .«

»Wenn das der Fall wäre?« . . .« rief der Kapitän Len Guy.

Einundderselbe Gedanke erfüllte plötzlich uns beide.

Welches Staunen, welche Verblüffung und unaussprechliche Erregung bemächtigte sich aber Aller, als Hunt uns eine Anzahl Buchstaben auf der Planke zeigte, die nicht aufgemalt, sondern ins Holz eingeschnitten waren, so daß man sie mit den Fingerspitzen fühlen konnte.

Ganz leicht ließen sich dadurch die Buchstaben zweier Namen erkennen, die in zwei Linien angeordnet waren, nämlich:

AN
LI E PO L.

Die »Jane« von Liverpool! Die vom Kapitän William Guy geführte Goëlette! Was that es, daß die Witterung die fehlenden Buchstaben zerstört hatte? . . . Die noch vorhandenen genügten ja, den Namen des Schiffes und seinen Heimatshafen zu erkennen: Die »Jane« von Liverpool!

Der Kapitän Len Guy hatte die Planke mit den Händen gefaßt und drückte sie an die Lippen, während eine große Thräne aus seinen Augen herabrollte.

Das war ein Trümmerstück von der »Jane«, eines, daß die Explosion hinausgeschleudert und ein Gegenstrom oder eine Eisscholle an dieses Ufer getragen hatte.

Ohne ein Wort zu äußern, wartete ich, daß der Kapitän Len Guy wieder ruhiger werden sollte.

Aus Hunt's Augen, seinen funkelnden Falkenaugen, hatte ich aber noch nie bisher einen so leuchtenden Blitz hervorschießen sehen, wie in dieser Minute, als er den südlichen Horizont betrachtete.

Der Kapitän Len Guy erhob sich.

Schweigend, wie immer, legte sich Hunt die Planke über die Schulter, und wir setzten unsern Weg fort.

Nach Vollendung unsers Rundgangs um die Insel, machten wir an der Stelle Halt, wo das Boot im Hintergrunde der Bucht unter der Hut der beiden Matrosen zurückgelassen worden war, und um halb drei des Nachmittags waren wir wieder an Bord zurück.

In der Hoffnung, daß ein Nord- oder Ostwind aufs neue einsetzen könnte, wollte der Kapitän Len Guy bis zum nächsten Tage an dem jetzigen Ankerplätze verweilen. Ein solcher Wind war ja höchst erwünscht, denn es war kaum daran zu denken, die »Halbrane« durch Ruderer in ihren Booten bis in Sicht der Insel Tsalal schleppen zu lassen. Verlief auch die Strömung, wenigstens während der Zeit der Fluth, in dieser Richtung, so hätten wir für die Strecke von etwa dreißig Seemeilen doch mindestens zwei Tage gebraucht.

Die Abfahrt wurde also bis zum Tagesanbruch verschoben. Da aber gegen drei Uhr morgens eine leichte Brise aufsprang, konnten wir hoffen, daß die Goëlette ihr letztes Reiseziel ohne große Verzögerung erreichen würde.

Es war halb sieben Uhr morgens am 23. December, als die »Halbrane« in der Richtung nach Süden den Ankerplatz an der Insel Bennet verließ. Unbestreitbar war es, daß wir hier einen neuen, handgreiflichen Beweis für den Unglücksfall gefunden hatten, dessen Schauplatz die Insel Tsalal gewesen war.

Die Brise, die uns forttrieb, war recht schwach, und nur zu häufig schlugen die erschlafften Segel klatschend an die Masten. Zum Glück belehrten uns wiederholte Sondierungen, daß die Strömung unverändert eine südliche blieb. Bei dem immerhin recht langsamen Vorwärtskommen lag es auf der Hand daß der Kapitän Len Guy die Insel Tsalal vor Ablauf von sechsunddreißig Stunden doch nicht zu Gesicht bekommen würde.

An diesem Tage betrachtete ich sehr aufmerksam das Wasser des Meeres, das mir minder dunkelblau erschien, als Arthur Pym es angab. Ebensowenig hatten wir jene stacheligen Büschel mit rothen Beeren angetroffen, die von der »Jane« an Bord geholt worden waren, noch eines jener seltsamen Geschöpfe, der tiefsüdlichen Fauna – ein drei Fuß langes, sechs Zoll hohes Thier mit kurzen Beinen, Füßen mit langen, korallenrothen Krallen, weichbehaartem, weißem Leibe, mit dem Schwanze einer Ratte, dem Kopfe einer Katze, zurückgeschlagenen Hundeohren und lebhaft rothen Zähnen. Uebrigens erschienen mir alle derartigen Einzelheiten von jeher verdächtig und ich schrieb sie nur einer etwas ausschweifenden Phantasie unsers jungen Gewährsmannes zu.

Auf dem Hinterverdeck sitzend, las ich in dem Buche Edgar Poë's, bemerkte aber dabei, daß Hunt, wenn ihn sein Dienst in die Nähe des Deckhauses führte, mich immer mit auffallender Hartnäckigkeit ansah.

Ich war grade am Ende des 17. Capitels, wo Arthur Pym seine Verantwortlichkeit »für die traurigen und blutigen Vorfälle, die Folgen seiner Rathschläge«, zu fühlen anfing. Er war es ja gewesen, der die Bedenken des Kapitän William Guy überwand, der ihn beredete, »die so verführerische Gelegenheit wahrzunehmen, das große Problem bezüglich eines antarktischen Festlands zu lösen«. Und wenn er diese Verantwortlichkeit auf sich nahm, so beglückwünschte er sich doch, »das Werkzeug einer wichtigen Entdeckung gewesen zu sein, die Augen der Wissenschaft für eines der verlockendsten Geheimnisse, das je deren Aufmerksamkeit gefesselt hat, mit geöffnet zu haben«.

An diesem Tage tummelten sich zahlreiche Walfische in der Umgebung der »Halbrane« umher. Gleichzeitig zogen zahlreiche Völker von Albatrossen nach Süden hin. Von treibendem Eise war nichts zu sehen. Jenseits der äußersten Grenzen des Horizonts war nicht einmal der bekannte »Eisblink« zu beobachten.

Der Wind verrieth keine Neigung aufzufrischen und leichte Dünste verhüllten die Sonne.

Es war schon fünf Uhr abends, als die letzten Profillinien der Insel Bennet verschwommen. Einen wie geringen Weg hatten wir seit dem Morgen zurückgelegt!

Der stündlich abgelesene Compaß zeigte nur eine unbestimmte Abweichung, was die Angaben des Berichts bestätigten. Bei wiederholten Sondierungen konnten wir keinen Grund finden, obwohl der Hochbootsmann dabei zweihundert Faden lange Leinen ablaufen ließ. Es war noch ein Glück, daß wenigstens die Strömung unsere Goëlette – freilich nur mit der Geschwindigkeit von einer halben Meile in der Stunde – nach Süden mitnahm.

Von sechs Uhr ab verschwand die Sonne hinter einer dicken Nebelwand, jenseits welcher sie ihre lange absteigende Spirale fortsetzte.

Die Brise war fast ganz eingeschlafen – eine Widerwärtigkeit, die wir nur mit lebhafter Ungeduld ertrugen. Wenn diese Verzögerungen anhielten oder gar der Wind umschlug, was sollten wir beginnen? Das Meer hier lag jedem Sturme offen, und eine Böe, die die Goëlette nach Norden zurück verschlug, hätte nur »die Karten« Hearne's und seiner Genossen »gespielt«, indem sie deren Einspruch in gewissem Maße rechtfertigte.

Nach Mitternacht wehte es jedoch wieder frischer, und die »Halbrane« konnte etwa ein Dutzend Seemeilen aufholen.

Am nächsten Tage, am 24., ergab das Besteck 83°2' der Breite und 43°5' der Länge.

Die »Halbrane« befand sich nur noch achtzehn Bogenminuten – weniger als ein Drittel Grad, nicht mehr zwanzig Seemeilen – von der für die Insel Tsalal angegebenen Lage entfernt.

Leider ließ uns der Wind gegen Mittag aufs neue im Stiche; dennoch wurde, Dank der Strömung, um sechs Uhr fünfundvierzig Minuten abends die Insel Tsalal gemeldet.

Sobald der Anker in den Grund eingegriffen hatte, wurde die strengste Wachsamkeit angeordnet, die Kanonen wurden geladen, die Gewehre zur Hand gelegt und die Enternetze an Ort und Stelle gebracht.

So lief die »Halbrane« keine Gefahr einer Ueberrumpelung. An Bord wachten zu viele Augen . . . vorzüglich die Hunt's, die sich niemals von dem Horizont im Süden abwendeten.

 


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