Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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15. Kapitel.

Aus dem Entlein ist ein Schwan geworden

Über ein Jahr war seit jenem Tage vergangen, da unbarmherzige Arbeiterfüße das lenzjunge Grün niedergetreten. Im Garten blühten die Syringen.

Übermütig wirbelten krause Dampfwölkchen aus den Fabrikschornsteinen in den blauen Himmel hinein und erzählten von emsigem Treiben und Schaffen. Friedliche Arbeit war nach den Tagen des Aufruhrs wieder an dieser Stätte eingekehrt.

In der weißen Rokokovilla freilich, die mit ihrem verschnörkelten Baustil so lustig dreinblickte, hatte es lange Zeit gebraucht, bis die Folgen der Schreckenstage getilgt waren. Lange stand der düstere Sensenmann unsichtbar draußen an der Pforte, die Sichel gewetzt, um sie unerbittlich gegen das Haupt des Hauses zu schwingen.

Aber den treuen Pflegerinnen, die mit ihm rangen, wurde schließlich der Sieg. Als der Arzt, aufatmend nach bösen Fiebertagen und ‑nächten, sich vom Lager des Schwerkranken wandte und das eine Wort »Gerettet« sprach, da waren sich Olly und die neue Mutter, wortlos in ihrem Glücksempfinden, in die Arme gesunken. Ihre Freudentränen mischten sich. Nichts verbindet zwei Herzen so fest miteinander, wie das Band gemeinsamer Sorge. Olly hatte in diesen Tagen der Krankheit des Vaters die neue Mutter in ihrer unermüdlichen Tatkraft und Selbstentäußerung dem Gatten gegenüber schätzen und lieben gelernt.

Senta war nicht im Krankenzimmer zu gebrauchen. Sie war zu beweglich, ihr unruhiges Temperament scheuchte auch dem Fiebernden die Ruhe. Sie hatte sich inzwischen Bubis angenommen, in die Kinderstube paßte ihre Sonnennatur besser als in das Krankenzimmer.

Monatelang konnte sich der Kommerzienrat nicht von jenen Tagen des Aufstandes, die sein innerstes Mark getroffen, erholen. Und als er schließlich zum erstenmal wieder seine Fabrik betrat, da wandte sich manch Arbeitergesicht in schuldbewußt erschrecktem Gruße ihm zu. Ein alter Mann mit schneeweißem Haar war es, der ihre Reihen durchschritt. Kaum kannten sie ihren stattlichen, jugendschönen Herrn in dem Gebeugten, sich noch immer am Stock Vorwärtsschiebenden wieder. Der Wetterstrahl zerschmettert zuerst die höchste, stolzeste Eiche.

Olly war Papas Sekretärin geworden, seine »rechte Hand«, wie er schmerzlich sagte. Denn diese versagte ihm, trotz aller Massage und Elektrisierens, ihre Dienste. Morgens, pünktlich mit dem Glockenschlage acht, trat sie ihr Amt an, und bis Mittag beugte sie, eifrig schreibend, den dunklen Kopf über die Papiere. So hatte sich ihr Wunsch doch noch erfüllt, ihre Arbeitskraft für die Fabrik einzusetzen. Zweimal in der Woche aber, während Senta Reitstunde hatte, fuhr sie nach Berlin hinein. Sie hatte Fräulein Richters Worte nicht vergessen und sich als Helferin den sozialen Frauengruppen zur Verfügung gestellt.

Da hatte sie ihre bestimmten Pfleglinge, Waisen, die in Familien untergebracht waren, deren körperliches und geistiges Gedeihen sie überwachen mußte. Da galt es, armen Kranken ein Labsal zu bringen, für ausreichende Pflege und ärztliche Behandlung zu sorgen.

Ihre liebsten Stunden aber waren die im Kinderasyl. Sowohl bei den ganz Kleinen, die sie badete und wickelte, als auch bei den Größeren, mit denen sie spielte und lernte, und denen sie zur Belohnung für ihr Bravsein Geschichten erzählte. Hier fand Olly auch ihr jugendfrohes Lachen, das sie während der Krankheitstage des Vaters fast verlernt hatte, wieder.

Tante Olly war die beliebteste Tante im Kinderasyl geworden. Viele kleine Händchen streckten sich ihr jubelnd bei ihrem Erscheinen entgegen. Keine verstand so schön mit ihnen zu spielen, tausend herrliche Dinge aus fast nichts zu zaubern. Denn das war die Hauptsache, was das reiche, im Luxus aufgewachsene Mädchen hier lernte. Alles mußte praktisch sein und mit möglichst geringen Kosten hergestellt werden.

Abends, wenn sie Abschied nahm, nachdem sie die Kleinen mit Milch und Brot versorgt hatte, da hingen sich die Händchen wie die Kletten an das Kleid der lieben Tante Olly. Man wollte sie niemals fortlassen. Dies Bewußtsein gab ihr, der einst als Backfisch allgemein Unbeliebten, reiches Glücksempfinden.

Für Senta, die Reitstunde mit Irmgard von Buschen zusammen hatte, existierte überhaupt nichts anderes mehr als »Tacky«, ihr graubraunes Reitpferd. Allenfalls konnte sich daneben noch Irmgards Vetter, der lustige Leutnant Erwin von Treuenfels, ihr getreuer Kavalier im Tattersall, behaupten.

Papa hatte ihr mit Tacky, den sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag erhielt, den heißesten Wunsch ihres Lebens erfüllt. Auch Olly sollte ein Reitpferd bekommen. Aber diese hatte den Vater gebeten, davon Abstand zu nehmen, und ihr lieber das Geld, das der Gaul wohl kosten würde, zu geben.

»Nanu, Mädel, ich habe ja gar nicht gewußt, daß ich solche geldgierige Tochter habe, – willst du Schätze scheffeln?« hatte Papa amüsiert gefragt.

Da war Olly mit ihrem langgehegten Wunsch herausgerückt. Baugelände wollte sie kaufen, das hier draußen noch billig war, und darauf ein Arbeiterkinderheim aufführen lassen.

»Siehst du, Papa, ich habe jetzt öfters die Familien unserer Arbeiter besucht und Umschau gehalten, ob eine Notwendigkeit dafür vorliegt. Die Kinder sind fast überall, wenn die Eltern in der Fabrik tätig sind, sich selbst überlassen, haben selten warmes Essen, und verwahrlosen ohne Aufsicht. Willst du mir etwas schenken, so gib mir, bitte, die Erlaubnis, von meinem Vermögen die Gelder für solch einen Bau zu nehmen.«

Der Kommerzienrat reichte seiner Tochter in stummer Anerkennung die Hand.

Auf ihrem Geburtstagstisch aber lag bald darauf die Schenkungsurkunde für soundsoviel Quadratruten Land, das sich an das Fabrikterrain anschloß.

Olly war »Großgrundbesitzerin«, wie Wolfgang Steinhardt sie lachend nannte.

Ein emsiges Leben und Treiben begann bald auf ihrem Grund und Boden. Brettergerüste wurden aufgeschlagen, auf den Leitern kletterten kalkbespritzte Maurer auf und ab, ihr Hämmern einte sich mit dem Fabrikgetöse. Stein fügte sich auf Stein, das Haus wuchs in die Höhe.

Jeden Tag stattete Olly ihrem Bau einen Besuch ab und blickte mit frohen Augen auf das Werk, das den Kindern der Arbeiter zum Segen werden sollte.

Sie hatte den Plan für die Verwaltung ihres Kinderheims schon vollständig im Kopf. Morgens früh wurden die noch nicht schulpflichtigen Kleinen hingebracht, und abends nahmen die Eltern sie wieder mit nach Hause.

Da wurde ein großer, luftiger Babysaal gebaut für die Allerkleinsten. Selbst weiße Gitterbettchen sollten darin aufgestellt werden, daß die Kinder zur Ruhe gebracht werden konnten. Ein Zimmer war für die Arbeiterwaisen vorgesehen, die ständig im Kinderheim wohnen durften. Dann gab es da einen großen, hellen Spiel- und Arbeitssaal, wo die Kinder nach der Schule ihre Aufgaben machen und spielen konnten, eine Küche, in der nahrhaftes Essen für die blassen Kinder der Armut gekocht wurde, und vor allem einen Garten. Einen ganzen großen. Mit grünen, weiten Rasenflächen, auf denen sich die Kinder tummeln sollten. Apfel- und Birnbäume mußten darin aufgepflanzt werden, Olly hatte die sehnsüchtigen Blicke der Arbeiterkinder zu dem herrlichen Obstgarten des Kommerzienrats nicht vergessen.

Die Leitung des Kinderheims behielt Olly sich selbst vor. Aber zur ständigen Aufsicht hatte sie bereits eine junge Lehrerin, eine Bekannte von Kätchen Lehmann, verpflichtet. Kätchen wollte ihre freie Zeit ebenfalls gern der Freundin für ihr schönes Werk zur Verfügung stellen. Auch einige Seminaristinnen hatte sie schon als Helferinnen dafür gewonnen. Sogar Senta hatte sich herbeigelassen, einen Nachmittag in der Woche ihren Tacky im Stich zu lassen und sich der menschenfreundlichen Aufgabe zu widmen.

»Aber die Schmutznäschen wische ich fremden Kindern nicht!« hatte das elegante junge Fräulein gleich dabei erklärt.

Selbst einen Arzt hatte Olly für ihr Kinderheim schon in Aussicht. Freilich vorläufig nur einen angehenden. Rudi, der jetzt in Berlin studierte, trug bereits seine erste Anstellung in der Tasche.

Wolfgang Steinhardt zeigte warmes Interesse für Ollys edles Unternehmen. Er hatte ihr das Technische, das sie nicht beherrschen konnte, abgenommen, mit dem Architekten und den übrigen Fachleuten unterhandelt. Sie war ihm von Herzen dankbar dafür. Trotzdem wußte sie es einzurichten, daß sie so selten wie möglich mit ihm, der auch täglich auf dem Bau nach dem Rechten schaute, bei der Besichtigung zusammentraf.

Zu Ostern hatte die Hildebrandtsche Maschinenfabrik eine Umwälzung erfahren. Der Kommerzienrat, der sich noch immer schonen mußte, hatte Wolfgang Steinhardt als Teilnehmer aufgenommen.

Olly glaubte bestimmt, daß diese Veränderung die Vorbotin einer ebensolchen innerhalb ihres Familienlebens bedeutete. Täglich war sie darauf gefaßt, Sentas und Wolfgangs Verlobung zu erfahren.

Ein wonniger Maientag blaute über dem in voller Frühlingsblüte stehenden Garten. Die großen weißen und rötlichblauen Syringenbüsche strömten betäubenden Duft aus. Die unter ihrer blumigen Last tief niederhängenden Zweige des Rotdorns bildeten purpurne Heckenwege, und die Obstbäume hatten sich in schneeige Blütenschleier gehüllt. In den Büschen jubilierten die Amseln, als wollten sie mit ihrem Sang das Rasseln und Hämmern, das aus den Maschinensälen erschallte, übertönen. Ollys Balkon glich einer Blumenlaube. Tiefblaue Klematisglocken schaukelten leise im Maienwind über dem dunklen Mädchenscheitel.

Olly sah zu ihrem Kinderheim hinüber. Das Haus war fertig. Mit seinem funkelnagelneuen weißen Sandsteinkleid, mit den grünen Fensterläden grüßte es seine junge Besitzerin gar freundlich und hoffnungsfroh. Morgen sollte die Einweihung stattfinden.

Trotzdem schauten Ollys Augen nicht so freudig drein, wie sie es eigentlich hätten tun müssen. Ihr Herz stimmte nicht in den Frühlingsjubel des Wonnemonats ein. Irgendeine Vorahnung, die sie nicht in Worte zu fassen vermochte, lag ihr schwer auf der Brust.

Drunten im Garten machte Bubi jauchzend seine ersten Gehversuche. Über ihrem Haupte segelten in weitem Bogen die glückbringenden Schwalben.

Glück. – Olly verzog wehmütig den roten Mund. Aber gleich darauf sprach sie kopfschüttelnd zu sich selbst: »Nicht undankbar werden, Olly, du hast nur Grund, froh und zufrieden zu sein!« Doch aller Philosophie zum Trotz stahl sich ein leiser Seufzer aus der jungen Brust.

In das gemeinsame Zimmer trat Senta mit heißen Wangen und zerwehtem Blondhaar. Sie kam soeben von einem Spazierritt nach Hause und war noch im Reitkleide. Sie warf die Gerte auf den Tisch, schleuderte die Handschuhe daneben und trat zu Olly hinaus.

»Na, war's schön, Sentchen?« Olly wandte sich der Schwester zu.

Diese nickte. Ihre Wangen schienen sich noch tiefer zu färben. Dann schlang sie plötzlich in jäher Erregung die Arme um den Hals der Älteren und lehnte aufschluchzend den Blondkopf an ihre Schulter.

Erschreckt umfing Olly die Fassungslose. Senta, das Sonnenkind, weinte, was hatte das zu bedeuten?

Da aber hob sie schon das Haupt, und wie nach einem Frühlingsregen lachte aus ihren vergißmeinnichtblauen Augen bereits wieder Sonnenschein.

»Olly – es soll zwar heute noch keiner wissen – er will morgen abend erst zu Papa kommen – aber dir muß ich es sagen – ich bin ja so unmenschlich glücklich!«

Mechanisch streichelten Ollys Hände das weiche Blondhaar. Wie ein eisiger Strom hatte es sich bei Sentas heißen Worten durch ihre Adern ergossen. Es war ihr, als ob ihr Herz plötzlich still stand.

Jetzt kam es, das Vorhergeahnte!

»Du – hast dich – verlobt?« Wie aus weiter Ferne drangen Olly ihre eigenen Worte ins Ohr.

Senta nickte in heißem Erröten.

»Wir sind uns schon lange gut . . .«

Olly brachte ihr törichtes, dummes Herz mit Gewalt zum Schweigen. Sie drückte die Schwester an sich.

»Mögest du recht, recht glücklich werden mit ihm – und ihn ebenso glücklich machen!« sagte sie leise. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht weiter.

»Glaubst du, daß Papa nichts dagegen haben wird? Er ist noch so jung – – –«

»Ich denke, daß du ihm keinen lieberen Schwiegersohn zuführen kannst, Senta, und so jung ist er doch schließlich nicht, er ist ja über seine Jahre ernst«, Ollys Stimme klang noch weicher als sonst.

»Ernst –« Senta lachte hell auf. »Ich glaube, er hat noch nie ein ernsthaftes Wort mit mir gesprochen, selbst heute beim Antrag nicht. Wenn nur der Dienst nicht wäre, er ist fast den ganzen Tag in Anspruch genommen, wir werden wenig von unserer Verlobungszeit haben«, meinte Senta, das Reithütchen aus dem Goldhaar lösend.

»Papa ist ja kein Tyrann, er wird schon ein Einsehen mit euch haben und ihn mehr entlasten«, tröstete Olly.

»Papa – wie kommt denn Papa dazu, der ist doch nicht sein Vorgesetzter – – –«

»Jetzt freilich nicht mehr, seitdem er sein Sozius geworden, aber – – –«

»Um Himmels willen, Olly, von wem sprichst du denn eigentlich?« Senta starrte die Schwester mit weit aufgerissenen Augen an.

»Von Wolfgang Steinhardt, deinem Verlobten –«

»Von Wölfchen – hahahaha – – –« Senta brach in ein helles Lachen aus.

Jetzt war es an Olly, die Schwester mit weit aufgerissenen Augen anzustarren.

»Senta – ich verstehe dich nicht – was bedeutet das – – –«

»Das bedeutet, daß ich mich mit Leutnant Erwin von Treuenfels verlobt habe – du Schäfchen – und nicht mit Wolfgang Steinhardt – Wölfchen, hahahaha – der Gedanke ist zu komisch!«

Olly mußte nach dem neben ihr stehenden Stuhl greifen.

»Er – er wird sehr unglücklich werden durch deine Verlobung – er hat dich sicher lieb!« sagte sie dann mit tonloser Stimme.

Kein Gefühl der Freude wallte in ihr auf, nur grenzenloses Mitleid mit dem enttäuschten Freunde.

»Wölfchen mich lieb –« Senta begann aufs neue zu lachen – »na ja, wie Rudi und Herbertchen mich auch lieb haben, nicht 'ne Spur anders! Liebe schaut anders aus, komm du erst in meine Jahre!« Übermütig wollte sie die Schwester auf dem schmalen Balkon herumwirbeln.

Aber die machte sich frei.

»Laß mich, Senta, du siehst in deinem jubelnden Glück nicht die am Wege Weinenden. Mir tut Wolfgang schrecklich leid – – –«

»Weißt du was, dann nimm du ihn, Olly!« unterbrach Senta sie in ihrer impulsiven Art. »Für dich paßt er auch viel besser –« sie konnte nicht weiter sprechen, der Schwester Hand legte sich ihr gebieterisch auf den die Worte heraussprudelnden Mund.

»Red' keinen Unsinn!«

Senta sah der vom Balkon Gehenden verdutzt nach. Nanu – es war doch nur ein Scherz gewesen – Olly pflegte doch längst nicht mehr eine harmlose Neckerei krumm aufzunehmen!

Olly tat in dieser Nacht kein Auge zu. Wie sie sich hingelegt, erhob sie sich wieder. In ihr stand es fest, daß Senta im Begriff war, das Lebensglück des Freundes zu zertrümmern.

Als der junge Morgen ins Fenster lugte, war sie mit sich im reinen. Sie selbst wollte Wolfgang Steinhardt von Sentas Verlobung Mitteilung machen, in zarter, schonender Weise, es nicht dem jähen Zufall überlassen, ihm grausam die Kunde zuzutragen.

Papa blickte seine junge Sekretärin, die heute aus übernächtigten Augen schaute, prüfend an.

»Du siehst angegriffen aus, Kind, wir wollen unsere Arbeit heute lassen, es liegt nichts Dringendes vor. Gehe ein paar Stunden spazieren, daß du nachmittags zu deiner Einweihung frisch bist«, sagte er gütig.

Olly nahm dankbar Papas Vorschlag an. Es wäre ihr heute schwer geworden, ihre Gedanken zu konzentrieren. Wolfgang Steinhardt hatte als Teilhaber der Fabrik jetzt sein eigenes Privatzimmer. Als Olly es mit scheuem Gruß durchschritt, hielt er sie an.

»Sie sehen heute so bleich aus, Fräulein Olly, sind Sie krank?« fragte er besorgt.

Sie schüttelte stumm das Haupt. Einen Augenblick schwankte sie. Sollte sie es ihm jetzt gleich sagen?

Nein – nein, sie brachte es nicht über sich, den tödlichen Streich gegen sein Glück zu führen. Leutnant von Treuenfels wollte erst gegen Abend zu Papa kommen, inzwischen fand sie wohl noch einige Minuten Zeit, mit Wolfgang zu sprechen.

Die kosende Maienluft tat ihrem schmerzenden Kopf wohl. Mit helleren Augen und zartgefärbten Wangen erschien sie bei Tisch. Papa war mit ihr zufrieden.

Sie fand jetzt keine Zeit mehr, ihren Gedanken nachzuhängen. Es gab noch allerlei im neuen Haus zum Empfang ihrer kleinen Schützlinge zu rüsten.

Die Fabrik hatte der Einweihung zu Ehren einen freien Nachmittag. Um vier Uhr waren die Eltern mit ihren Kindern hinbestellt.

Olly schritt im weißen Sommerkleide ihrem neuen Reich zu. Die Goldbuchstaben über dem Eingange »Arbeiter-Kinderheim« blitzten und funkelten in der Maisonne. Mit zufriedenem Auge durchwanderte Olly die vor Sauberkeit leuchtenden Räume. Hier würde manch verkümmertes Menschenblümchen aufleben und erstarken. Ein frohes Gefühl überkam sie.

In der Küche war die neue Köchin damit beschäftigt, einen großen Kübel Schokolade zu kochen. Die Kinder sollten eine schöne Erinnerung an die Einweihung ihres Heims behalten. Auf den niedrigen Tischen in dem Arbeits- und Spielsaal stand vor jedem Platz ein blauer Emaillemilchbecher. Olly schnitt von Riesennapfkuchen für jedes Kind zwei Stücke und legte sie neben die Becher.

Die Familie des Kommerzienrats war vollständig versammelt. Auch Wolfgang Steinhardt nahm an der Einweihung teil. Er schritt mit bewunderndem Blick durch die ebenso praktischen, hygienischen, als auch dem Auge wohltuenden Räume. Was Olly hier geschaffen, trug den Stempel ihrer vollgültigen Persönlichkeit.

Der junge Ingenieur fuhr sich mit der Hand lockernd in den Halskragen. Der Gedanke an das, was er sich für diesen Tag vorgenommen, beengte ihn.

Er wollte heute mit Olly sprechen. Ihr offen seine Neigung gestehen – er mußte endlich Gewißheit haben! Dieses feige Versteckspielen ertrug er nicht länger, entweder – oder! Der heutige frohe Festtag, ihr ganz besonderer Ehrentag, schien ihm dafür günstiger als jeder andere.

Die Fabrikuhr schlug vier.

In langen Scharen zogen die Arbeiter in sonntäglichen Kleidern dem Heim, das ihnen edle Menschenfreundlichkeit errichtet, zu.

Einige achtzig Kinder waren für den Anfang gemeldet. An der Schwelle des neuen Hauses empfing Olly, in ihrem weißen Gewande wie eine gütige Fee anzuschauen, mit schlichtfreundlichem Gruß die Eintretenden.

Die Kinder nahmen ihre Plätze auf den Bänken ein, die Eltern ringsum Aufstellung. Aus jungen, frischen Kehlen erklang es: »Unsern Eingang segne Gott.«

Dann sprach Olly einige warm empfundene Worte, daß heute sich der größte Wunsch ihres Lebens erfüllt habe, und wie sie hoffe, daß sich die Kinder in ihrem Heim wohl fühlen würden und dort zu braven, pflichtgetreuen Menschen heranwachsen.

Während ihrer Rede dachte wohl so mancher der Arbeiter daran, daß der junge Mädchenmund schon einmal zu ihnen gesprochen in den Tagen der Gewalttat und der Empörung, und wie sie heute Böses mit Gutem an ihnen vergalt. Die Gefühle der Treue gegen ihren Herrn und sein Haus erstarkte dieser Augenblick.

Es war eine Lust, zu sehen, wie es den Kleinen zum erstenmal in ihrem Reich mundete. Das schleckte und leckte, stopfte und schlürfte, allenthalben sah man braune Schokoladenbärte in frischen Kindergesichtern. Da wich der Druck, der auf Olly lastete, und sie war froh und heiter mit den Kleinen.

Aber als die Napfkuchenreste unter den Arbeiterfamilien verteilt, als das letzte »Villen Dank ooch, jnädiges Fräulein!« verklungen war, legte es sich wieder wie ein Zentnergewicht ihr auf die Seele.

Die Mutter war zu Bubi geeilt, Senta hatte sich in Papas Arm gehängt, um ihn auf den bevorstehenden Besuch vorzubereiten, Rudi, der Studio, mußte heute noch zu einer Fuchstaufe, und Herbertchen sich mit dem lateinischen Ablativ anfreunden. Das neue Haus leerte sich.

Wolfgang brauchte keine Furcht zu haben, daß Olly ihm heute wieder entwischen würde. Sie wartete auf ihn.

An seiner Seite schritt sie durch den im brennenden Abendkuß rosig erglühenden Frühlingsgarten.

Keiner sprach.

Keiner wagte von dem, was ihm am Herzen lag, zu beginnen. Die duftigen Blüten streiften ihre Stirn. Die Vöglein flogen zum Nest. Sie standen unter dem Reinettenbaum.

»Ich muß mit Ihnen sprechen«, hub Wolfgang da plötzlich an, seine Stimme klang seltsam in die Abendstille hinein.

Olly atmete auf. Gott sei Dank – wenigstens noch eine kurze Galgenfrist! Sicher wollte er mit ihr die Abrechnung des Neubaues durchgehen.

»Sie sprachen vorhin zu den Arbeitern davon, daß der heutige Tag Ihnen den größten Wunsch Ihres Lebens erfüllt habe, Fräulein Olly. Vielleicht bringt er auch meinem heißesten Lebenswunsche Erfüllung – –« er machte erregt eine Pause.

Olly preßte die Hände auf das erregt schlagende Herz.

Wollte er jetzt mit ihr von Senta sprechen?

»Sie müssen es längst schon gemerkt haben, daß ich Sie liebe, daß ich keinen anderen Gedanken mehr habe, als Sie zu besitzen – Olly, können Sie mir kein Wort der Hoffnung geben?«

Tief hatte sich das dunkle Mädchenhaupt gesenkt. Ollys uneigennütziges Fühlen bezog das »Sie« ganz selbstverständlich auf die Schwester – es war ja nicht das erstemal in ihrem Leben, daß sie abseits stand – heute vom Glück. Wenn sie nur ihm hätte das Weh ersparen können! Sie kam sich vor wie der Henker, der Leben und Tod in seinen Händen hält. Sie blickte in die zartduftige Blütenpracht des Apfelbaumes. Hier hatte sie schon einmal die schwerste Stunde ihres Daseins durchlebt.

»Ich kann Ihnen keine Hoffnung machen, Wolfgang«, sagte sie mit weicher, tränenverschleierter Stimme. In diesem Augenblick des Mitleids kam ihr der vertraute Name der Kinderzeit wieder auf die Lippen.

Er erbleichte.

Sie legte sanft die Hand auf seinen Arm.

»Senta liebt einen andern, sie –«

»Senta, was frage ich in dieser Stunde nach Senta! An dich nur denke ich, Olly, von dir will ich wissen, warum du mich mit meiner großen Liebe abweist – sag', hast du mir noch immer nicht verziehen?«

»Mich – mich – das häßliche junge Entlein – ich glaubte Senta – – –« sie kam nicht weiter.

Wolfgangs Arme umfingen sie, seine Lippen preßten sich auf die kleine rote Narbe an ihrer Stirn.

»Mein Schwan – mein schöner, edler Schwan!«

Und der alte Reinettenbaum ließ seinen bräutlichen Blütenregen herniederrieseln auf das glückliche junge Paar.

 

 


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