Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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10. Kapitel.

In Pension

An die Tore Berlins pochte der Frühling.

Schüchtern und zag, als sei er bang, daß man ihm nicht öffne.

Da drin in der Millionenstadt hatte man auch anderes zu tun, als auf das bescheidene Klopfen des sonnenhaarigen Frühlingskindes zu lauschen. Da jagte und raste das Leben, da sausten die Autos, ratterten die Lastwagen, lärmte die Gegenwart. Und drüber her durch die weiche Märzluft zog langsam und feierlich die Zukunft – das Luftschiff.

Danach schauten die Menschen aus dem ewigen Hasten und Vorwärtsdrängen, nicht aber nach den schon geborstenen Knospen am schwellenden Busch aus dem häuserumstandenen Platz. Nicht nach dem fürwitzig das grüne Näschen in die Luft steckenden Grashälmchen, nach den zartfingerigen jungen Kastanienblättlein, die sich wie verloren in der großen Steinwüste Berlin vorkamen. Darauf zu achten, fand keiner Zeit.

Drum zog es der kleine Lenzesgott vor, seine Kunst lieber draußen vor den Toren zu zeigen. Auf das graue, sandige Baugelände zauberte er über Nacht lichtes Frühlingsgrün, Maßliebchen und Himmelsschlüsselchen. Längs des Stachelzaunes, der die Arbeiterwelt von der des Kommerzienrats trennte, streute er mit vollen Händen Schneeglöckchen, und unter dem Reinettenbaum lugten blauäugige Veilchen hervor.

Olly stand vor diesen ersten Frühlingsgrüßen mit Augen, die so gar nicht zu all der jungen Pracht passen wollten. Ihr, welche die Blumen so liebte, tat das Werden und Keimen in der Natur heute weh. Olly nahm Abschied.

Morgen sollte es fortgehen vom Vaterhaus, zum erstenmal in die große Welt hinein. Weit fort nach Lausanne, in ein Schweizer Pensionat.

Papa mochte es Fräulein Arnold nicht zumuten, als junge Frau gleich zwei fast erwachsene Töchter neben sich im Hause zu haben. Er wollte sich das Glück einer zweiten Ehe nicht durch die ständigen Reibereien zwischen Olly und der neuen Mutter verstören lassen. Schliff fehlte Olly sowieso noch, und Senta war glücklich, vor ihren Freundinnen mit einer Schweizer Pension renommieren zu können.

Das Verhältnis zwischen Olly und Fräulein Arnold hatte sich nach jener inhaltsschweren Mitteilung Papas nicht gebessert – im Gegenteil. Ollys bisher auflehnende Gefühle gegen die Hausdame bekamen jetzt ein geradezu feindseliges Gepräge. Sie sah nicht die künftige Mutter in ihr, wie Papa das verlangte, sondern die Fremde, welche ihre eigene heißgeliebte Mama aus dem Hause und dem Herzen des Vaters verdrängt hatte.

Sie fand weder das traute Wort »Mutter«, wie die übrigen Kinder, welche die Nachricht mit Jubel aufgenommen hatten, noch das »Du«, das den andern so leicht und selbstverständlich über die Lippen ging. Trotz Papas Stirnrunzeln blieb sie beim steifen »Sie«.

Zum Glück reiste Fräulein Arnold noch auf einige Wochen in ihre Heimat, und das unerquickliche Beisammensein fand dadurch ein Ende.

Kätchen Lehmann hatte der Freundin so recht herzinnig Glück gewünscht: »Wie schön, Olly, daß du nun auch eine Mutter hast!«

Olly sah das flachshaarige Mädchen mit großen Augen an. Ihr Mund öffnete sich schon zur Gegenrede aber sie schloß die Lippen wieder. Nein, Kätchen verstand sie doch nicht ganz, in die tiefsten Tiefen ihrer Seele konnte sie ihr nicht folgen. Sie beurteilte alles von dem sonnenbeschienenen warmen Plätzchen aus, auf das der himmlische Gärtner sie selbst gepflanzt.

Seit gestern hatte nun auch die Schule ihre Pforten hinter den Hildebrandtschen Schwestern geschlossen. Mit heißen Tränen hatten sie alle, die Blonden und Braunen, von der altvertrauten Stätte ihrer Kindheit Abschied genommen, von den Lehrern und all den Mitschülerinnen.

Und wieder stand eine allein in der bewegten Mädchenschar, tränenlos. Olly ging der Abschied von der Schule nicht nahe, war sie ihr doch oft genug eine Quelle bitteren Zurückgesetztseins gewesen. Sie hielt das Abgangszeugnis, das seinen Vorgängern an Güte nicht viel nachstand, gleichgültig in der Hand. Gleichgültig reichte sie den Damen und Herren die Hand, die versucht hatten, die Grundpfeiler des Guten und Schönen in die spröde Mädchenseele zu senken, wenn sie auch nicht immer nach dem richtigen Werkzeug dabei gegriffen. Gleichgültig sagte sie den Gefährtinnen Lebewohl.

Nur einmal stieg es ihr heiß in die Augen, als es nun auch ans Abschiednehmen mit Kätchen ging. Ein ganzes Jahr lang sollte die Trennung währen, wenn sie wiederkam, war Kätchen längst auf dem Seminar, wo sie sich zur Lehrerinprüfung vorbereitete. Dort würde sie wohl neue Freundinnen finden, und . . . »vergiß mich nicht, behalte mich lieb, wenn ich auch solch ein Scheusal bin!« flüsterte Olly mit unterdrücktem Schluchzen plötzlich in Kätchens rosiges Ohr.

Die drückte die Freundin zärtlich an sich.

»Du bleibst stets die Aller-, Allerbeste für mich! Schreibe mir, ganz ausführlich, hörst du? Und wenn du wiederkommst, paß auf, dann ist alles gut!« Hoffnungsvoll überzeugend klang das letzte, so weich und verheißend wie der Frühlingswind, der gleich darauf ihre heiße Schläfe strich.

Heute galt es den schwersten Abschied. Von daheim, von ihrer Fabrik. Denn morgen in aller Frühe ging es fort, die Reise war weit, Rudi fuhr bis Heidelberg mit den Schwestern zusammen.

Noch einmal schritt Olly durch die vielen Arbeitssäle, in denen glühender Funkenregen seltsame Lichter und Reflexe auf bleiche Gesichter warf. Das Surren und Schnurren, Schnaufen und Ächzen ihrer lieben Maschinen sang ihr das Abschiedslied.

Oh, daß sie ihren Wunsch, in der Fabrik einmal ihre Lebensaufgabe zu finden, hatte zum Schweigen bringen müssen!

Hier und dort blieb Olly stehen. Schaute auf das Formen und Werden in den emsigen Händen, sprach ein freundliches Wort mit einem weißhaarigen Alten, nickte einem rotbäckigen jungen Dinge, deren blühende Jugend der Fabrikdunst noch nichts hatte anhaben können, einen Abschiedsgruß zu.

Den Rückweg zum Hause nahm sie am Reinettenbaum vorüber, der damals die schweren Stunden mit ihr durchlebt.

Aber unter dem noch kahlen Baum schimmerte es veilchenblau – die erste Frühlingsbotschaft!

Nach Fabrikschluß kam Wolfgang Steinhardt auf einen Augenblick in die Rokokovilla herüber, um den Hildebrandtschen Kindern Lebewohl zu sagen.

Der Abschied von Rudi war kameradschaftlich herzlich, der von Senta lachend, neckend und scherzend, wie auch ihr Beisammensein stets.

»Leb' wohl, Olly, mög' es dir gut gehen!« Jetzt trat er zu der ihre Tasche packenden Ältesten.

Ollys Hand zuckte. Und ehe ihre Überlegung die vorschnelle Hand zurückgehalten, streckte sich dieselbe dem jungen Ingenieur entgegen.

»Hier habe ich den jungen Damen etwas Reiselektüre mitgebracht«, wandte er sich noch einmal an Senta.

Die nahm mit freudestrahlendem Dank die große Bonbonniere in Empfang.

Olly vermochte sie nicht zurückzuweisen, wie sie es gern getan hätte. Wolfgang hatte ihr die Möglichkeit dazu durch den gemeinsamen Besitz mit der Schwester diplomatisch genommen.

Dann stand sie zum letztenmal oben auf ihrem blumenleeren Balkon und schaute durch tränenverschleierte Augen auf die Heimat.

Über dem schwarzhaarigen Mädchenhaupt schoß es in bogenartigem Fluge dahin. Die ersten Schwalben – die Künder des nahenden Lenzes!

Das silbergraue Automobil hielt vor der Rokokovilla. Auf der einen Seite schmiegte sich Senta neben Papa in die roten Lederpolster. Sie hatte, um ihre Würde als schulentlassene junge Dame zu dokumentieren, einen weißen Schleier um das neue Reisehütchen geschlungen.

In der gegenüberliegenden Ecke saß stumm neben dem mit dem Vater plaudernden Bruder Olly. Ihr Auge irrte von der im Sonnenlicht grellweißen Villa zu den rauchgeschwärzten Schornsteinen der Fabrik. Zu den grauen Fenstern, hinter denen schon zu dieser frühen Morgenstunde das Leben, die harte, zwingende Arbeit pulsierte. Wie würde es sein, wenn sie wiederkehrte?

Tränen verdunkelten Ollys Blick. Sie sah nicht mehr den schwanzwedelnden Murks neben dem taschentuchwedelnden Herbertchen auf der Freitreppe, dem einzigen der Kinder, das im Hause blieb. Sie wußte nicht, daß das Auto längst mit ihr durch die noch staubfreie Morgenluft jagte, daß sich ihr unterdrücktes Schluchzen mit seiner schrill gellenden Hupe vermischte.

Erst als Rudis Hand ihr beruhigend die Schulter klopfte, als Papas Stimme halb wohlwollend, halb ungeduldig an ihr Ohr drang: »Mädel, du tust doch gerade, als ob es zur Hinrichtung ginge – es geschieht doch zu deinem Besten!« wischte sie sich beschämt die Tränen von den blassen Wangen.

Senta sah mit überlegenem Lächeln auf die Weinende.

Der Kommerzienrat stand draußen vor dem Coupé zweiter Klasse des nach Heidelberg gehenden D-Zuges. Er schüttelte Rudi väterlich die Hand: »Mach' mir weiter Freude, mein Junge!«

Senta hüpfte noch einmal die eisernen Stufen hinab und hing dem Vater am Hals. Der wurde weich, als er seinen Liebling zum letztenmal im Arm hielt.

Dann beugte er sich zu der mit scheuen Augen abwartend danebenstehenden Olly und hauchte einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn.

»Hoffentlich höre ich auch von dir nur Gutes!« Das klang ernst mahnend.

»Grüße unsere neue Mama von uns!« rief Senta, bei der die Abschiedsrührung nicht lange vorhielt, schon wieder lachend vom geöffneten Fenster herab.

»Ja, ach ja!« Rudi schämte sich ein wenig, daß er das bisher versäumt.

»Nun, Olly, hast du keinen Gruß für deine neue Mutter?« fragte der Vater vorwurfsvoll, da seine Älteste mit finsterem Gesicht schwieg.

»Ich habe keine neue Mutter – Mama ist tot!« Hart fielen die Worte aus dem jungen Munde.

Sah Papas jugendlich schönes Gesicht nicht mit einem Male alt und bekümmert aus? Olly konnte es nicht mehr erkennen, denn schon rollte der Zug mit ohrenbetäubendem Lärm aus der Halle. Oder waren die wieder emporsteigenden Tränen daran schuld? Warum, oh, warum hatte sie Papa, den sie so lieb hatte, noch zu guter Letzt diesen Schmerz zugefügt?

Die rötlich grauen Stämme der märkischen Kieferwaldungen flogen vorüber. Schwarz standen die nadligen Wipfel gegen den jungen Morgenhimmel. Der stülpte sich wie eine durchsichtig blaue Glasglocke über die Landschaft. Nur hier und dort waren luftige Lämmerwolken gleich Watteflöckchen darüber hingepustet.

Die wechselnden Bilder da draußen, die neue Umgebung im D-Zuge und vor allem die Anwesenheit von Bruder Rudi, der ihr ermunternd zunickte, wirkte allmählich tröstend auf Olly. Schließlich ganz verleugneten sich ihre siebzehn Jahre doch nicht! Solch eine erste, selbständige Reise hat einen besonderen Reiz für junge Menschen.

Senta hatte sich längst mit Wolfgangs Bonbonniere, die sie einer eingehenden Kostprobe unterzog, getröstet. Allmählich, als sie schon fast bis zum Überdruß geschmaust, fiel es ihr ein, daß Olly ja Mitbesitzerin sei. Großmütig bot sie ihr die tüchtig zusammengeschrumpften Süßigkeiten.

»Willst du nicht auch?«

»Nein, ich esse von dem Ding nichts!« Es war schade, daß Wolfgang Steinhardt, auf den sie doch eigentlich gemünzt waren, nicht diese verächtlichen Worte hatte hören können. Denn auf Senta machten sie gar keinen Eindruck, höchstens einen magenfreudigen.

Die Sonne stieg, und mit ihr die Laune der drei Reisenden. Rudi war von jauchzender, ungebundener Jugendlust, als ob das bevorstehende Studentenleben ihn schon ganz und gar gepackt hielt. Senta war stets vergnügt, und heute, wo sie einem neuen, abwechslungsreichen Pensionsjahr entgegenfuhr, besonders. Vor so viel Sonnenschein hielt auch Ollys Regenwetter nicht stand.

Mit großen Augen sah sie, wie der Thüringer Wald, der kaleidoskopartig an ihnen vorüberzog, bereits ein funkelnagelneues, grünes Frühlingsgewand trug. Rudi und Senta schmetterten gerade – man befand sich allein im Coupé – das der augenblicklichen Situation entsprechende Studentenlied: »Im Tale die Saale . . .« da öffneten sich auch Ollys zusammengepreßte Lippen, und leise, kaum wahrnehmbar, summte sie die Weise mit. Der kleine, lockere Frühlingsgott, der da draußen schon fleißig am Werk geschafft, zog auch sie in seinen Zauberkreis.

Ja, man fuhr in den Frühling hinein, in den lachenden jungen Lenz, je weiter man hinter Frankfurt nach Süden kam. Ein schneeiges und rosenrotes Blütenmeer schlug seine duftigen Wogen zu Seiten der schwarzen Bahnschienen. Kirsch- und Pfirsichblüte! Ach, und da stand ja schon der Goldregen im gleißenden, blumigen Gewand! Der Kastanienbaum dort neben dem rotmützigen Bahnwärterhäuslein hatte all seine Silberkerzen herausgestreckt. Die Syringenbüsche waren schon vom violetten Schimmer überhaucht, und der frischgrüne Anger prangte mit Tausenden von zartfarbigen Anemonen.

»Ist das bezaubernd schön!« Olly hatte das Fenster herabgelassen und sog in tiefen Zügen die würzige Luft ein, die der Taunuswind ihr zutrug.

»Ja, es ist merkwürdig, in Berlin war doch fast noch alles kahl, und hier ist die Vegetation schon so weit vorgeschritten«, meinte Rudi erstaunt.

»Na, wenn das so weiter geht mit unserer Fahrt gen Süd, wandeln wir heute abend noch unter Palmen!« lachte Senta.

Das taten sie nun nicht, wohl aber wanderten sie am Abend unter den vom Silberlichtregen des Mondes durchsickerten Bergtannen, die das alte Heidelberger Schloß umgürteten. Der herrliche, im Milchglanz des Vollmondes träumende Renaissancebau mit seinen sagenhaften Ruinen machte auf die empfängliche Olly einen überwältigenden Eindruck.

»Wie freue ich mich für dich, Rudi, daß du auf diesem schönen Fleckchen Erde leben und studieren kannst«, sagte sie und drückte in ihrer Begeisterung sogar die Hand des Bruders.

»Ja, und besonders mit all den schneidigen Couleurstudenten zusammen.« Für Senta hatte das Heidelberger Leben einen anderen Reiz.

Am nächsten Morgen hieß es auch von Rudi scheiden. Als Olly seine kräftig jugendliche Gestalt, den noch jungenhaften Kopf mit dem kurzgeschnittenen Blondhaar vom dahinrollenden Zuge aus kleiner und kleiner auf dem Bahnhofe werden sah, als er schließlich ganz in einer Wolke schwarzgrauen Dampfes verschwand, da hatte sie das Gefühl, als ob sie nun ganz verlassen sei. Sie hätte der gegenübersitzenden Senta gern die Hand hingestreckt: »Laß uns jetzt in der Fremde wenigstens schwesterlich zusammenhalten!« aber die hätte sie sicherlich ausgelacht.

Durch das lustige Neckartal, vorüber an den düsteren Schwarzwaldtannen, jetzt wälzte der deutsche Strom, der Rhein, seine grünen Wasser dahin, und dann waren sie in der Schweiz. Als kurz vor Bern plötzlich die gewaltigsten Gletscherriesen des Berner Oberlandes am Horizont auftauchten, schrie die sonst stille Olly laut auf.

»Senta – Senta!« Sie wies aufgeregt mit der Hand hinaus.

»Gott, blök' doch nicht so, ich bin doch nicht taub, was gibt's denn da draußen? Wieder eine Windmühle, ein Kuhhirt oder gar eine Gänseherde, die dich begeistert?« spottete die.

»Nun, mein junges Fräulein, wenn man die Alpen zum erstenmal erblickt, darf ein empfängliches Gemüt wohl in Begeisterung geraten«, mischte sich ein Herr, der mit ihnen fuhr, ein wenig tadelnd hinein.

Senta biß sich wütend auf die Lippen. Zum erstenmal im Leben geschah es ihr, daß man Ollys Handlungsweise recht fand und die ihrige mit stummem Vorwurf kritisierte! Wie kam überhaupt ein Fremder dazu, sie, ein erwachsenes Mädchen, zurechtzuweisen?

Sie machte ein hochmütiges Gesicht und hatte nun erst recht kein Auge für die immer klarer aufsteigende Gletscherherrlichkeit.

Gegen Abend war's, als die beiden Mädchen endlich, ziemlich gerädert von der langen Fahrt, ihr Endziel, den zwischen Lausanne und dem Hafen Ouchy gelegenen Gare Centrale, erreichten. Hier sollten sie von einer Lehrerin der Pension in Empfang genommen werden. Zur besseren Erkennung wollte die Dame ein Taschentuch in der Hand halten.

Es war reger Verkehr auf dem Bahnhof. Ängstlich hielt sich die große Olly hinter der zierlichen Senta, die mit neugierigen Augen in das Gewühl blickte. Dort, jene Dame hatte ein Taschentuch in der Hand, das mußte die Abgesandte von Madame Pierre sein.

Senta steuerte mutig auf sie los, Olly hinterdrein.

»Verzeihung, ich habe wohl das Vergnügen, mit einer Dame der Pierreschen Pension zu sprechen, unser Name ist Hildebrandt«, wandte sich Senta mit all ihrer verbindlichen Liebenswürdigkeit an die Fremde.

»Atsi«, nieste die Dame und gebrauchte ihr Taschentuch.

Senta wiederholte noch einmal ihre schöne Rede.

»Atsi«, antwortete es aufs neue.

Ratlos blickte das junge Mädchen sich um, dann begann es zum drittenmal.

Aber mit einem »Je ne comprend pas« schnitt die verschnupfte Dame, wie es schien, auch durch die Belästigung des jungen Mädchens ein wenig verschnupft, ihre Anrede ab.

Herrgott, richtig, sie waren ja in fremdem Lande, auf der Bahnfahrt war ihnen das noch nicht zum Bewußtsein gekommen, jetzt galt es, Französisch zu sprechen!

»Attention« – ein mit Koffern beladener Gepäckträger rempelte Olly an, die machte erschreckt einen Sprung in irgendeine Richtung hin, trotzdem sie den Mann überhaupt nicht verstanden.

»Nous sommes – nous sommes les filles de Monsieur Hildebrandt«, versuchte Senta in ihrer Ratlosigkeit noch einmal eine Verständigung mit der immer noch ihr Taschentuch gebrauchenden Dame.

Die schien von dieser Eröffnung weder angenehm noch unangenehm berührt. Sie machte ein so gleichgültiges Gesicht, daß das Backfischchen seine Worte mit demselben Erfolg an den danebenstehenden Automaten hätte richten können.

Selbst Sentas fröhliche Keckheit schwand, mutlos standen die beiden deutschen Mädchen in dem sie umschwirrenden Gewirr von fremden Lauten. Sie hatten niemals eine französische Erzieherin gehabt, Papa war nicht für derartigen Firlefanz. Und mit ihrem bißchen Schulfranzösisch wußte selbst Senta, die doch ganz und gar nicht auf den Mund gefallen war, hier recht wenig anzufangen.

Als Olly die jüngere Schwester so ratlos dastehen sah, erwachte ihre eigene Energie.

»Wenn Madame Pierre niemand geschickt hat, müssen wir uns eben hinfragen, wir wissen ja die Adresse.«

Aber das war leichter gesagt als getan. Ollys Französisch lag noch zehnmal mehr im argen als das von Senta. Es klang ungefähr so, als ob einer Holz hackt, abgesehen von den lustig darin wimmelnden Fehlern.

So oft sie jemand ansprach, über die ersten Worte: »Où est la maison – – –« kam sie nie. Der Betreffende hatte dann stets genug von ihrem Stotterfranzösisch und verzichtete auf die Fortsetzung.

Schließlich riet ihr jemand, sich einen Wagen zu nehmen. Daß sie auch nicht selbst daran gedacht hatten!

Eine herrliche Fahrt am Genfer See entlang machte alle ausgestandene Angst vergessen. In tiefer Azurbläue träumte der See, lustige weiße Wellenköpfchen tanzten auf seinem Spiegel. Große Dampfer zogen langsam dahin, lichte Segelboote und winzige Nachen schaukelten sich übermütig auf dem flimmernden Blau. In üppigster Fruchtbarkeit, einem blühenden Garten gleich, umrahmten ihn die Uferhänge, an denen der Wagen dahinrollte. Hellfarbige Häuschen waren kokett in grüne Weinberge gebettet. Drüben aber, am südlichen Ufer, erschimmerte, vom Goldorange der ersterbenden Sonne umlodert, die gewaltige Kette der Walliser und Savoyer Eishäupter. Der Montblanc in seiner atembeklemmenden Majestät!

Olly schloß geblendet die Augen. Hier in diesem Lande der Schönheit sollte sie, das häßliche junge Entlein, künftig leben?

Dann aber quoll die Freude am Schönen wieder übermächtig in ihr empor. Oh, hier mußte man ja gut sein, wo alles so feenhaft schön war. Die heimliche Angst vor dem fremden Pensionat, vor den unbekannten Lehrerinnen und Zöglingen, die sie gewiß bald wieder verlachen würden, schwand. Nur das Glücksempfinden, täglich dieses wunderbare Bild genießen zu dürfen, blieb.

Sie griff nach Sentas Hand. Sie mußte in diesem Augenblick irgend jemand etwas Liebes antun, ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Schwester haben.

Die sah Olly von der Seite an, etwa wie man einen harmlos Verrückten anschaut.

»Piepmätzchen?« fragte sie und zog ihre Hand fort.

Aber ehe eine Verstimmung in Olly aufkommen konnte, hielt der Wagen vor einem zierlichen Schweizerhäuschen. Blaue Klematis umkletterte es bis zu dem Holzdach hinauf, einer einzigen leuchtendblauen Blume gleich ragte es aus dem ausgedehnten Garten. Rosenrote Mandelbäume hatten dort die schweren Blütenhäupter im Abendtau gesenkt, weiße Magnolienbäume ihre lichten Tulpen geschlossen. Ein Blumenland, das in dieser Abendstimmung unsäglichen Frieden ausströmte.

Wie in einem schönen Traum, aus dem sie Furcht hatte zu erwachen, schritt Olly langsam hinter Senta her, die jetzt wieder unternehmungslustig die Führung übernommen.

»Mon repos« stand in geraden Lettern über dem Hauseingang an der holzgeschnitzten, rings um das Haus laufenden Galerie.

Es war keins der großen Lausanner Pensionate, das von Madame Pierre. Als Papa nach seiner Verlobung zum erstenmal den Gedanken einer Schweizer Pension ins Auge gefaßt, hatte Olly sich mit Händen und Füßen gegen ein derartig elegantes Institut gesträubt. Viel lieber wäre sie in ein bescheidenes Pfarrhaus im Thüringer Wald gegangen. Aber Senta tat es nicht anders, die Töchter des Kommerzienrats Hildebrandt mußten in die französische Schweiz.

Da war ihnen zum Glück der Name von Madame Pierre genannt worden, die nicht direkt in Lausanne wohnte, sondern in mehr ländlicher Umgebung im Hafen Ouchy. Sie hatte kein ausgedehntes Schweizer Töchterpensionat unter sich und nahm nie mehr als zwölf Zöglinge an. Der Unterricht wurde als vorzüglich empfohlen, und die Behandlung der jungen Mädchen sollte eine durchaus individuelle sein. Das war für Papa bei seiner schwierigen Olly ausschlaggebend gewesen.

Ein nettes Hausmädchen öffnete, nahm den beiden jungen Damen das Handgepäck ab und führte sie in den Empfangsraum. Der war wohnlich, aber einfach ausgestattet.

Senta zog das feine Näschen kraus und meinte, sich umblickend: »Etwas plebejisch!« Während Olly gerade das Fehlen allen Prunkes mit erleichtertem Herzen begrüßte.

Madame Pierre trat herein. Eine große, schlanke Erscheinung mit vollem, weißem Haar. Das Gesicht darunter erschien noch jung, es bildete einen seltsamen Gegensatz zu den schlohweißen Haaren.

»Guten Abend«, sagte Senta und machte eine zierliche Verbeugung, halb tanzstundenartig, halb damenhaft.

Olly stand wie immer steif wie ein Stock.

»Ah, bon jour, mesdemoiselles, mais ce n'est pas possible, que vous soyez venues seules«, sie reichte erst Olly, dann Senta die Hand in einer gewinnenden Freundlichkeit.

»Oui«, sagte Senta – »non«, sagte Olly, aber verstanden hatten sie eigentlich alle beide nichts.

Wieder sprach Madame Pierre zu ihnen, es schien eine Frage zu sein, denn sie hob zum Schluß die Stimme.

Die schlaue Senta kombinierte daraus, daß sie nach der Lehrerin, die sie in Empfang nehmen sollte, gefragt seien.

»La dame avec les mouches n'était pas sur la gare«, stolz blickte das Blondchen auf die Vorsteherin – sprach sie nicht fein Französisch?

Die begann plötzlich zu lachen.

»Ich habe Sie gefragt, wie Ihre Reise gewesen, und nicht nach der Dame ›mit den Fliegen‹, Sie meinen wohl ›mouchoirs‹, Kind. Eh bien, Ihr Französisch scheint ja nicht allzu weit her zu sein, aber das werden Sie hier schon lernen«, setzte sie gleich wieder tröstend hinzu, als sie die kleine Unmutswolke auf Sentas Stirn entdeckte. Sie sprach jetzt ganz langsam und akzentuiert, daß selbst Olly einige Worte verstand.

»Nun muß ich aber wirklich einen Boten nach dem Gare Centrale senden, sonst steht Miß Pinshes bis morgen früh dort«, wieder gingen die französischen Worte wie Wogen über die deutschen Mädchen dahin. »Ich hoffe, daß es Ihnen bei uns gefallen wird!« Trotzdem Olly keine Ahnung hatte, wovon die Rede war, berührte sie die Art, in der es gesagt wurde, wohltuend.

Diesmal sagte sie »oui« und Senta zur Abwechselung »non«.

Dann klingelte Madame Pierre und gab dem eintretenden Mädchen Auftrag, die jungen Damen auf ihr Zimmer zu führen. Senta machte wieder ihre Verbeugung, Olly etwas, was dasselbe bedeuten sollte, aber mehr dem Scharren einer Henne glich.

Dann standen sie draußen in dem erleuchteten Treppenflur. Hinter wenig geöffneten Türspalten tauchten für Sekunden neugierige Mädchenköpfe auf.

»Numéro 12 est la chambre de Mademoiselle Olly, et numéro 15 de Mademoiselle Senta«, sagte das Mädchen, die Türen zu den bezeichneten Zimmern öffnend.

»Gerechter Strohsack, bleiben wir denn nicht zusammen?« Senta, die bisher die Gesellschaft der Schwester stets als störend empfunden, machte jetzt ein erschrockenes Gesicht. Hier in der Fremde, wo kein Mensch ihre Sprache sprach, kam ihr zum erstenmal ein schwesterliches Gefühl.

Das angewiesene Zimmer, das sie betrat, war mit weißen Möbeln ausgestattet. Sehr sauber, aber auch sehr einfach. Dem verwöhnten Kommerzienratstöchterlein erschien es geradezu ärmlich. Kein Sofa, kein Schreibtisch – dazu hatte sie so vor Irmgard von Buschen mit dem vornehmen Schweizer Pensionat geprahlt?

Am Tisch, der in der Mitte des Zimmers unter einer elektrischen Glühbirne stand, saß ein Mädchen mit offenem, hellem Kraushaar bei einer schriftlichen Arbeit. Es war wohl ungefähr im gleichen Alter mit der Eintretenden. Aber die lose Matrosenbluse, der kurze Faltenrock ließen es jünger erscheinen.

»Guten Abend«, sagte Senta freundlich und schaute ihre Zimmergenossin prüfend an.

»Good evening«, sagte diese und tat dasselbe.

»Nanu, das ist ja hier das reine Babel, einer versteht den andern nicht«, lachte Senta jetzt los.

Die junge Engländerin stimmte ein, und in diesem Lachen verstanden sich die beiden Backfische vorzüglich.

Senta eröffnete die Unterhaltung in einem seltsamen Gemisch von Deutsch, Französisch und Englisch.

»Are you schon longtemps ici

»I came yesterday.«

Das deutsche Backfischchen verstand ihr Englisch bedeutend besser als das fließende, schnelle Französisch der Vorsteherin.

»Also eine Neue – wie heißen Sie – comment est votre name

»Harriot Fewson – but we must speak French, it is not allowed to speak in other language

»Quatsch – ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist!« Es war ganz gut, daß die junge Engländerin sie ziemlich verständnislos ansah.

Beim Einräumen der Sachen, bei dem Harriot der Neuen gefällig zur Hand ging, flog die Unterhaltung wieder in drei Sprachen lustig hin und her. Je weniger man sich miteinander verständigte, um so herzlicher lachte man. Und solch ein gemeinsames Backfischlachen verbindet mehr als tausend Worte. Als die Klingel zum Abendessen durch das Haus schallte, war Senta schon über manches in der neuen Heimat orientiert. Arm in Arm zog sie mit der jungen Manchesterin ins Speisezimmer.

Auf Nummer 12, Ollys neuem Quartier, ging es bei weitem stiller zu. Im ersten Augenblick hatte Olly es mit Erleichterung begrüßt, daß Senta nicht mit ihr zusammenwohnen sollte, dann würden die kindischen Plänkeleien ihr wenigstens hier nicht den paradiesischen Frieden stören.

Aber als sie nun in das ihr angewiesene Zimmer trat und dort eine junge Dame vor einem Handspiegel sitzen sah, eifrig bemüht, sich die roten Haare zu Locken zu wickeln, hätte sie doch lieber die Schwester als Zimmergenossin gehabt.

Sie brummte etwas, was ebenso »guten Tag« wie »bon jour« heißen konnte, es war absolut unverständlich.

Das rothaarige Fräulein sah von seinem Toilettenspiegel auf, neigte höflich den Kopf, sagte mit hoher, dünner Stimme »bon soir« und warf einen Blick über Ollys Erscheinung, unter dem die Neue heiß errötete, denn sie fühlte die abfällige Kritik. Darauf wandte sich die junge Pariserin wieder ihrem Spiegel zu.

Olly aber stand verlassen mitten im Zimmer und wußte absolut nichts mit sich anzufangen. Hut und Mantel abzulegen und ihre Sachen auszupacken, das Nächstliegende, daran dachte sie nicht. Nachdem sie ungefähr eine Viertelstunde dem interessanten Lockenstudium des hübschen Rotkopfes zugeschaut und den alabasterweißen Teint, zu dem die goldbraunen Augen eigenartig stimmten, genugsam bewundert hatte, trat sie ans Fenster und starrte hinaus. Trotzdem graue Dämmerung bereits ihre Schattennetze über den Genfer See spann, fühlte sie wieder die Macht der schönen Natur auf sich wirken. Das Gefühl des Unbehagens und Fremdseins schwand.

»Wollen Sie nicht Ihre Sachen ablegen?« wandte sich die Zimmergenossin jetzt in elegantem Französisch mit erstaunten Augen an die immer noch im Straßenanzug dastehende Olly.

Die zuckte die Achsel. Sie verstand keinen Ton. Ach, hätte sie doch bloß den Konjunktiv besser gelernt und überhaupt in Französisch mehr aufgepaßt!

Das Pariser junge Mädchen mit dem Lockenaufbau, den hohen Absätzen und dem spitzenbesetzten Kleide schien recht wenig von seiner neuen Gefährtin erbaut. Trotzdem versuchte es mit der gewandten Höflichkeit, die den Franzosen eigen, noch einmal die stumme Reserve der langen jungen Deutschen zu brechen und ins Gespräch mit ihr zu kommen.

Vergebene Müh! Olly antwortete nur durch Kopfschütteln, Brummen oder Achselzucken.

Zum Glück klang in diese angeregte Unterhaltung die Essensglocke hinein.

»Au souper – au souper

Soviel war Olly wenigstens klar, daß dies eine Essensaufforderung bedeutete. Die rothaarige junge Dame setzte sich in Bewegung, Olly folgte in Hut und Mantel.

Das geräumige, holzgetäfelte Speisezimmer lag im Parterregeschoß. Die Tafel war für sechzehn Personen gedeckt, ein großer Frühlingsstrauß prangte in der Mitte.

Die Damen waren fast vollständig versammelt. Obenan Madame Pierre, am andern Ende des Tisches ihre Schwester, Mademoiselle Louison, meist »Made« von den übermütigen Zöglingen genannt. Wenigstens von den Deutschen. Sie hatte das Hauswesen unter sich. Daran reihten sich frische, junge Mädchengesichter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren. Neben dem duftigen Frühlingsstrauß tauchte noch das etwas vertrocknete Gesicht von Miß Pinshes, der englischen Lehrerin, auf, mit der sich die Hildebrandtschen Schwestern auf dem Gare Centrale verfehlt hatten.

Senta saß mit roten Backen und glänzenden Augen bereits neben der neuen Freundin. Aber ihre Wangen färbten sich noch um einige Töne tiefer, als sie jetzt Olly, noch immer gestiefelt und gespornt, hereinkommen sah. Hatte die denn einen kleinen Triller im Kopf, daß sie so zum Essen erschien?

Auch die andern sahen befremdet auf das überschlanke Mädchen im grauen Filzhut und dunkelblauen Mantel. Wollte sie etwa wieder davon?

Madame Pierre winkte sie zu sich heran.

»Eh bien, Olly, wollen Sie nicht ablegen, es wäre an Ihnen gewesen, Madeleine, dafür Sorge zu tragen«, wandte sie sich mit leisem Vorwurf an die bildhübsche Pariserin.

Madeleine antwortete etwas zu ihrer Entschuldigung, was Olly ebensowenig verstand wie die Worte der Vorsteherin.

Das aber verstand sie jetzt, als sich aus der Schar eine junge Dame mit schlichtem Blondscheitel und grauen Augen löste, auf sie zutrat und mit lächelndem »le chapeau« ihr den Hut vom Kopf nahm. »Maintenant le manteau«, auch den Mantel zog sie ihr aus, und zum Schluß »les gants«. Ja, das verstand Olly, vor allem aber die von Herzen kommende Freundlichkeit der ihr kaum bis zur Schulter Reichenden. Warm empfand sie den teilnehmenden Blick der guten grauen Augen.

Als die Helferin in der Not sie nun ganz selbstverständlich mit sich fortzog auf den leeren Platz neben dem ihrigen, ihr die Speisen reichte und sie vorläufig mit Fragen und Anrede taktvoll verschonte, da fühlte sich Olly geradezu geborgen neben ihrer Nachbarin. Als könnten die vielen neugierigen Augen ihr jetzt nichts mehr anhaben.

Das Gespräch wurde ausschließlich französisch geführt, trotzdem die Hälfte der Pensionärinnen Deutsche waren. Für jedes nicht französische Wort mußte man zehn Centimes in die Weihnachtskasse zahlen, das hielt die losen Zungen im Zaume, wenigstens, solange die Vorsteherin oder eine Lehrerin in Hörweite war.

Senta nahm dreist am Gespräch teil und erregte durch ihre zum größten Teil falschen Antworten Lachstürme. Sie gefiel allgemein. Freilich den Zöglingen mehr als den Lehrerinnen. Madame Pierre meinte innerlich, daß die kleine Blonde doch für den ersten Abend entschieden ein wenig zu vorlaut wirkte. Die scheue Zurückhaltung der Älteren berührte sie angenehmer.

Auch Miß Pinshes und Fräulein Richter, die deutsche Lehrerin, die sich Ollys so freundlich angenommen, dachten dasselbe. Olly war ganz erstaunt, als sie nach Tische bei der allgemeinen Vorstellung hörte, daß ihre unscheinbare kleine Nachbarin eine Lehrerin war. Sie hatte sie durch ihr junges Aussehen ebenfalls für eine Pensionärin gehalten. Fräulein Richter hieß bei den Zöglingen auch allgemein »la petite«.

Nach dem Abendbrot wurde musiziert. Für Olly bedeutete das eine Erlösung, wenn sie es durch ihre Gleichgültigkeit auch im Klavierspiel nicht weit gebracht hatte. Die Musik, das war eine Sprache, die all die verschiedenen, fremdzungigen Elemente harmonisch einte.

Um neun Uhr hieß es »bonne nuit«. Um halb zehn machten die Lehrerinnen abwechselnd die Runde, ob überall das elektrische Licht ausgedreht sei. Madame Pierre hatte, zur schnelleren Erlernung der fremden Sprache, das Prinzip, nie zwei Landsmänninnen zusammen das Zimmer teilen zu lassen. Die arme Olly war gerade an eine Stockfranzösin geraten.

Aber als sie eben hinter ihrem Rotkopf das Zimmer aufsuchen wollte, fühlte Olly noch einmal ihre Hand ergriffen.

»Gute Nacht, schlafen Sie wohl!« klang es lieb in deutscher Sprache. Fräulein Richter flüsterte dem armen Ding, das sich hier so verlassen zu fühlen schien, noch einen Heimatsgruß zu.

Der umschwebte Olly tröstlich bis in ihre Träume hinein.



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