Jules Verne
Die Eissphinx. Erster Band
Jules Verne

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XII. Zwischen dem Polarkreis und dem Packeise

Seit die »Halbrane« den angenommenen, um dreiundzwanzig Grad dreiunddreißig Minuten vom Pole abgelegenen Kreis überschritten hat, scheint sie in eine neue Welt eingetreten zu sein, in die der Verlassenheit und des Schweigens, wie Edgar Poë sagt, in das magische Gefängniß des Glanzes und des Ruhms, worin der Sänger der »Eleonora« für immer eingeschlossen zu sein wünschte, in den ungeheuern Ocean unverlöschbaren Lichtes . . .

Meiner Ansicht nach ist – um hier bei minder phantastischen Hypothesen zu bleiben – diese antarktische Welt mit einer Oberfläche von mehr als fünf Millionen Quadrat(see-)meilen (gegen 20 Millionen Quadratkilometer), in demselben Zustande geblieben, wie unsre Erdkugel zur Eiszeit.

Den Sommer hindurch erfreut sich das südliche Polargebiet – genauer freilich nur der Südpol – immerwährenden Tages, Dank den Strahlen, die die Sonne bei ihrer aufsteigenden Spirale darauf niedersendet. Wenn sie wieder verschwunden ist, beginnt dafür die lange, lange Nacht, die aber oft von glänzenden Polarlichtern erhellt wird.

Unsere Goëlette sollte die gefährlichen Wasserwüsten also bei vollem Tage durchfurchen. Dauernde Helligkeit würde ihr bis zur Insel Tsalal nicht mangeln, wo wir gar nicht zweifelten, die Ueberlebenden der »Jane« zu finden.

Ein mehr phantastisch veranlagtes Gemüth wäre in den ersten Stunden nach Ueberschreitung der Grenze dieser neuen Welt gewiß in der Erregung Visionen und andern Täuschungen unterlegen; es hätte sich wie in das Gebiet des Übernatürlichen versetzt geglaubt, bei der Annäherung an das Antarktische Reich hätte es wohl gefragt, was denn der Nebelschleier verhülle, der den größten Theil des Gesichtsfeldes abschloß. Sollten sich da neue Elemente des Pflanzen-, Thier- und Steinreichs, vielleicht wirklich menschliche Wesen anderer Art finden, wie Arthur Pym solche gesehen zu haben behauptete? Was würde ihm dieses »Theater der Meteore« bieten, vor dem noch der Dunstvorhang herabhing? Mußte es nicht unter dem Einfluß derartiger Träumereien bei dem Gedanken an die Rückkehr alle Hoffnung verlieren? Sollte es sich nicht aus den Versen des seltsamsten aller Gedichte die Stimme des Raben des Dichters zukreischen hören:

»Never more . . . niemals . . . niemals wieder!«

In einer solchen Geistesverfassung befand ich mich freilich nicht, und trotz einer seit kurzer Zeit eingetretenen Erregung gelang es mir doch, mich an den Grenzen der Wirklichkeit zu halten. In meiner Seele lebte nur der eine Wunsch, daß Wind und Meer uns jenseits des Polarkreises wie diesseits desselben günstig bleiben möchten.

Was den Kapitän Len Guy, den Lieutenant und die alten Matrosen betrifft, so malte sich in ihren rauhen Zügen, ihren wettergebräunten Gesichtern deutlich die größte Befriedigung bei der Meldung, daß die Goëlette den sechsundsechzigsten Breitengrad überschritten habe. Am nächsten Tage kam Hurliguerly auf dem Verdeck mit heiterem Gesicht zu mir und begann in fröhlichem Tone:

»Na, Herr Jeorling, da hätten wir ihn ja hinter uns, den berühmten Kreis!«

»Ja, doch nicht weit genug, Hochbootsmann, nicht weit genug!«

»Das wird alles schon noch werden. Nur eines ärgert mich ein bischen . . .«

»Was denn?«

»Daß wir nicht vornehmen, was auf jedem Schiffe, das die Linie passiert, Gebrauch ist!«

»Das bedauern Sie?« fragte ich.

»Gewiß, die ›Halbrane‹ hätte sich wohl die Ceremonie einer ›südlichen Taufe‹ leisten können.«

»Einer Taufe? . . . Wen hätten Sie denn taufen wollen, da unsere Leute alle, ebenso wie Sie, doch schon jenseits dieses Breitengrades gefahren sind?«

»Wir . . . ja! . . . Sie, Herr Jeorling, nein! Ich frage Sie, warum hätte diese Feierlichkeit denn nicht Ihnen zu Ehren stattfinden können?«

»Es ist freilich richtig, Hochbootsmann, daß ich im Laufe meiner vielen Reisen zum ersten Male nach so hohen Breiten hinaufgekommen bin . . .«

»Und das verdient eben eine Taufe, Herr Jeorling. Oh, eine ohne großen Lärm . . . ohne Pauken und Trompeten . . . ohne den Alten vom Pole mit seinem gewöhnlichen Mummenschanz aufzubieten! . . . Wenn Sie mir gestatten wollen, Sie einzusegnen . . .«

»Meinetwegen, Hurliguerly«, antwortete ich und griff nach der Tasche. »Segnen und taufen Sie nach Herzenslust. Hier ist einstweilen ein Piaster, um im nächsten Gasthaus auf meine Gesundheit zu trinken . . .«

»Dann wird das nur auf der Insel Bennet oder der Insel Tsalal geschehen können, wenn es auf diesen verwahrlosten Landstücken Schänken giebt und sich so ein Atkins dort niedergelassen hat.«

»Sagen Sie mir, Hochbootsmann . . . ich komme immer auf Hunt zurück . . . scheint er ebenso wie die alten Matrosen befriedigt, den Polarkreis überschritten zu haben?«

»Ja, wer weiß?« erwiderte Hurliguerly. »Der segelt immer mit fest zugeknöpfter Jacke und aus dem Burschen ist nichts herauszubringen. Doch, wie ich Ihnen schon sagte, wenn der nicht schon mit dem Treibeis und dem Packeis Bekanntschaft gemacht hat, dann . . .«

»Was erregt Ihnen einen solchen Gedanken?«

»Ja . . . alles und nichts, Herr Jeorling! . . . So etwas hat man im Gefühl! . . . Hunt ist ein alter Meerwolf, der seine Kiste schon in allen Ecken der Erde umhergeschleppt hat.«

Ich theilte ja im Grunde die Ansicht des Hochbootsmanns und konnte es, wie von einer Ahnung gedrängt, nicht unterlassen, Hunt zu beobachten, so sehr beschäftigte er immer meine Gedanken.

In den ersten Tagen des Decembers, vom 1. bis zum 4., zeigte der Wind nach vorausgegangener Windstille eine gewisse Neigung, nach Nordwest umzuschlagen. Mit dem Nordwind in den tief südlichen Breiten liegt es nun ebenso wie mit dem Südwind im Nordpolargebiete . . . er bedeutet nichts Gutes. Meist tritt damit recht schlechtes Wetter mit Sturmböen und Regenschauern ein. So lange der Wind indeß nicht nach Südwest umlief, hatten wir uns darüber nicht zu beklagen. Im letzteren Falle wäre die Goëlette freilich leicht aus ihrem Curse verschlagen worden oder hätte wenigstens schwer zu kämpfen gehabt, um sich darin zu erhalten, und ohne Zweifel war es für uns rathsamer, nicht von dem Meridian abzuweichen, dem wir seit der Abfahrt von den New South Orkneys gefolgt waren.

Die voraussichtliche Aenderung der atmosphärischen Verhältnisse erfüllte auch den Kapitän Len Guy mit einer gewissen Unruhe. Die Geschwindigkeit der »Halbrane« erlitt übrigens eine merkbare Verminderung, denn der Wind flaute schon am 4. merklich ab und legte sich in der Nacht zum 5. ganz.

Am Morgen hingen die Segel wirkungslos und schlaff an den Masten herab oder schlugen höchstens matt von einer Seite zur andern. Obgleich wir keinen Lufthauch spürten und die Oberfläche des Meeres sich nicht im mindesten kräuselte, verursachten die langen Wellen der Dünung doch ein nicht geringes Schwanken der Goëlette.

»Das Meer wittert etwas,« sagte mir der Kapitän Len Guy, »und nach jener Seite dort« – er zeigte gegen Abend – »muß rauhes Wetter sein.«

»Der Horizont ist jetzt zu dunstig,« gab ich zur Antwort. »Zu Mittag vielleicht, wenn die Sonne . . .«

»Die hat in diesen Breiten, selbst zur Sommerszeit, nicht viel Macht, Herr Jeorling . . . Jem!«

Der Lieutenant trat heran.

»Was meinst Du über den Himmel?«

»Mir erscheint er unsicher. Jedenfalls müssen wir auf alles vorbereitet sein, Kapitän. Ich werde die obern Segel niederholen und Bram- und Großsegel reefen lassen. Es ist möglich, daß der Wind Nachmittag nur auffrischt, doch wenn ein Sturm die Krallen ausstreckte, wären wir zu seinem Empfange fertig.«

»Das Wichtigste, Jem, bleibt es immer, in der Richtung des jetzt gesegelten Längengrades zu bleiben.«

»Was möglich ist, wird geschehen, Kapitän, denn wir sind jetzt auf gutem Wege . . .«

»Hat der Ausguck noch keine treibenden Eisschollen gemeldet?« fragte ich.

»Doch,« erwiderte der Kapitän Len Guy, »und bei einem Zusammenprall mit den Eisbergen würde es deren Schaden nicht sein. Erforderte die Klugheit also eine Abweichung nach Osten oder Westen, so müßten wir uns drein schicken, wir weichen aber nur der höheren Gewalt.«

Der Mann auf dem Ausguck hatte sich nicht getäuscht. Am Nachmittage sahen wir weißliche Massen langsam im Süden hintreiben – vereinzelte Eisinseln, die weder ihrer Ausdehnung noch ihrer Höhe nach beträchtlich waren. Trümmerstücke von Eisfeldern schwammen darauf in großer Menge. Diese waren das, was die Engländer »Packs« nennen, Stücke von drei- bis vierhundert Fuß Länge, deren Ränder sich berühren, oder »Palchs«, wenn sie kreisrund sind, und »Streams«, wenn sie bei geringer Breite unverhältnismäßige Länge aufweisen. Diese Trümmer, denen leicht auszuweichen war, konnten die Fahrt der »Halbrane« nicht genieren. Hatte der Wind ihr bisher aber gestattet, ihren Curs einzuhalten, so kam sie jetzt kaum vorwärts und ließ sich aus Mangel an Eigenbewegung nur mit Mühe steuern. Am unangenehmsten war es aber, daß dabei das hohle, gleichsam auf und ab schwingende Meer uns durch wirklich unerträgliche Stöße belästigte.

Gegen zwei Uhr sprang eine wirbelnde Luftbewegung, einmal von dieser und einmal von jener Seite auf. Es wehte plötzlich aus allen Theilen der Windrose.

Die Goëlette wurde furchtbar umhergeworfen, und der Hochbootsmann mußte auf dem Verdeck alles anbinden lassen, was nicht ganz niet- und nagelfest war.

Um drei Uhr brachen genau aus Westnordwest ungewöhnlich starke Sturmböen hervor. Der Lieutenant ließ sofort noch zweimal reefen. Er hoffte sich so gegen den heftigen Wind zu halten und nicht nach Osten außerhalb der Fahrtlinie Weddell's verschlagen zu werden. Freilich drohten die »Drifts« (oder das Treibeis) sich an einer Seite anzuhäufen, und es giebt für ein Schiff nichts Gefährlicheres, als sich in ein solches bewegliches Labyrinth zu wagen.

Bei den überaus heftigen Windstößen und der groben See legte sich die Goëlette zuweilen ganz bedenklich auf die Seite. Zum Glück konnte ihre Ladung sich nicht verschieben, denn alles war mit Rücksicht auf jedes Vorkommniß beim Segeln sorgsamst verstaut. Wir hatten das Schicksal des »Grampus« nicht zu befürchten, das durch Achtlosigkeit verursachte Kentern, bei dem jener zu Grunde ging. Der Leser erinnert sich, daß diese Brigg mit dem Kiel nach oben zurückgetrieben war und daß Arthur Pym und Dirk Peters mehrere Tage auf ihrem Rumpfe hatten aushalten müssen.

Uebrigens gaben die Pumpen der Goëlette zur Zeit keinen Tropfen Wasser. Keine Naht der Seitenwände oder des Verdecks war leck gesprungen, und das verdankten wir ohne Zweifel den gewissenhaften Ausbesserungen während unseres Aufenthalts an den Falklands-Inseln.

Ob dieser Sturm längere Zeit andauern sollte, hätte auch der beste »Weather-wise«, der erfahrenste Wetterprophet nicht zu sagen vermocht. Vierundzwanzig Stunden, zwei Tage, drei Tage lang, man weiß nie, wie viel grobes Wetter einem die südlichen Meere bringen.

Eine Stunde nach dem Aufspringen des Unwetters wechselten Graupel- und Hagelschauer mit Regenfällen und Schneetreiben unablässig ab. Die Temperatur war jetzt nämlich ziemlich niedrig. Der Thermometer zeigte nicht mehr als sechsunddreißig Grad Fahrenheit (+2,22° Celsius) und auch die Quecksilbersäule des Barometers stand auf 26 Zoll 8 Linien (721 Millimeter).

Es war zehn Uhr des Abends – ich muß dieses Wort gebrauchen, obgleich die Sonne noch immer über dem Horizonte stand. Jetzt fehlten ja nur noch vierzehn Tage bis zu dem Zeitpunkte, wo sie den höchsten Mittagsstand in ihrem Jahreslaufe erreichte, und dreiundzwanzig Grade vom Pole fielen zur Stunde ihre schrägen, wärmelosen Strahlen über das weite Polarbecken.

Um zehn Uhr fünfunddreißig Minuten verdoppelte sich die Wuth der Sturmes.

Ich konnte mich nicht entschließen, meine Cabine aufzusuchen, und flüchtete mich zum Schutze nur hinter das Ruff.

Der Kapitän Len Guy und der Lieutenant standen nicht weit von mir in ernstem Gespräche. Bei dem Donnern der Elemente konnten sie ihre Worte gewiß kaum hören; Seeleute verstehen einander aber schon durch Zeichen und Winke.

Es lag klar auf der Hand, daß die Goëlette jetzt nach den Eismassen im Südosten zu abtrieb und diese, da sie sich langsamer als das Schiff bewegten, zuletzt erreichen mußte. Eine doppelt schlechte Aussicht, die uns aus dem Wege verschlug und obendrein mit einem furchtbaren Zusammenstoß bedrohte. Das Rollen war inzwischen so stark geworden, daß wir für die Masten fürchten mußten, denn deren Top beschrieb jetzt erschreckend weite Bogen. Während des Schloßenfalls konnte man die »Halbrane« für zerschnitten in zwei Theile halten. Vom Vordertheile nach dem Hintertheile zu vermochte keiner etwas zu erkennen.

Bei einem gelegentlichen freieren Ausblick sah man, wie furchtbar aufgeregt das Meer war und wie wüthend und schäumend es gegen den Fuß der Eisberge, als wären es Uferklippen, anprallte und diese bei dem herrschenden Winde mit Wasserstaubwolken verhüllte. Die Zahl der treibenden Blöcke hatte auch zugenommen; das ließ erwarten, daß der Sturm den Eisaufbruch beschleunigen und die Grenze des Packeises leichter zugänglich machen werde.

Jedenfalls blieb es das wichtigste, das Schiff dem Winde entgegenzuhalten. Halb von der Seite von den Wogen bedrängt, arbeitete die Goëlette furchtbar, tauchte tief in deren Wellenthäler hinab und richtete sich nur unter schweren Stößen wieder empor. An ein Entfliehen war gar nicht mehr zu denken, denn unter solchen Umständen setzt sich jedes Schiff der Gefahr aus, über Heckbord ungeheure Wassermengen aufzunehmen.

Vor allem mußten wir so scharf wie möglich am Winde zu segeln suchen. Bei dicht gereeftem Marssegel, das kleine Focksegel vorne und den Sturmfock hinten, befand sich die »Halbrane« dann in der augenblicklich besten Lage, dem Sturme und dem Abgetriebenwerden zu widerstehen, wobei immer noch eine Verminderung der Segelfläche im Auge behalten war, wenn das schlimme Wetter noch bösartiger würde.

Der Matrose Drap hatte eben das Steuer übernommen, und der Kapitän Len Guy stand neben ihm, den Lauf des Schiffes zu beobachten.

Auf dem Vorderdeck hielt sich die Mannschaft versammelt, der Befehle Jem West's gewärtig, während sechs Mann unter der Leitung des Hochbootsmanns beschäftigt waren, an Stelle der Brigantine ein Sturmsegel zu hissen. Dieses Sturmsegel bestand aus einem dreieckigen Stücke sehr starker Leinwand, das, wie ein Klüversegel geformt, an den Stagen des kleineren Mastes oben, und an dem Längsbaum des Gaffelsegels unten befestigt wird.

Um das Marssegel zu reefen, mußten die Leute auf die Raaen des Fockmastes klettern, und vier Mann sollten dazu ausreichen.

Der erste, der die Wanten bestieg, war Hunt, der zweite Martin Holt, unser Segelwerksmaat. Der Matrose Burry und einer der neu Angeworbenen folgten ihnen auf dem Fuße.

Nie hätte ich geglaubt, daß ein Mann eine solche Behendigkeit und Geschicklichkeit entwickeln könnte, wie es Hunt jetzt that. Seine Hände und Füße schienen die Sprossen der Wanten kaum zu berühren. Als Erster auf der Höhe der Raaen angekommen, kletterte er sofort auf dem Laufseile derselben bis zum Ende, um die Raaenbänder der Marsstenge nachzulassen.

Martin Holt begab sich nach deren andern Ende; die beiden andern Leute hielten sich mehr in der Mitte.

Sobald das Segel herangezogen war, galt es nur, es dicht einzureefen. Nachdem dann Hunt, Martin Holt und die beiden Matrosen wieder herabgestiegen waren, sollte es von unten aus festgestellt werden.

Der Kapitän Len Guy und der Lieutenant wußten, daß die »Halbrane« auf diese Art ihre Richtung am sichersten einhalten würde.

Während Hunt und die andern arbeiteten, hatte sich der Hochbootsmann mit dem Sturmfock beschäftigt und erwartete nur die Anweisung des Lieutenants, diesen in die richtige Lage zu bringen.

Der Sturm brach jetzt mit ganz unvergleichlicher Wuth los. Zum Zerreißen gespannt, vibrierten Wanten und Stagseile wie metallische Saiten, und es war ungewiß, ob nicht auch die verkleinerten Segel in Fetzen zerrissen würden.

Plötzlich erschütterte eine schreckliche Rollbewegung das ganze Deck. Fässer, deren Halteseile zersprangen, rollten bis zur Schanzkleidung. Die Goëlette neigte sich so weit über Steuerbord, daß das Wasser durch die Speigatten eindrang.

Durch den Stoß gegen das Ruff geschleudert, konnte ich mich einige Augenblicke lang gar nicht wieder aufrichten . . .

Die Goëlette war so tief nach der Seite geworfen worden, daß die Marsraa drei bis vier Fuß in den Kamm einer Woge eintauchte.

Als sie sich aus dem Wasser wieder erhob, war Martin Holt, der an demselben Ende hing, um seine Arbeit zu vollenden, verschwunden.

Ein Schrei ertönte . . . der Aufschrei des Segelwerksmaats, der durch den Seegang weggespült worden war und dessen Arm man mitten im weißen Wogenschaum heftig kämpfen sah.

Die Matrosen stürzten nach dem Steuerbord und warfen der eine einen Strick, der andre ein Fäßchen und wieder ein anderer ein Stück dünnes Langholz, kurz, jeden schwimmfähigen Gegenstand hinaus, an dem sich Martin Holt halten könnte.

In dem Augenblicke, wo ich einen Takelhaken ergriff, um mich festzuhalten, erkannte ich eine Masse, die die Luft durchschnitt und im Wogenwirbel verschwand.

War das ein zweiter Unglücksfall? . . . Nein, eine freiwillige That . . . ein Act der Aufopferung.

Nachdem Hunt die letzte Beschlagleine des Reefs festgezogen und sich wieder längs der Raa hingeschleppt hatte, sprang er dem Segelwerksmaat ohne Zögern nach, um ihm zu helfen.

»Zwei Mann über Bord!« erschallte es vom Verdeck.

Ja, zwei . . . der eine freilich, um den andern zu retten . . . doch sollten sie nicht beide elend umkommen?

Jem West stürmte nach dem Steuerrade und ließ die Goëlette durch eine völlige Drehung desselben um ein Viertel anluven – mehr war bei dem wüthenden Sturme der allgemeinen Sicherheit wegen nicht zu wagen. Dann wurden die wenigen Segel gegengebraßt, und das Schiff hielt sich nahezu an derselben Stelle.

Zuerst erblickte man auf der Oberfläche des schäumenden Wassers Martin Holt und Hunt, deren Köpfe daraus hervorragten.

Hunt schwamm aus Leibeskräften quer durch die Wellen und näherte sich dem Segelwerksmaat.

Dieser – jetzt schon eine Kabellänge entfernt, tauchte abwechselnd auf und unter . . . ein schwärzlicher Punkt, der in den tollen Wirbeln schwer zu erkennen war.

Nach dem Hinauswerfen von Fäßchen und Langholzstücken wartete die Mannschaft, die gethan hatte, was sie konnte, des Ausgangs der Tragödie. Ein Boot bei dem entsetzlichen Wogengange auszusetzen, daran war kaum zu denken. Entweder wäre es gekentert oder an der Wand der Goëlette zerschmettert worden.

»Sie sind beide verloren . . . alle beide!« murmelte der Kapitän Len Guy.

Dann rief er den Lieutenant an.

»Jem . . . das Boot, das kleine Boot!«

»Wenn Sie Befehl geben, es ins Meer zu lassen,« antwortete der Lieutenant, »so werd' ich als der erste darin Platz nehmen, obgleich es das Leben gilt. Doch ohne den ausdrücklichen Befehl . . .«

Es folgten einige Minuten ängstlichster Spannung für die Zeugen dieses Vorgangs. Niemand dachte mehr an die Lage der »Halbrane«, so gefährdet diese auch war. Alle Augen waren über Steuerbord hinaus gerichtet.

Plötzlich ertönten laute Rufe, als Hunt noch einmal zwischen zwei Wellenbergen sichtbar wurde. Er tauchte von neuem unter und darauf sah man ihn, als hätte er einen festen Stützpunkt für die Füße gefunden, mit übermenschlicher Kraft auf Martin Holt oder vielmehr auf die Stelle zustürzen, wo der Unglückliche eben versunken war.

Dadurch, daß Jem West die Schoten der Segel noch etwas hatte nachschießen lassen, war die Goëlette dieser Stelle bis auf eine halbe Kabellänge nahe gekommen.

Da übertönten neue Rufe den Lärm der entfesselten Elemente.

»Hurrah! . . . Hurrah! . . . Hurrah!« rief die ganze Mannschaft.

Mit dem linken Arme hielt Hunt den jeder Bewegung unfähigen Martin Holt wie eine Seetrift umklammert. Mit dem andern ruderte er kräftig vorwärts und näherte sich der Goëlette.

»Halte gegen den Wind . . . gegen den Wind!« befahl Jem West dem Steuermann.

Das Schiff drehte mehr bei und die Segel schlugen donnernd an die Masten.

Die »Halbrane« sprang gleichsam auf den Wogen, wie das sich bäumende Pferd, wenn das Trensengebiß es zurückhält, als sollte es ihm das Maul zerreißen. Dem furchtbarsten Rollen und Stampfen preisgegeben, hätte man, um in dem gebrauchten Bilde zu bleiben, sagen können, daß sie auf einer Stelle courbettierte.

Eine endlose Minute verstrich. Kaum vermochte man inmitten des brodelnden Wasserschwalls die beiden Männer zu unterscheiden, von denen einer den andern schleppte.

Endlich erreichte Hunt die Goëlette und ergriff ein daran herunterhängendes Sorrtau . . .

»Laß' treiben . . . laß' treiben!« schrie der Lieutenant dem Mann am Steuer zu.

Die Goëlette wendete wieder so weit, daß das Marssegel und der Sturmfock wirken konnten und kam damit annähernd in die frühere Richtung.

Im Handumdrehen waren Hunt und Martin Holt nach dem Deck heraufgehißt und der eine am Fuße des Fockmastes niedergelegt worden, während der andere schon bei dem neuen Segelmanöver mit zugriff.

Dem Segelwerksmeister wurde die seinem Zustande entsprechende Pflege zutheil. Nach einiger Zeit kam seine Athmung wieder in Gang. Durch tüchtiges Abreiben wurde er vollends zum Bewußtsein zurückgerufen und er schlug die Augen auf.

»Martin Holt,« redete der Kapitän, der sich über den Mann gebeugt hatte, ihn an, »da bist Du aber von weither wiedergekommen . . .«

»Ja . . . ja freilich, Kapitän!« antwortete Martin Holt, mit dem Blicke umhersuchend. »Doch . . . wer hat mich noch gerettet?«

»Das ist Hunt gewesen,« rief der Hochbootsmann, »Hunt, der für Dich sein Leben gewagt hat!«

Martin Holt richtete sich halb in die Höhe, stützte sich auf den Ellbogen und sah sich nach Hunt um.

Da dieser sich halb versteckt hielt, schob ihn Hurliguerly zu Martin Holt, aus dessen Augen die lebhafteste Dankbarkeit hervorleuchtete.

»Hunt,« begann er, »Du hast mich gerettet! . . . Ohne Dich . . . wär' ich verloren gewesen . . . ich danke Dir!«

Hunt gab keine Antwort.

»Nun, Hunt,« mischte sich der Kapitän Len Guy ein, »hörst Du denn gar nichts?«

Hunt schien tatsächlich nichts gehört zu haben.

»Hunt,« begann Martin Holt wieder, »komm' her . . . ich danke Dir . . . ich möchte Dir die Hand drücken.«

Er streckte ihm damit die Hand entgegen.

Hunt wich einige Schritte zurück und schüttelte den Kopf, wie ein Mann, der solche Complimente wegen einer so einfachen Sache nicht leiden mag.

Dann begab er sich nach dem Vorderdeck und beschäftigte sich, eine der Schoten am Fockmaste zu ersetzen, die von einem so heftigen Stoße, daß die Goëlette vom Kiel bis zum Top der Masten erzitterte, zersprengt worden war.

Offenbar gehörte dieser Hunt zu dem Schlage opferfreudiger, todesmuthiger Heldennaturen; offenbar auch war er von Charakter unzugänglich für alle Eindrücke, und heute war es noch nicht, wo der Hochbootsmann die »Farbe seiner Worte« kennen lernte.

Die Gewalt des Sturmes ließ gar nicht nach und flößte uns noch wiederholt lebhafte Befürchtungen ein. Beim Wüthen desselben blickten wir oft nach den Masten, aus Angst, daß sie trotz der verminderten Segel brechen würden. Ja . . . hundertmal, und obgleich jetzt Hunt's kräftige und geschickte Hand das Steuerruder regierte. Von dem unausweichlichen seitlichen Anprall der Wogen bedrängt, nahm die Goëlette so bedenkliche Neigungswinkel an, daß ein Kentern manchmal recht nahe lag. Das Marssegel mußte auch noch ganz eingezogen werden und wir sahen uns damit nur auf den Sturmfock und auf Klüversegel beschränkt.

»Jem,« begann der Kapitän Len Guy – es war zur Zeit fünf Uhr morgens – »wir werden uns doch entschließen müssen, vor dem Sturm zu laufen.«

»Wenn Sie es wünschen, wird es geschehen, Kapitän, doch auf die Gefahr hin, vom Meere verschlungen zu werden!«

In der That giebt es nichts Gewagteres, als den Wind von hinten abzufangen, wenn man nicht schneller als die Wogen selbst vorwärtskommt, und man entschließt sich dazu nur, wenn es unmöglich wird, dem Sturme Trotz zu bieten. Uebrigens hätte sich die »Halbrane«, wenn sie weiter nach Osten segelte, inmitten des Gewirrs dort angehäufter Eismassen von ihrem Curse entfernt.

Drei Tage lang, am 6., 7. und 8. December, tobte der Sturm unablässig weiter, zuweilen begleitet von Schneeschauern, die die Temperatur merkbar herabsetzten. Es gelang aber, das Schiff gegen den Wind zu halten, nachdem das von einem besonders heftigen Windstoße zerrissene Klüversegel durch ein anderes, noch festeres ersetzt worden war.

Wir brauchen kaum hervorzuheben, daß der Kapitän Len Guy sich als richtiger Seebär erwies, daß Jem West die Augen überall hatte, daß die Mannschaft ihn entschlossen unterstützte und Hunt stets der erste war, wo es galt, irgendwelche drohende Gefahr abzuwenden.

Was von diesem Manne zu halten wäre, konnte sich niemand vorstellen. Zwischen ihm und den andern auf den Falklands angeheuerten Matrosen – vorzüglich dem Master-sealing Hearne – bestand ein ganz erstaunlicher Unterschied. Diese waren nur schwer zu etwas zu bewegen, was man von ihnen zu verlangen volles Recht hatte. Sie verweigerten freilich nicht den Gehorsam, denn wohl oder übel mußten sie sich einem Officier wie Jem West fügen. Hinter dessen Rücken wurden aber Klagen und Vorwürfe genug laut. Das schien – so fürchtete ich wenigstens – für die Zukunft nichts Gutes zu versprechen.

Selbstverständlich hatte Martin Holt nicht gezögert, seine Arbeit wieder aufzunehmen, und er verrichtete sie auch ohne Murren. Sehr erfahren in seinem Berufe, war er der einzige, der sich an Eifer und Gewandtheit mit Hunt messen konnte.

»Nun, Holt,« fragte ich ihn eines Tages, als er mit dem Hochbootsmann im Gespräch begriffen war, »wie stehen Sie sich denn jetzt mit dem Teufelsburschen, dem Hunt? – Hat er sich, seitdem er Sie gerettet, etwas mittheilsamer gezeigt?«

»Nein, Herr Jeorling,« erwiderte der Segelwerksmaat, »es scheint sogar, daß er mich zu meiden sucht . . .«

»Sie zu meiden?« versetzte ich.

»Wie er das übrigens schon vorher gethan hat . . .«

»Das ist doch auffällig . . .«

»Doch nicht minder wahr,« mischte sich Hurliguerly ein. »Ich hab' es mehr als einmal beobachtet.«

»Er flieht Sie also wie die Andern, Holt?«

»Mich . . . noch mehr als die Andern.«

»Woher mag das kommen?«

»Das weiß ich nicht, Herr Jeorling.«

»Einerlei, Holt, Du bist ihm den größten Dank schuldig,« erklärte der Hochbootsmann. »Versuche aber nicht, ihn sichtbar abtragen zu wollen, er wendete Dir doch den Rücken.«

Ich war erstaunt über das, was ich eben hörte. Jedenfalls konnte ich mich aber bei genauerer Aufmerksamkeit überzeugen, daß Hunt jeder Gelegenheit aus dem Wege ging, mit unserm Segelwerksmaat zusammenzutreffen. Ob er wohl keinen Anspruch auf dessen Erkenntlichkeit zu haben glaubte, obwohl er ihm das Leben gerettet hatte? Auf jeden Fall erschien das Benehmen des so verschlossenen Mannes mindestens auffällig . . .

Nach Mitternacht vom 8. zum 9. zeigte der Wind einige Neigung, nach Osten umzulaufen, was uns eine günstigere Witterung versprach.

Wenn das wirklich eintraf, konnte die »Halbrane« leicht wieder einbringen, was sie durch Abtrift verloren hatte, und konnte ihre Fahrt auf dem dreiundvierzigsten Meridian aufs neue fortsetzen.

Obgleich noch eine recht grobe See stand, wurde es gegen zwei Uhr morgens doch möglich, die Segelfläche ohne Gefahr zu vergrößern. Unter dem Bram- und dem zweigereeften Oberbramsegel, dem Gaffel- und einem Klüversegel näherte sich die »Halbrane« denn auch mit Backbord-Halsen dem Wege, von dem sie durch den Sturm abgedrängt worden war.

In diesem Theile des Antarktischen Meeres trieben nun Eisschollen in großer Zahl umher, und man konnte annehmen, daß der Sturm durch Beschleunigung des Eisganges im Osten auch die Grenze des Packeises gesprengt haben werde.

 


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