Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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13. Kapitel.

Wieder daheim

Die schweren, tief niederhängenden Trauben über der Rebenbank, auf der Olly im Frühling eine andere geworden, hatten sich violett gefärbt. Das Fest der Weinlese war, wie alljährlich, in der Pierreschen Pension mit Jubel begrüßt worden.

Da zogen sie alle, die blühenden jungen Mädchen, in weißen Kleidern, mit Weinlaubkränzen im blonden und dunklen Haar, in die Rebhügel. Dort wurden die rötlichbeerigen Trauben, welche der Gärtner und seine Angestellten schnitten, von emsigen Mädchenfingern sortiert und in Körbe verpackt. Und emsige Mädchenlippen halfen ebenso eifrig wie die Hände die großen Mengen zu verringern. Ei, da wurde geschmaust! Helles Lachen erschallte hier, erschallte dort unter dichtem Rebengerank, junge Stimmen einten sich bei der fröhlichen Arbeit zu herzfreudigem Gesang.

Ollys Wangen glühten. Sie war eine der eifrigsten. Sie fühlte ordentlich wie ihre früher so müden, schwerfälligen Glieder Jugendkraft und Lebensfreude durchströmte. Der alte, blinde Wilhelm, mit dem sie gemeinsam arbeitete, konnte ihr gar nicht schnell genug die herrlichen Trauben zureichen.

Die beiden waren inzwischen gute Freunde geworden. Der Blinde hatte das junge Mädchen mit der dunkelgefärbten, samtweichen Stimme, die immer freundliche Worte zu sprechen wußte, in sein Herz geschlossen. Und Olly vergaß es nicht, wieviel sie von dem einfachen Alten einst an Daseinsfreude gelernt hatte.

Fräulein Richter überwachte das Ganze. Sie saß auf derselben Lattenbank, auf der sie an jenem Ostermorgen mit Olly gesessen. Als das junge Mädchen, mit Körben beladen, an ihr vorüber wollte, hielt sie es an.

»Komm, Olly, leiste mir ein wenig Gesellschaft. Du bist so erhitzt, Kind«, sie strich ihr liebevoll die Haare aus dem heißen Gesicht.

»Oh, das schadet nichts – man muß das Schöne genießen, solange es noch Sommer ist!« Das letzte klang ein wenig nachdenklich.

»Was, Olly, Herbstgedanken? Bei uns hier, am Genfer See, dauern die Sonnentage bis Weihnachten, und wenn wir uns Mühe geben, in unserer Pension sogar den ganzen Winter durch!« Olly lachte.

»Siehst du, Olly, wie fein du das Lachen bei uns gelernt hast! Wenn ich daran denke, was für eine Tränenweide jetzt gerade vor einem halben Jahr hier neben mir gesessen hat, dann bin ich mit den verflossenen Monaten recht zufrieden.«

»Ich auch, Fräulein Richter.« Olly drückte dankbar die Hand der gütigen Freundin. »Nur . . .« sie verstummte.

»Na, was gibt's noch für ein ›nur‹ dabei? Ich glaube, Olly, die baldige Abreise unserer Oktoberzöglinge liegt dir am Herzen. Unsere lustige Wiener Lisi wird uns recht fehlen.

»Ja, aber das macht's nicht allein. Der Hauptgedanke ist dabei für mich, daß nun auch meine herrliche Zeit hier ihren Höhepunkt erreicht hat und abwärts rollt.«

»Sie rollt dem Vaterhause zu, Kind. Wohl dem, der noch eins hat! Nicht undankbar sein!«

Das junge Mädchen sah still vor sich nieder.

»Olly, wir suchen dich wie eine Stecknadel, wir wollen eine Winzerkönigin küren, komm schnell.« Lisi und Senta standen vor ihr und zogen sie übermütig mit sich fort, hinein in das Jauchzen und Mädchenlachen.

Da mußten alle überflüssigen ernsten Gedanken schweigen. Am Abend gab es einen Winzertanz im Schweizerhaus »Mon repos«, ohne Herren; Senta meinte erst naserümpfend, das würde sicher mopsig werden. Aber dann mußte sie selbst zugestehen, daß sie sich beinahe ebensogut amüsierte, wie an ihrem sechzehnten Geburtstage, für sie der Inbegriff alles Vergnügens.

Die Mädel stellten das Haus auf den Kopf. Sie verkleideten sich und walzten unermüdlich. Sie brachten sogar die steifbeinige Miß Pinshes dazu, im Galopp mitzuhopsen. Nicht einmal Madame Pierres respektierte Persönlichkeit war heute vor der ausgelassenen Schar sicher. Fräulein Richter bildete die Hauskapelle. Sie war rührend in ihrer endlosen Geduld, aufzuspielen. Dabei sah sie mit frohen Augen auf die anmutigen Mädel, die von Jugendlust überschäumten, wie der Most des jungen Weines bald schäumen würde, dessen Ernte man heute feierte. Olly und Senta tanzten flott miteinander. Die Schwestern waren sich seit jenem Gewittertage nähergekommen. Senta, die Leichtsinnige, hatte diesmal Wort gehalten. Sie blieb ihrem Versprechen treu. Sie gab sich Mühe, Ollys ihrer eigenen Natur entgegengesetztes Wesen richtig zu würdigen. Dadurch wurde sie selbst wahrer und weniger oberflächlich. Sie gewöhnte sich, mit allen ihren Wünschen und Anliegen zuerst zur älteren Schwester zu kommen. Freilich, der verzogene Egoismus des blonden Mädels trat doch noch oftmals dabei zutage. Olly jedoch war froh, daß die Schwester Vertrauen zu ihr gefaßt hatte. Ja, selbst wenn Senta in der ersten Zeit hin und wieder einmal in ihren früheren schnippischen Ton verfiel, hatte Olly jetzt Humor genug, in harmloser Weise ihre Glossen darüber zu machen. Dann lachten sie alle beide, und der Frieden blieb unangetastet.

»Olly,« – Senta machte mitten im Rheinländer einen erschreckten Sprung, – »wir haben ja Wolfgang Steinhardts Geburtstag ganz vergessen, übermorgen ist er; wenn wir gleich eine Karte schreiben, kommt sie noch rechtzeitig an.« Sie ließ ihre Tänzerin stehen und jagte davon, Schreibutensilien zu holen.

O nein, Olly hatte den 1. Oktober nicht vergessen! Seit Tagen hatte sie schon an Wolfgangs Geburtstag gedacht, aber sie mochte Senta nicht daran erinnern, sie war froh, daß diese nicht davon sprach.

Nicht aus feindseligem Gefühl heraus wollte sie den Tag übergehen. Ihre Empörung über die Kränkung des ehemaligen Freundes, die kein Verzeihen gekannt, hatte sich, wie ihr ganzes Wesen, auch hier in der sonnigen Atmosphäre gewandelt. Sie hatte es nicht vergessen, was er ihr angetan – das würde sie wohl auch niemals können! Aber sie hatte unter Fräulein Richters sanfter Einwirkung milder denken, sie hatte verzeihen gelernt.

Still schaute sie zu, wie Senta Zeile um Zeile übermütig auf das Papier kritzelte. Fast ganz voll geschrieben hatte die Schwester die Karte in ihrem naiven Egoismus.

»Ach, Olly, du mußt ja auch noch eine Gratulation anquetschen, wirf die Karte dann gleich in den Kasten, der Briefträger kann jeden Augenblick abholen kommen.« Senta wirbelte schon wieder im Tanze davon.

Olly aber starrte auf das Schreiben in ihrer Hand.

»Nochmals Gruß und Glückwunsch von Deinem Sentchen«, schloß es.

Da tauchte Olly die Feder ein und schrieb, auf die letzte Zeile reimend, mit ihren großen, energischen Schriftzügen unter die zierlichen Buchstaben der Schwester: »Und von dem häßlichen jungen Entchen.«

»Olly, du siehst ja aus, als ob du einem Verbrecher sein Todesurteil ausschreibst, so finster blickst du!« rief Fräulein Richter lachend vom Klavier herüber.

Das junge Mädchen zuckte bei dem Ton der lieben Stimme zusammen. War sie ihrer Vornahme, sich innerlich zu veredeln, nicht soeben untreu geworden? Hatte sie nicht, statt eines freundlichen Wortes zum Geburtstag, nur scharfe Ironie gefunden? Wenn sie die Karte zerrisse . . . aber da hatte Senta ihr dieselbe mit den Worten: »Der Briefträger!« schon aus der Hand gerissen und aus dem Parterrefenster hinausgereicht.

Es war zu spät.

Die Karte, die nach Deutschland reiste, zu einem großen, braunbärtigen Mann, trug wirklich ein Todesurteil in sich. Sie tötete Wolfgang Steinhardts Geburtstagsfreude. Die Mahnung an das einzige Mal in seinem Leben, da er unwissentlich brutal gewesen, die aus weiter Ferne zu ihm drang, schmerzte den feinfühlenden Mann doppelt.

Er konnte sich nicht denken, daß Olly, wie der Kommerzienrat es erzählt hatte, sich vorteilhaft in der Pension verändert haben sollte. Dann hätte sie doch sicher statt des gehässigen Wortes ein freundschaftliches zum Wiegenfest für ihn gehabt. Seine Antwort fiel so kühl aus, daß Senta mit drollig erstauntem Gesicht rief: »Du, Olly, Wolfgang Steinhardt scheint einen Rappel zu haben – ist das der Dank für unser nettes Schreiben?«

Olly schwieg. Sie wußte, für welches nette Schreiben das der Dank war.

»Mon repos« leerte sich. Die Pensionsschwestern, die zu Oktober dort Einkehr gehalten, flatterten davon, lachend ins Leben hinaus. Neue Gesichter füllten die alten Räume. Die Monde wechselten. Aber die Sonnentage blieben. Nun saß man des Abends schon eifrig über den Weihnachtsarbeiten, die Mittage jedoch waren noch so wonnig, daß man sich nach wie vor im Freien tummeln konnte. Dies Jahr war Olly nicht von der emsigen Weihnachtsvorfreude ausgeschlossen. Sie lernte hier in der Fremde, wie so vieles andere, auch die Poesie des Lichterfestes und das selbstbeglückende Gefühl des Schenkens kennen. Längst waren ihre Hände keine Neulinge mehr auf dem Gebiet der Fingerfertigkeit. Sie, welche die Blumen besonders liebte, hatte es in der Handarbeitsstunde bei Fräulein Richter gelernt, ihre Lieblinge in allen Schattierungen kunstgerecht auf Leinen und Seidenstoffe zu zaubern. Das machte ihr viel Freude. Langeweile war ein Begriff, den sie überhaupt nicht mehr kannte.

Es gab ja so viele, die sie Weihnachten bedenken mußte. Vor allen Dingen Papa. Jetzt war Olly nicht mehr so unreif wie im vorigen Jahr, zu denken, daß Papa eine kleine Liebesarbeit seiner Tochter als Zudringlichkeit auffassen könnte. Sie versuchte, das Kissen für seinen Schreibsessel so geschmackvoll als möglich zu sticken.

Die Geschwister durften dieses Jahr ebenfalls nicht leer ausgehen. Rudi, der dem Briefschreiben abhold war, und von dem nur ab und zu fidele Bierkarten eintrafen, erhielt eine Briefmappe. Für Senta, die kleine Eitelkeit, hatte Olly heimlich in ihren Mußestunden einen weißen Sonnenschirm in Madeirastickerei gearbeitet, sie war in den letzten Wochen jeden Tag eine Stunde früher aufgestanden, um fertig zu werden. Herbertchen bekam eine gehäkelte Sportmütze für die Eisbahn.

Auch Kätchen Lehmann wurde nicht vergessen. Trotz der Trennung hielten die Freundinnen getreulich zusammen. Am Ersten eines jeden Monats schrieb Olly, und am Fünfzehnten antwortete das flachshaarige Kätchen. So blieb man im Zusammenhang. Ollys Briefe machten die gutherzige Freundin von Mal zu Mal froher, sie erkannte daraus deutlich die günstige Wandlung, die mit Olly vorging. Sie selbst war eine eifrige Seminaristin geworden. Kätchen mußte ganz besonders bedacht werden. Olly stickte ihr eine Sommerbluse in Schweizer Art, wie man sie so viel in Lausanne sah.

Auch für Fräulein Richter wurde natürlich mit dem größten Eifer gestichelt. Olly, die bisher noch kein Mensch dazu bekommen hatte, sich einmal photographieren zu lassen, tat es für die geliebte Lehrerin von selbst. Fräulein Richter sollte sie nicht vergessen, wenn sie wieder daheim war.

Als sie das Bild erhielt, wagte sie nicht, es aus dem Papier zu nehmen. Ihr Herz klopfte vor Erregung bis in den Hals hinein. Und als sie sich dann endlich entschloß, es anzuschauen, machte sie ein geradezu entsetztes Gesicht. Das war ja eine andere, bloß nicht sie, Olly Hildebrandt! Ein wunderhübsches Mädchen blickte sie aus dem Bilde an, nein, so anmaßend konnte sie unmöglich sein und dies als ihre Photographie verschenken. Lieber mochte der Rahmen, den sie dazu gearbeitet, unbenutzt bleiben. Aber die anderen fanden das Bild so sprechend, so glänzend getroffen, daß Olly nicht mit ihrer Absicht durchdrang.

»Weißt du, Olly,« sagte Senta, mehr ehrlich als taktvoll, »du bist schön dumm, daß du nur dies eine Bild hast machen lassen. Ich hätte überall mein holdes Konterfei hingeschickt, vor allem nach Hause, die hätten Mund und Nase aufsperren sollen, wie anständig du jetzt aussiehst. Und Wolfgang hättest du auch eins schicken können, dann hätte er gewiß nicht mehr gesagt . . .«

»Schweig!« unterbrach Olly sie brüsk. Senta sah bei dem jetzt ungewohnten Ton ganz erstaunt auf. Nanu, wollte Olly etwa wieder eklig werden?

Es war eines Abends, kurz vor dem Fest. Man saß am offenen, knisternden Kaminfeuer und legte die letzte Hand an die Weihnachtsarbeiten. Nur ein kleiner Kreis der Zöglinge war versammelt, die meisten waren über die Weihnachtsferien heimgefahren.

Auch der Kommerzienrat hatte seinen Töchtern, trotz der weiten Reise, das Nachhausekommen freigestellt. Aber Olly hatte Senta himmelhoch gebeten, doch lieber in der Pension zu bleiben, es war, als ob sie geradezu Furcht davor hatte, heimzukommen. Die jüngere Schwester hatte ihr schließlich den Gefallen getan.

»Sag', Olly«, wandte sich Fräulein Richter, die eben Sentas Teedecke für die neue Mutter, die leider erst zur Hälfte fertig war, begutachtete, »könntest du Senta nicht an ihrer Arbeit helfen? Dann schenkt ihr sie beide zusammen, oder hast du schon etwas anderes vorbereitet?« Fräulein Richter wußte sehr wohl, daß Olly es noch nicht hatte über sich gewinnen können, auch für die neue Mutter eine Arbeit zu machen. Das junge Mädchen errötete denn auch bis an den dunklen Scheitel. Sie schüttelte nur den Kopf, aber sie sah Fräulein Richter dabei nicht an. Nein – für Papas zweite Frau machte sie keinen Stich!

»Schade, daß man die schönen Schwäne jetzt gar nicht mehr draußen auf dem See sieht«, sagte Fräulein Richter harmlos, als ob sie ein neues Gesprächsthema anschnitte.

Olly verstand ihren Hinweis.

»Ich könnte ja Senta helfen – ohne – ohne daß wir die Arbeit zusammen schenken«, vermochte sie schließlich einzuräumen.

»Nein, Kind, du bist selbst viel zu ehrlich dazu, um deine Schwester zu einer Täuschung zu verleiten.« Zum erstenmal war Fräulein Richter mit Olly nicht zufrieden.

Olly litt darunter, aber so schnell konnte sie sich nicht bezwingen. Dazu war sie trotz ihrer Jugend ein zu gefestigter Charakter. Doch am nächsten Tage griff sie stillschweigend nach der unvollendeten Deckenecke. Fräulein Richter nickte ihr aufmunternd zu.

»Es soll ein Fest der Liebe sein, Olly!« sagte sie leise, nur für ihr Ohr bestimmt.

Ein Fest der Liebe – die Worte wollten Olly nicht aus dem Sinn. Hatte sie nicht noch mehr gutzumachen? Bei dem, der ihr voriges Jahr etwas Liebes hatte antun wollen, das sie schroff zurückgewiesen? Für den sie auch zum Geburtstag kein gutes Wort gefunden?

Senta hatte, wie alljährlich, auch diesmal für Wolfgang Steinhardt eine Kleinigkeit gearbeitet: eine Zigarettentasche, trotzdem er so gut wie gar nicht rauchte. Herrgott, was konnte man solchem Herrn auch schenken!

Alle, selbst die neue Frau des Hauses, für die Olly doch nichts weniger als Sympathie hegte, würde sie zu Weihnachten bedenken, und nur er, der sicherlich den Heiligabend wie alljährlich in ihrem Familienkreise zubrachte, sollte leer ausgehen? Zurückgesetzt werden, ausgeschlossen sein? Sie wußte doch, wie weh das tat.

Und ein Fest der Liebe sollte es sein . . . als Olly so weit mit ihrem Grübeln und ihrer Unentschlossenheit gekommen, war das Schwanken zu Ende. Sie ließ sich aus grauem Leinen eine Mappe anfertigen, darauf stickte sie mit roter Seide »Maschinenmodellzeichnungen«. Da arbeitete sie gleichzeitig für ihre lieben Maschinen.

Diesmal wurde es kein kühler Dank. Wolfgang Steinhardt schrieb von Herzen erfreut über das Zeichen der früheren freundschaftlichen Gesinnung, welches den Ehrenplatz auf seinem Arbeitstisch bekommen, daß Olly sich recht schlecht vorkam. Wie lange hatte sie ihn, der so reuig um Verzeihung gebeten, darauf warten lassen!

Noch ein Dankesschreiben kam. Von der neuen Mutter. Olly hatte bisher niemals an sie geschrieben, immer nur »Lieber Papa!« über ihre Briefe gesetzt, und zum Schluß »viele Grüße an alle« gesandt. Dadurch umging man so schön jede Anrede.

Nun schrieb die neue Mutter, wie sehr sie sich über die Arbeit ihrer Töchter gefreut habe. Das gab Olly wieder einen Stich ins Herz, es kam ihr wie ein Verrat an ihrer verstorbenen Mama vor. Aber mit Fräulein Richter wagte Olly nicht darüber zu sprechen, sie wußte ganz genau, wie deren Antwort ausfallen würde.

Trotzdem der Weihnachtsabend wunderhübsch und gemütlich verlaufen war und überreiche Gaben gebracht, hatte Olly sich heimgebangt. Wonach, das wußte sie selbst nicht zu sagen. Sie war doch dieses Jahr viel froher gewesen, als im vergangenen! Und dennoch . . .

Nun waren die Feiertage vorüber, die Wandervögel kehrten zur Pension zurück, der Ernst des Werkeltages löste wieder die Festtagsstimmung ab. Das heißt, wenn man siebzehn Jahre alt ist, bedeutet eigentlich jeder neue Tag ein Fest, und von Ernst war, abgesehen von den Schulstunden, wo auch noch gerade genug Allotria getrieben wurde, in der Pierreschen Pension nicht viel zu merken. Und als eines schönen Tages auch noch über Nacht ganz leise und unhörbar der Winter von den Schneebergen herabgeschritten kam, und das ganze Tal am Morgen, wie ein großer Kuchen überzuckert, dalag, gab es des Jubels in »Mon repos« kein Ende.

Die Rodelschlitten, die auf dem Boden, von grauem Spinnweb überzogen, träumten, wurden aus ihrer Verborgenheit hervorgeholt. Lachende Mädchengestalten, die Sportmütze unternehmungslustig ins Haar gedrückt, zogen sie die beschneiten Hügel hinauf.

Juchhei – gab das eine Lust, wenn eine nach der anderen zu Tal sauste, und wer auf der Nase lag, weich gebettet im Schnee, lachte am meisten.

Olly bekam der Aufenthalt in der frischen Winterluft vorzüglich. Sie blühte wie eine Rose. Ihr schönheitsdurstiges Auge schwelgte jetzt in der weißglitzernden Herrlichkeit des Schneereiches.

Aber ach – eines Morgens war die ganze schlohweiße Pracht wie weggepustet. Droben aber, am zartblauen Himmel, stand die Frühlingssonne und lachte die mit ihren Schlitten zu Berg ziehenden Mädel weidlich aus.

Das Zeitenrad, das Olly so gern angehalten, rollte unaufhaltsam weiter, schon begannen die Hotels am Genfer See wieder zur Saison zu rüsten. Das Pensionsjahr der Hildebrandtschen Schwestern ging zu Ende.

Kurz vor ihrer Heimkehr kam ein inhaltsvoller Brief, der Olly ganz ihrer Fassung beraubte.

Sie hatten noch ein Brüderchen bekommen!

Niemals hatte Olly an die Möglichkeit gedacht, daß sich ihr Familienkreis vergrößern könnte – und jetzt gab es da plötzlich in der Rokokovilla ein fremdes kleines Wesen, das Heimatsrechte dort hatte.

Ein Kuckucksei – seit langer Zeit hatte Olly nicht solch ein Gefühl der Bitterkeit gehabt. Wieder etwas Neues, das Anspruch auf Papas Liebe und Zärtlichkeit machte, wie wollte er da wohl noch etwas für sie übrig haben?

»Olly, ich glaube, du freust dich gar nicht,« meinte Senta erstaunt, »ich finde die Sache sehr ulkig. Nur quaken darf das Wurm nicht!«

Die Schwester antwortete nicht. Olly schämte sich, etwas von ihren häßlichen Gefühlen verlauten zu lassen. Und doch vermochte sie nicht, dieselben zu bezwingen.

Sogar Fräulein Richter gelang es nicht, das Empfinden der Abneigung, das Olly von der neuen Mutter auch auf das unschuldige kleine Brüderchen übertrug, ganz zu zerstreuen. Zu ihren mahnenden Worten, daß der Kleine ein Bindeglied sein solle zwischen dem Herzen seiner Mutter und dem seiner großen Schwester, schüttelte sie ablehnend den Kopf.

Und dabei spannen sich die Tage jetzt mit einer geradezu unglaublichen Schnelligkeit von der Jahresspule. Schon sah man das Ende des Schicksalsfadens, der Olly und Senta an den Genfer See knüpfte. Der letzte Tag war herangenaht. Die Koffer standen gepackt.

»Komm, Olly, wir wollen noch einen Spaziergang zu Zweien machen«, schlug Fräulein Richter, der das Scheiden von dem ihr lieb gewordenen Mädchen ebenfalls schwer wurde, vor.

Olly, die heute den ganzen Tag über in Abschiedsstimmung war, schob dankbar ihren Arm in den der verehrten Lehrerin. Fräulein Richter schlug den Weg zur Rebenbank ein. Der junge Wein begann gerade zu sprießen.

»Siehst du, Kind, hier hat es angefangen, und hier soll es aufhören. Wenigstens räumlich. In deinem Herzen und Sinnen, hoffe ich, wirst du noch manch liebes Mal bei uns am schönen Genfer See weilen.« Die junge Lehrerin zog Olly zu sich auf die Rebenbank.

»Oh, Fräulein Richter,« Olly barg das Gesicht im Trennungsweh an ihre Schulter, »ich wünschte, ich dürfte immer hierbleiben.« Ihre Tränen flossen, aber das waren andere als die, welche sie im vorigen Jahre hier geweint.

»Kind, ein jeder Mensch gehört in den Wirkungskreis, in den unser Herrgott ihn gestellt hat.«

»Ach, hätte ich einen Wirkungskreis – aber was soll ich zu Hause? Überflüssig werde ich dort sein wie früher, und dadurch wieder auf schlechte Gedanken kommen.« Ollys Furcht vor dem Heimkehren formte sich zu Worten. »Studieren durfte ich nicht, weil ich zu faul und zu dumm war; und einen Beruf ergreifen – ja, wenn ich nicht die Tochter vom Kommerzienrat Hildebrandt wäre! Wie gern würde ich den Reichtum, den ganzen klingenden Plunder hergeben – – –«

»Kind, Olly, du bist außer dir! So habe ich dich ja bis auf das eine Mal hier nicht wieder gesehen. Ich glaubte schon, mein Entlein wäre ein Schwan geworden! Aber das graue Entenfederkleid kommt noch allenthalben unter dem neuen weißen Gefieder zum Vorschein.«

Olly senkte traurig den Kopf.

Da faßte Fräulein Richter ihre beiden Hände.

»Schau, Kind, es liegt nur an dir, deinen Reichtum, über den du dich beklagst, zu einem Segen für Viele werden zu lassen. Es gibt so manchen Weg, auf dem ein junges Mädchen aus begütertem Hause, das keinen Beruf ergreift, ihre Kräfte und ihre Zeit edel verwerten kann. Hast du niemals etwas von sozialer Frauenhilfe gehört? Da gibt es Kleinkinder-Krippen und Kindergärten, wo weiche Hände und junge, freundliche Gesichter gebraucht werden. Volksküchen, Waisen- und Armenfürsorge, wo du dich nützlich machen kannst. Altersversorgungen und Asyle, in denen solch junges Menschenkind, das für die alten Leutchen ein Stündchen zum Vorlesen übrig hat, mit Freuden begrüßt wird. Du brauchst dich nicht überflüssig zu fühlen, du am wenigsten, Olly. Hast du mir nicht von eurer ausgedehnten Fabrik mit ihren vielen hundert Arbeitern, für die du besonderes Interesse zu haben scheinst, erzählt? Nun wohl, kümmere dich um eure Arbeiter, schau nach ihren Kindern, die vielleicht ohne Aufsicht bleiben, wenn die Eltern beide in der Fabrik tätig sind. Hilf ihre Kranken pflegen, Not und Elend nach Kräften steuern. Da hast du einen edlen Lebenszweck vor dir!«

Olly blickte hinaus auf den bläulichen See. Goldene Bilder der Zukunft zogen da vor ihrem Auge vorüber. Das, was sie selbst schon öfters gefühlt und gewünscht, das hatte Fräulein Richter mit ihrem reiferen Denken in die richtigen Bahnen gelenkt. Ja, sie wollte – sie wollte den Armen zum Segen werden!

»Sie sind mein guter Engel, Fräulein Richter,« sagte sie warm, »wenn ich Sie nur nicht morgen verlassen müßte!«

»Ein Engel kann uns auch unsichtbar umgeben, Olly«, lächelte die junge Lehrerin. »Sei meiner Worte eingedenk, und du wirst meine Gegenwart empfinden. Noch eins, Kind – ein Anliegen habe ich noch zum Schluß – willst du mir meine letzte Bitte erfüllen?«

»Jede!« sagte Olly ohne Besinnen.

»Nun, so komme deiner neuen Mutter nicht mit feindseliger Abneigung entgegen. Versuche sie lieb zu haben und auch das Brüderchen!«

»Das – das kann ich nicht!«

»So hast du mich auch nicht lieb, Kind«, sagte Fräulein Richter traurig. »Es ist mein innigster Wunsch für dich, ich kenne dich vielleicht besser als du dich selbst, und weiß es, daß du nicht eher froh und zufrieden in deinem Elternhause werden wirst!« Sie hatte Tränen im Auge.

»Ich werde es versuchen. Fräulein Richter, weil Sie es wünschen!« Olly zog die Hand, welche die ihre umfaßt hielt, errötend an die Lippen.

Da hob die Lehrerin das junge Gesicht zu sich empor und drückte einen Kuß auf den jetzt purpurroten Mund.

»Brav, mein Mädel – nun ist der Schwan bald fertig!«

Auf der Rebenbank, die ihr schon einmal zum Segen geworden, ward Olly heute wiederum der richtige Weg gewiesen. Diesmal der Lebensweg.

Am nächsten Morgen gab es einen tränenreichen Abschied. Von dem lieben Haus und den lieben Menschen, unter denen sie selbst ein neuer Mensch geworden war.

»Ich will bei allem, was ich tue, an Sie denken, dann weiß ich, ob es das Rechte ist!« flüsterte Olly noch ganz zuletzt ihrem lieben Fräulein Richter zu. Diese sah mit schwimmenden Augen dem enteilenden Zuge nach.

Bis Heidelberg, wo wieder Station gemacht wurde, waren die Tränen längst getrocknet. Zwei frohe Mädchengesichter lachten Rudi, dem schmucken Bruder Studio, der sie auf dem Bahnhof in Empfang nahm, entgegen.

Aber auch der lachte übers ganze Gesicht. Ja, da soll einer wohl nicht lachen, wenn zwei so bildhübsche Mädel plötzlich vor einem auftauchen, und noch dazu seine Schwestern sind! Daß die Senta ein netter Käfer war. das hatte er ja immer gewußt, aber Olly – »Bist du's denn wirklich, Mädel?« Er vermochte gar nicht, an diese Umwandlung zu glauben.

»Leibhaftig!« Olly lachte – tatsächlich, sie lachte!

Wie ein Weltwunder staunte Rudi die Schwester an.

Jetzt aber schob Senta ihr zierliches Persönchen vor die sie fast um Kopfeslänge überragende.

»Du, Rudi, jenseits des Berges wohnen auch noch Leute!« sagte sie mit niedlichem Schmollen.

Da packte Rudi die Schwarze rechts und die Blonde links, so zog er stolz, untergeärmelt, durch die alte Musenstadt. Hei – wie flogen die bunten Studentenmützen in die Luft, wo der junge Mediziner mit seinen hübschen Begleiterinnen auftauchte. Jetzt brauchte sich Rudi nicht mehr Ollys zu schämen, ihre aparte Erscheinung zog die bewundernden Blicke der Vorübergehenden fast noch mehr auf sich wie das rosige Puppengesicht des Blondchens.

Abends nahm Rudi sie mit zur Stammkneipe Perkeo. Er mußte seine Schwestern doch mit den Kommilitonen bekannt machen. Farbenfrohe Mützen, wohin man auch blickte, darunter frohe, junge Gesichter mit kecken Schmissen. Hier war Senta mehr in ihrem Element als Olly. Sie nahm die Huldigungen der Rotgrünweißen, der zu Rudis Burschenschaft Gehörenden, wie eine kleine Königin in Empfang. Das war doch etwas anderes, als Pensionsmädel zu spielen.

Olly dagegen kamen die schönen Redensarten der jungen Herren banal vor, sie war trotz allem erlangten Jugendfrohsinn doch älter als ihre achtzehn Jahre.

Nun hieß es auch von Rudi wieder scheiden. Ein stattlicher Kreis von rotgrünweißen Mützen gab den beiden Schwestern das Geleit. Die ganze Verbindung war an der Bahn erschienen. Es regnete Blumensträuße.

Und dann zogen sich gegen Abend wieder märkische Sandflächen längs des schwarzen Schienenbandes hin, Lichter strahlten auf, wie ein Riesennetz von gelblichen Leuchtkörpern spann es sich aus – ratternd fuhr der Zug in die Berliner Bahnhofshalle.

Olly klopfte das Herz zum Zerspringen. Sie zitterte vor dem Moment des Wiedersehens. Sollte sie Papa von selbst einen Kuß geben?

Aber als sie ihren Vater jetzt auf dem Perron stehen sah, da gab es keine Überlegung mehr für sie. Nur ein wehes Gefühl durchzitterte Olly.

War das wirklich ihr schöner, stattlicher Papa, den sie in voller Jugendkraft vor einem Jahr verlassen?

Die Haltung war nicht mehr straff und stramm wie einst, das Gesicht bleich und müde, das blitzende Auge matt, und durch den blonden Schnurrbart zogen sich lichte Fäden.

Beide Arme schlang Olly in schmerzlicher Aufwallung um den Hals des Gealterten: »Papa – lieber Papa!«

Der sah mit großen, erschreckten Augen auf das schlanke Mädchen.

»Eugenie« – sagte er tonlos, und noch einmal »Eugenie!« Keinen Blick verwandte er von dem zarten Antlitz unter dem tiefschwarzen, weichen Scheitel. Vergeblich schmiegte sein Liebling Senta den Blondkopf an seinen Arm.

»Ich bin's ja, Papa, die Olly«, sagte das junge Mädchen mit schüchternem Lächeln.

»Ja, ja, Olly –« der Kommerzienrat fuhr sich über die Stirn. »Ich glaubte, die Toten kämen wieder, wie bist du deiner Mutter ähnlich geworden, Kind!«

Das war der schönste Willkommensgruß, der Olly in der Heimat werden konnte.

Nun kam auch Senta zu ihrem Recht. Der Kommerzienrat schüttelte mit Gewalt den Bann ab, der auf ihm lastete. Und das übermütige, rosige Ding, das noch nicht einmal bemerkt hatte, daß der Vater ein anderer geworden, wußte im Augenblick alle grauen Schatten der Vergangenheit zu scheuchen. Das Plappermäulchen stand nicht still, tausend Fragen tat es auf einmal.

Olly war schweigsam während der Heimfahrt. Sie sah immer wieder auf den ersten Schnee in Papas blondem Haar. Da lag die weiße Rokokovilla wieder vor ihr – als ob sie gar nicht fort gewesen wäre. Und doch – anders war es hier geworden.

Wie riesengroße, schwarze Zeigefinger wiesen die Fabrikschlote in das Abendgrau. Olly nickte ihren Freunden einen stillen Gruß zu.

Dann preßte sie tapfer beide Hände auf das klopfende Herz. In den bläulichen Lichtschein der elektrischen Bogenlampe trat in einem rosa Hausgewande die neue Frau Kommerzienrat. Ihre zweite Mutter.

»Ich will, Fräulein Richter – ich will!« sprach Olly unhörbar, ohne daß sie die Lippen bewegte. Dann trat sie mit möglichst freundlichem Gesicht auf die ehemalige Hausdame, die Senta im Arme hielt, zu.

»Guten Abend«, sagte sie leise. Mehr wollte nicht über ihre Lippen. Aber die neue Mutter faßte herzlich ihre beiden Hände.

»Olly, ist es denn die Möglichkeit – eine richtige junge Dame bist du geworden – jetzt haben wir zwei erwachsene Töchter«, der Mutter Blick glitt bewundernd an Ollys schlanker Gestalt herab. Wenn sich das Mädel auch innerlich so zu ihrem Vorteil verändert hatte, wie äußerlich, konnte man zufrieden sein.

Herbertchen kam wie ein Pfeil aus einer Tür geschossen und umarmte Senta stürmisch mit Tintenfingern. Vor Olly blieb er mit verdutztem Gesicht stehen.

Da beugte sich diese nieder und küßte den vor Staunen offenen Jungenmund.

»Das ist die Olle?« Herbertchen, der inzwischen ein hoffnungsvoller Quintaner geworden, fand sich nicht mehr in der Welt zurecht. Er hatte sich darauf gefreut, daß die Hänseleien mit der stets unfreundlichen großen Schwester jetzt von frischem beginnen würden. Und nun stand da eine erwachsene junge Dame vor ihm, ein schönes Fräulein, und küßte ihn sogar!

Rührend war Murks in seiner Freude über das Wiedersehen. Schwanzwedelnd sprang er von einer Schwester zur andern, als wüßte er, daß die Entfremdung zwischen den beiden ausgeglichen.

Senta, der Wirbelwind, war bereits in der Kinderstube. Sie mußte das neue Brüderchen bewundern.

Da lag das winzige Etwas, die rosigen Fäustchen gegen den Kopf gepreßt, in seinem mit duftigem Mull verhängten Wiegenkorb. Senta jubelte so laut bei seinem Anblick, daß es die Augen aufschlug und den Mund jämmerlich verzog.

Olly folgte langsam an Papas Seite. Jetzt kam das Schwerste für sie. Als aber das mauzende dünne Stimmchen an ihr Ohr klang, wurde es ihr mit einem Male ganz merkwürdig zumute. Ein hilfloses, kleines Wesen war das, und dem brachte sie Abneigung entgegen?

Papa griff nach dem weinenden Bündel, nahm es im Kissen heraus und legte es mit einem sprechenden Blick, der viele ungesagte Worte in sich schloß, der neben ihm stehenden Ältesten in den Arm.

Da bedurfte es nicht mehr der Erinnerungen an Fräulein Richters Bitte. Als Olly das unschuldige Brüderchen an ihrem Herzen hielt, da quoll nichts als warme Zärtlichkeit zu dem Kleinen in ihrer weichen Seele auf. Sie neigte sich und drückte einen leisen Kuß auf eines der winzigen Fäustchen.

Dann legte sie das Brüderchen mit einem tiefen Atemzug in die Arme seiner Mutter zurück.

»Wie er dir gleicht – Mama!« sagte sie leise.

Zum erstenmal gebrauchte sie den Namen, den sie nie wieder auszusprechen geglaubt hatte.



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