Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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14. Kapitel.

Streik

Spät war es, als Olly am andern Morgen in ihrem altvertrauten Balkonzimmer erwachte. Ein regenschwerer Apriltag graute draußen.

Sie dehnte sich wohlig in den gestickten Kissen. Es war doch etwas Eigenes um das Gefühl, wieder daheim zu sein. Nur Papa machte ihr heftige Sorge.

War er krank? Sein elendes Aussehen ließ darauf schließen. Aber jede dahin zielende Frage hatte er verneint. War er nicht glücklich in seiner neuen Ehe? Auch dies schien nicht der Fall zu sein. Das Verhältnis zu seiner jungen Frau war entschieden ein harmonisches. Die Mutter sorgte, wie selbst Olly es sich hatte zugestehen müssen, mit liebevoller Aufmerksamkeit für den Gatten, und er hatte für ihre Bemühungen immer ein Lächeln, wenn auch ein müdes. Aber was war mit Papa, was hatte ihn so verändert? Olly grübelte und grübelte. Sie kam zu keinem Resultat.

Entschieden war er nervös, ihr schöner, starker Papa, der immer auf das schwache, nervöse Geschlecht verächtlich herabgesehen hatte.

Als sie ihm gestern abend zum »Gute Nacht« die Lippen bot, zum erstenmal wieder seit vielen Jahren, da hatte er Tränen im Auge gehabt. So weich war Papa geworden, der immer von sich gesagt hatte, er sei hart wie seine Maschinen.

Die Maschinen – Olly setzte sich plötzlich jäh im Bette hoch. Warum hörte man sie denn gar nicht, warum sangen sie ihr nicht den Willkommensgruß in der Heimat? Kein Rasseln und Rattern, kein Hämmern, alles still – totenstill. – War denn Sonntag heute? – Nein, es war Wochentag, und dennoch feierte die Fabrik? Herrgott – was hatte das zu bedeuten?

Am Ende war es noch gar nicht sechs, sie hätte ja sonst auch den gellenden Pfiff, der den Arbeitsbeginn meldete und sie früher stets zu wecken pflegte, hören müssen. Sie griff nach der kleinen Taschenuhr, einem Erbstück ihrer Mutter.

Schon neun – Himmel, das konnte doch gar nicht sein, hatte sie vergessen die Uhr aufzuziehen? Aber das deutlich vernehmbare Ticken überzeugte Olly vom Gegenteil. Sie sprang aus dem Bett und ans Fenster.

Kein Rauch wirbelte aus den hohen Schornsteinen da drüben auf, der Atem des gewaltigen Arbeitskörpers stand still. Die ungewohnte Ruhe legte sich geradezu beklemmend auf das junge Mädchen, mit fliegender Hand zog es sich an. Senta, die Langschläferin, blinzelte inzwischen auch gähnend. Olly teilte der Schwester ihre beunruhigende Wahrnehmung mit.

»Pah« – Fräulein Leichtsinn lachte unbesorgt, »vielleicht hat Papa der Fabrik unserer Ankunft zu Ehren einen freien Tag bewilligt.«

Olly schüttelte den Kopf. Sie kannte ihren Vater, trotzdem sie ihm die Jahre über ferngestanden, besser.

Das Frühstückszimmer war leer. Papa pflegte schon um acht Uhr ins Bureau zu gehen. Herbert war in der Schule, und die gnädige Frau badete gerade Bubi, wie das servierende Hausmädchen meldete.

So nahm Olly ihr Frühstück nur in Gesellschaft von Murks ein. Sie blickte sich um in dem gemütlichen, noch immer geheizten Raume. Es stand alles wie sonst, die neue Mutter hatte keine Änderung der Einrichtung vorgenommen. Das berührte Olly angenehm. Aber das Brötchen wollte trotzdem nicht rutschen. Die Unruhe wuchs im Alleinsein. Selbst Murks' Liebesbezeigungen vermochten sie nicht zu zerstreuen.

Aus dem durch das Bibliothekzimmer von ihr getrennten Rauch- und Arbeitszimmer des Vaters kamen gedämpfte Stimmen. Olly strengte ihr Ohr an.

Papa zu dieser Zeit nicht drüben im Bureau, das war ebenso merkwürdig wie das seltsame Feiern der Fabrik! Wem gehörte die andere tiefe Männerstimme? Alles Blut drängte der jungen Lauscherin plötzlich zum Herzen. Sie hatte die Stimme erkannt. Niemals war Wolfgang Steinhardt zu so früher Morgenstunde in der Rokokovilla erschienen. Sie mußte erfahren, was vorlag.

Sollte sie zur neuen Mutter gehen und sie befragen? Nein, ihr Verhältnis zueinander war vorläufig nur ein höflich-freundliches, Vertrauen konnte Olly, trotz aller guten Vornahmen, noch nicht zu ihr fassen.

Senta, die mit blanken Augen am Kaffeetisch erschien, plauderte lustig drauflos. Daß sie vormittags vor allen Dingen mit der Mama einen Frühjahrshut kaufen müßte, denn mit dem Winterhut konnte sie Irmgard von Buschen unmöglich mehr besuchen. Ob Olly nicht auch mitkommen wollte? Olly schüttelte den Kopf. Ihr war augenblicklich nicht nach neuen Frühjahrshüten zumute.

»Mädel, du bist ja heute so tranig«, Senta sah verwundert auf die in der Pension stets frohe Schwester.

»Ich weiß nicht, Senta, ich wünschte, ich hätte deine heitere Lebensauffassung. Es liegt hier irgend etwas in der Luft, was jede Fröhlichkeit in mir niederdrückt. Fühlst du's denn nicht?« Senta schnupperte mit ihrem feinen Näschen ähnlich wie Murks in der Luft umher.

»Nee«, sagte sie dann lachend, und entwischte in die Kinderstube zum Bubi.

Olly trat ans Fenster und blickte in den regenschweren Garten hinaus. Hier war die Vegetation dies Jahr noch weit zurück, kaum die ersten grünen Spitzchen wagten sich ans Licht.

Ach, die Sonnentage am blauen Genfer See!

Eine starke Sehnsucht nach der lachenden Schönheit des gesegneten Fleckchens Erde wallte in ihr empor. Dort war auch sie ein lachendes junges Menschenkind gewesen, und hier fühlte sie förmlich, wie die Schwere und der Ernst der nördlichen Heimat sich ihr wuchtig auf das für Sonnenschein so empfängliche Gemüt legte.

»Ein jeder Mensch gehört in den Wirkungskreis, in den unser Herrgott ihn gestellt hat!« War es nicht, als ob Fräulein Richters weiche Stimme eben den Raum durchzittert? Und doch schrie Bubi nur im Kinderzimmer nach seinem Fläschchen mit künftiger Feldherrnstimme. Olly richtete sich straff auf. Nein, sie wollte den Mut nicht gleich wieder sinken lassen. Vor allem nicht ihrem früheren Fehler, dem untätigen Grübeln, aufs neue verfallen. Sie hatte jetzt den Segen der Arbeit kennen gelernt. Also frisch ans Auspacken und Einräumen ihrer Sachen. Eher war sie nicht richtig daheim.

Als sie die Tür zur Diele öffnete, hemmte sie jäh den Schritt. Denn nebenan hatte ebenfalls eine Tür geknarrt. Wolfgang Steinhardt trat hinaus und griff nach seinem Mantel.

Olly zögerte. Der Wunsch, von dem jungen Ingenieur zu erfahren, was in der Fabrik vorlag, war stark. Stärker aber noch das Herzklopfen vor der ersten Begegnung mit dem einstigen Freunde. Es benahm ihr fast den Atem. Ehe Olly noch ihr pochendes Herz zur Ruhe gebracht, war aus der gegenüberliegenden Kinderstube Senta getreten.

»Wölfchen Steinhardt – – –« sie eilte mit alter Herzlichkeit auf ihn zu. Beide Hände streckte sie ihm unbefangen entgegen.

»Sentchen – Mädel, was bist du für eine hübsche junge Dame geworden!« Wolfgang sah mit Freude auf die gleich einem hellen Sonnenstrahl in der regengrauen Diele Auftauchende.

Ollys Herz pochte nicht mehr erregt. Es war sogar, als ob es seinen Schlag von Sekunde zu Sekunde verlangsamte. Leise schloß sich die Tür zum Frühstücksraum. Olly wollte die beiden in ihrer Wiedersehensfreude nicht stören. Aber Sentas rosiges Ohr hatte den Schall aufgefangen.

»Olly, sieh nur, Wölfchen ist hier!« Sie zog die Schwester auf die Diele hinaus.

Wolfgang Steinhardt rührte sich nicht vom Platz. Keinen Schritt kam er Olly entgegen. Er blickte mit ungläubigen Augen auf die gertenschlanke Mädchengestalt im Rahmen des tiefroten Türvorhangs. Wie auf etwas Unwirkliches, was der nächste Augenblick wieder in nichts zerfließen lassen könnte.

Ollys zartes Gesicht färbte sich mit warmer Glut. Dann aber nahm sie sich zusammen. Sie trat auf Wolfgang zu und reichte ihm mit einem Lächeln die Hand. »Guten Tag, Herr Ingenieur, kennen Sie mich nicht mehr?« Ihr Mund lächelte und scherzte, aber die großen dunklen Augen wußten nichts davon. Über denen lag es wie ein Schleier heimlichen Wehs.

»Olly« – – –nein, das ging doch nicht, daß er eine erwachsene junge Dame, die ihn mit »Herr Ingenieur« anredete, duzte – »Fräulein Olly, seien Sie willkommen daheim!« Er zog die schmale Hand des häßlichen jungen Entleins, die sich ihm als Zeichen der Verzeihung bot, dankbar an die Lippen.

»Ein Handkuß – und mir hast du nicht die Hand geküßt, du unhöflicher Mensch – ich verlange auch meinen respektvollen Handkuß, sonst kündige ich dir die Freundschaft und nenne dich ebenfalls ›Herr Ingenieur‹.« Senta spitzte drollig geziert das rote Mäulchen und reichte Wolfgang mit hoheitsvollem Gesicht gnädig die kleine Grübchenhand zum Kusse. Die merkwürdige Stimmung die den Raum noch eben durchwebte, war zerstoben.

Wolfgang lachte.

»Um Gottes willen nicht, es ist genug an einer!« Auch Olly vermochte in das Lachen der beiden einzustimmen. Der weiche, glockenhelle Ton, der seit dem Tode ihrer Mutter hier in diesen Räumen verstummt gewesen, ließ Wolfgang Steinhardt wieder mit stiller Bewunderung auf die so anmutig Gewordene schauen. Er fand keine Worte, wie die andern alle, für die kaum glaubhafte Verwandlung des häßlichen jungen Entleins.

Aus dem Rauchzimmer klang gedämpftes Husten. Es erinnerte Olly an ihre für einige Minuten vergessene Sorge.

»Bitte, Herr Ingenieur,« sie wandte sich in zögerndem Ton an ihn, »geben Sie mir darüber Aufschluß, was bei uns hier vorgeht. Papa steht elend aus, die Fabrik feiert – bitte sagen Sie, was hat das zu bedeuten?« Sie hob in ihrer Unruhe flehend die gefalteten Hände zu ihm empor. Wolfgangs Gesicht war ernst geworden.

»Wir haben ein schweres Jahr durchlebt, Fräulein Olly. Aber das kann ich Ihnen unmöglich hier draußen auseinandersetzen. Wenn Sie gestatten, trete ich noch auf einen Augenblick ein. Die Kinder des Hauses haben, meiner Ansicht nach, das Anrecht und die Pflicht, die Sorgen der Eltern zu teilen.«

Olly setzte sich dem jungen Ingenieur mit großen, angstvollen Augen gegenüber. Was würde sie hören müssen? Senta wippte im Schaukelstuhl.

»Haben Sie nichts von dem allgemeinen Maschinenstreik gelesen?« begann Wolfgang Steinhardt.

Olly schüttelte den Kopf. Es war keine deutsche Zeitung in das Pierresche Pensionat gekommen.

»Es geht schon seit Monaten«, fuhr der junge Mann, die Stirn in Falten legend, fort. »Zuerst das Murren und die Unzufriedenheit hier und dort unter der Arbeiterschaft. Aber das wurde immer wieder zum Schweigen gebracht und gütlich beigelegt. Ihr Vater hat stets freundschaftlich zu seinen Arbeitern gestanden. Er wußte die Wellen des Aufruhrs, bevor sie überschäumten, zu glätten. Aber solch ein Streik ist wie eine tückische Krankheit, wie eine Epidemie, welche auch die Besten und Zuverlässigsten überfällt. In anderen Fabriken hatten sie längst schon die Arbeit niedergelegt. Ja, sogar zu Ausschreitungen war es dort gekommen. Wir konnten uns vor Aufträgen nicht retten, da ein großer Teil der Maschinenfabriken außer Betrieb gesetzt war. Wir wußten nicht, wo wir genügend Hände herkriegen sollten, und stellten an Arbeitskräften ein, was sich uns bot. Das war der Fehler. So bekamen wir die Aufwiegler hier hinein, grüne, unreife Burschen, welche die erfahrenen Männer mit großprahlerischen Worten aufhetzten. Sie kamen mit Lohnerhöhungen und Arbeitszeitkürzung. Ihr Vater tat, was in seiner Macht stand, aber die Forderungen gingen zu weit. Diese unreifen Burschen hatten alles Vertrauen zu ihrem Herrn in den erregten Arbeitergemütern zerstört, allenthalben Groll und Aufruhr gesät. So kam es auch bei uns zum Streik. Seit Wochen währt der Ausstand bereits, wie lange noch, ist gar nicht abzusehen. Und Ihrem Vater hat die Aufregung, der Undank seiner Arbeiter und die mit dem Streik verknüpften Sorgen einen Teil seiner Lebenskraft gekostet!« Der Ingenieur schwieg und blickte teilnehmend auf die ihm Gegenübersitzende. Sie hatte ihn durch keinen Laut unterbrochen, nur eine Träne löste sich von den langen, seidenweichen Wimpern.

Die Fabrik – ihre Fabrik, mit der sie seit frühester Kindheit aufs innigste vertraut und verwachsen, die alte, liebe Freundin, trat plötzlich als drohender Feind ihr gegenüber? Sie konnte es nicht fassen.

»Sind – hat Papa auch pekuniäre Schwierigkeiten durch den – Streik?« Das leiser gesprochene letzte Wort schien ihr geradezu körperlichen Schmerz zu bereiten.

Wie ernst und verständig das Mädchen war!

»Machen Sie sich keine Sorgen. Fräulein Olly, die Firma Hildebrandt kann schon einer Streikepoche die Stirn bieten. Freilich, allzu lange darf sie nicht mehr anhalten. Auch das vollste Faß erschöpft sich schließlich!«

»Ich finde die Sache eigentlich ganz famos«, Senta gab ihrem Schaukelstuhl einen kraftvollen Stoß. »Solch Arbeiterausstand, das ist doch tausendmal interessanter als das ewige langweilige Maschinengerassel da drüben!« Sie lachte selbst in diesen ernsten Augenblicken.

»Du bist noch ebensolch ein Kindskopf wie du warst, Sentchen! Ich wollte, wir hörten das langweilige Maschinengerassel recht bald wieder! Weißt du, du solltest zum Vater gehen und ihn auf andere Gedanken bringen. Deinem lachenden Übermut werden die grauen Sorgengeister, die ihn nicht loslassen wollen, nicht standhalten. Er braucht Sonnenschein!« Senta sprang erschreckt auf.

»Nee, Wölfchen, geht heute absolut nicht, ich habe ja über die interessanten Streikgeschichten ganz vergessen, mich fertigzumachen. Mama wird gewiß schon auf mich warten. Nee, heute muß ich mir notwendig einen neuen Frühjahrshut kaufen! Aber morgen, Wölfchen – au revoir!« Damit war sie auch schon aus dem Zimmer gehuscht.

»Ja – freilich, der neue Frühlingshut ist notwendiger!« Wolfgang blickte kopfschüttelnd hinter dem sorglosen blonden Ding drein.

»Senta besitzt eine glückliche Natur, sie tanzt lachend über die Hindernisse, über die ein anderer strauchelt, hinweg. Aber sie hat trotzdem ein gutes Herz!« Wolfgang sollte von dem Mädchen, das er lieb zu haben schien, nicht enttäuscht sein. Er lächelte denn auch.

»Ich freue mich, Olly – Fräulein Olly, daß Ihr schwesterliches Verhältnis ein besseres geworden. In dem einen Jahr hat sich vieles geändert –« er überflog ihre reizvolle Erscheinung – »ist es auch zwischen uns wieder anders geworden – sind wir dieselben guten Freunde wie einst?«

»Ja« – Olly atmete tief auf und blickte ihn voll an.

Ihrem künftigen Schwager durfte sie keine feindselige Empfindung mehr entgegenbringen, das war sie Senta schuldig.

»Dann will ich gern das ›Sie‹ und den ›Herrn Ingenieur‹ in den Kauf nehmen«, meinte er ein wenig schalkhaft. »Und nun, Fräulein Olly, gehen Sie zu Ihrem Vater, ich fand ihn heute verstimmter als je. Ihre Gegenwart wird ihm wohltun.«

Olly erfreuten diese letzten Worte besonders.

Ihre – des häßlichen jungen Entleins – Gegenwart sollte jemandem wohltun! Sie sah ihn dankbar an.

»Ich vermag aber nicht soviel Sonnenschein zu verbreiten wie Senta«, sagte sie dann leise.

»Solch lachender, übermütiger Frühlingssonnenschein ohne Bestand ist nicht für jeden, Fräulein Olly. Einem versorgten Gemüte wie das Ihres Vaters wird ein gleichmäßig von innen heraus warmer Sommersonnentag, wie Sie ihn zu bringen vermögen, mehr helfen! Leben Sie wohl und – Kopf oben!« Er schüttelte ihr noch einmal die Hand und schritt hinaus.

Olly starrte auf die Tür, hinter der seine hohe Gestalt verschwunden. Mit Anstrengung gab sie ihren Gedanken eine andere Richtung. Sie mußte zu Papa.

Als Olly in das Arbeitszimmer trat, rührte sich Papa nicht. Der tatkräftige Mann, den sie nie anders als beschäftigt gesehen, lehnte in seinem Ledersessel in unfruchtbarem Grübeln. Über dem Schreibtisch hing nach wie vor das große Ölgemälde von Mama, nicht, wie sie gefürchtet hatte, von einem andern Bilde verdrängt. Nur auf dem Schreibtisch stand eine kleine Photographie der neuen Mutter.

Der dicke Smyrnateppich fing den Hall ihrer Schritte auf. Langsam ging sie näher. Bei dem grauen Tageslicht sah das Gesicht des Vaters noch grauer und abgespannter aus. Sicher war er krank.

Ein schwerer Seufzer traf Ollys Ohr. Da stand sie bei ihm und legte schüchtern den Arm um ihn.

»Papa – Wolfgang Steinhardt hat mir von deinen Sorgen erzählt – du mußt es dir nicht so zu Herzen nehmen, es wird sicher alles bald wieder gut werden!« tröstete sie mit weicher Stimme.

Der Kommerzienrat fuhr empor. Er blickte von der Tochter zu dem Bilde über dem Schreibtisch.

»Es ist fabelhaft – geradezu fabelhaft, wie du der Verstorbenen auch im Wesen ähnlich geworden bist, Olly. Geradeso kam sie zu mir herein, legte den Arm um meine Schulter, geradeso war ihre Stimme – ja, damals, da wußten wir hier noch nichts von Aufwiegelei und Streik.«

»Du bist es ja nicht allein, Papa, dasselbe Los trifft doch auch viele andere Fabriken«, wagte Olly vorzustellen.

»Ich war wie ein Vater zu meinen Arbeitern, über zwanzig Jahre haben wir treulich zusammengehalten, und nun ist dies der Dank – Lumpen die!« Papas Stimme schwoll zu alter Heftigkeit.

»Sie sind sicher nur verblendet« – Olly trat für ihre alten Freunde aus den Kindertagen ein. »Hast du denn schon mit den langjährigen Arbeitern persönlich gesprochen? Die müßten doch einem verständigen Wort zugänglich sein!«

»Wolfgang Steinhardt unterhandelt mit ihnen. Er sagte mir soeben, daß die älteren die Arbeit ganz gern wieder aufnehmen würden. Aber sie wagen es nicht, aus Furcht, als Streikbrecher zu gelten. Da gibt es nur eins – die Bande aushungern!«

»Papa!« – Olly rief es entsetzt – »aushungern, auch die armen, unschuldigen Kinder? Nein, das kann dein Ernst nicht sein!«

»Sie wollen es ja nicht anders – lange können sie der arbeitslosen Zeit nicht standhalten. Ihre Organisation vermag so viele hungrige Mäuler auf die Dauer auch nicht zu stopfen. Dann müssen sie entweder zu Kreuze kriechen, oder es kommt, wie in verschiedenen anderen Betrieben, zu Aufruhr und Meuterei. Am Ende zünden sie uns noch das Haus über dem Kopf an!«

Olly preßte die Hand auf das Herz. So stand es, so?!

»Papa,« sie legte bittend die Hand auf seinen Arm, »versprich mir, bitte, eins. Ich kann es mir denken, daß du durch die vielen Streikwochen große Verluste haben mußt. Mache dir deshalb wenigstens keine Sorgen. Du selbst hast uns mal gesagt, daß unsere Mama sehr reich gewesen, und daß du ihr Geld für Senta und mich sicher angelegt hast. Bitte, lieber Papa, nimm mein Geld, ich brauche es nicht und würde es für nichts lieber verwendet sehen, als für unsere Fabrik!«

Der Kommerzienrat sah seine hochherzige Tochter, deren Wert er so wenig gekannt, schweigend an. Schweigend zog er sie zu sich nieder. Olly ruhte im Vaterarm.

Nun nahm sie gern alles Schwere, was hier in der Heimat ihrer wartete, in den Kauf.

»Ich will versuchen zu arbeiten, notwendige Briefe sind zu erledigen, aber ich fühle mich so unlustig und müde zu jeder Tätigkeit.« Der Vater gab sie frei.

»Papa – könntest du mir nicht diktieren, ich würde dir schrecklich gern helfen.« Olly sah den Vater bittend an.

»Du, Mädel,« – jetzt lächelte Papa wieder ein wenig – »ich halte nicht viel von Frauenarbeit – unter langen Haaren spuken allerlei Firlefanzgedanken, nur keine ernsten, zielbewußten. Aber immerhin, wir können es ja versuchen.«

Olly nahm am Schreibtisch Platz, und Papa diktierte.

Es war nicht leicht, ihm zu folgen, denn der Kommerzienrat sprach schnell hintereinander; er vergaß während der Arbeit, daß er seiner ungeübten Tochter diktierte und nicht einem Stenographen.

Aber Olly gab sich grenzenlose Mühe, nicht zurückzubleiben, die fremden Fachausdrücke richtig zu schreiben und den Vater zufriedenzustellen. Mit vor Eifer brennenden Wangen legte sie zum Schluß die Feder nieder.

»Brav, Olly,« Papa durchflog das Geschriebene, »sieh mal an, das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Ich werde dich zu meiner Sekretärin ausbilden.«

Nie war Ollys Herz so von freudigem Stolz erfüllt gewesen als in diesem Augenblick.

Da lag wieder eine Aufgabe vor ihr!

Stunde um Stunde verging, Papa diktierte unentwegt. Olly konnte kaum noch die Hand rühren, das Gelenk schmerzte sie von der ungewohnten Anstrengung. Aber sie mochte Papa nicht bitten, eine Pause zu machen. Er sollte eine bessere Meinung von Frauenarbeit bekommen.

Als Senta mit der Mama von ihren Einkäufen heimkehrte und wie ein Wirbelwind in Papas Zimmer gestürmt kam, um ihr entzückendes Frühjahrshütchen bewundern zu lassen, machte Papa ein ganz erstauntes Gesicht. Was – so spät war es schon, da hatte er doch wirklich über der gemeinsamen Arbeit mit der Tochter für mehrere Stunden seine Sorgen vergessen.

»Du siehst heute frischer aus, Ludwig.« Die eintretende Mutter küßte den Vater erfreut auf die Stirn.

Olly fühlte in diesem Augenblick entschieden schon etwas wie Sympathie für sie. Da reichte sie auch der Tochter freundlich die Hand.

»Wir haben uns ja heute noch gar nicht gesehen. Olly; ich glaubte, du würdest zu mir kommen und dir Bubi im Bade anschauen. Er ist süß, der kleine Kerl, wenn er so strampelt.«

Das junge Mädchen wurde ein wenig verlegen.

»Ich war heute nicht so recht in der Stimmung wegen – wegen des Streiks«, setzte sie leiser, mit einem Blick auf den die Briefe unterschreibenden Vater hinzu.

Am Nachmittag stattete Olly dem Garten ihren Besuch ab. Es hatte aufgehört zu regnen. Sie war jetzt an Luft gewöhnt, am liebsten hätte sie einen weiten Spaziergang mit Senta unternommen. Aber die war zu ihrer Freundin Irmgard gefahren.

Unter dem Reinettenbaum, ihrem Lieblingsplatz, stand Olly lange. Sie blickte in das noch kahle, mit blitzenden Regentröpfchen in der vorbrechenden Aprilsonne wie Diamanten sprühende Gezweig. Bald würde die Sonne die Regentränen trocknen, wie sie auch jene getrocknet, die sie hier einst geweint.

Langsam schritt sie dem Fabrikterrain zu.

Ausgestorben lag es da. Die Arbeitssäle leer, keine feurige Lohe prasselte aus der Esse hernieder. Das rege Treiben der vielen Hunderte, die Stimme der Arbeit war verstummt. Drohend reckten sich die rußgeschwärzten Schlote gen Himmel, wie eine verödete Stadt umfing es das einsame Mädchen.

Das war das Wiedersehen mit ihrer lieben Fabrik.

Hinter dem gewaltigen Eisenkrahn, mittels dessen die schweren Maschinenteile gehoben wurden, regte es sich. Ein weißhaariger Kopf wurde sichtbar.

Olly kannte den Alten von klein auf.

»Guten Tag, Grundemann.« Sie legte dem Zusammenfahrenden die Hand auf den schäbigen Rock.

Der blickte sie mit unsicheren Augen an. Er sah schlecht aus, der alte Mann.

»Ist – sind Se 't denn wirklich?« Nein, das konnte doch unmöglich »die Häßliche« sein – der Alte schüttelte den Kopf und rückte verlegen an seiner Mütze.

»Doch, Grundemann, ich bin's – die Olly Hildebrandt, die Sie vor vielen Jahren manches Mal auf den Arm genommen haben. Ich bin traurig, daß ich Sie hier draußen wiederfinde, und nicht dort drinnen!« Olly wies auf die tote Fabrik.

»Je – jnädiges Fräulein,« – der Alte kratzte sich das Ohr, – »det is eine verfluchte Sache mit 's Streiken. Der eine will und der andere will nich! Aber mitmachen, det müssen sie schließlich alle.«

»Ich verstehe das nicht, Grundemann, so ein alter Mann wie Sie, der hier im Dienst meines Vaters ergraut ist, der sollte doch ganz genau wissen, daß wir es gut mit euch meinen. Der dürfte sich doch wirklich nicht von ein paar Grünschnäbeln aufhetzen lassen!« sagte Olly ernst.

»Ja, sehen Sie, Freileinchen,« meinte der alte Mann vertraulich, »wat ick bin, ick hab' det Faulenzen bis hierher. Ick mechte lieber heut' als morjen wieder an meine Maschine ran. Und wie mir, so jeht das auch noch 'nen ganzen Hümpel älterer Arbeiter. Aber wa derfen nich – nee, wa derfen nich – sonst schimpfen se uns Streikbrecher! Nee, det soll keener nich dem ollen Jrundemann nachsagen!« Er schlug sich auf die Brust.

»Ja, was wollen Sie dann aber noch hier?« fragte das junge Mädchen traurig. Der Hoffnungsstrahl, den sie beim Anblick des Alten hatte aufleuchten sehen, erlosch wieder.

»Et treibt mir immer wieder her, wie so 'n Hund, der ville Jahre an eenen Ort treu jedient hat. Und denn, man muß doch ooch kieken, ob's nich doch wieder mit de Arbeit losjeht – wat meine Enkelchen sind, die müssen nu schon seit Tagen hungrig zu Bette. Jott, man is doch man ooch bloß 'n Mensch!«

»Ihre Enkelchen sollen nicht mehr hungern, lassen Sie mich dafür sorgen, Grundemann«, sagte Olly, mit Tränen des Mitleids in den Augen. »Hier,« – sie schüttete den Inhalt ihres Portemonnaies in die immer noch zwischen den Händen gehaltene Mütze des Alten – »und wenn's zu Ende ist, kommen Sie wieder zu mir.«

»Jnädiges Freilein, nee, det tu' ick Ihn mein Lebdag nich verjessen, det Se selbst in' Ausstand 'n Herz vor unsereins haben!« Der Alte lief, so schnell er konnte, mit dem geschenkten Gelde heim.

In der Tür des Bureaugebäudes aber erschien ein anderer – Wolfgang Steinhardt. Er hatte vom Fenster des Ingenieurzimmers den Vorgang beobachtet.

Er sah sehr ernst aus.

»Fräulein Olly, Sie haben unrecht gehandelt«, begann er vorwurfsvoll. »Zum mindesten unüberlegt. Sie haben sich von einer mitleidigen Regung fortreißen lassen, gegen Ihren eigenen Vater Partei zu ergreifen.«

»Was,« – Olly war erschreckt zusammengezuckt – »können wir es verantworten, daß unschuldige Kinder verhungern?«

»Nein, soweit darf es nicht kommen, aber damit sie's nicht müssen, sollen die unvernünftigen Eltern ihre Arbeit wiederaufnehmen. Wenn Sie die Streikenden unterstützen, machen Sie mit ihnen gemeinsame Sache gegen uns!«

»Ich halte es für ein Unrecht, Menschen in Not zu lassen, wenn man dieselbe lindern kann«, sagte Olly, den Kopf senkend. »Und ich glaube auch nicht, daß dies uns schaden wird, im Gegenteil, wenn die Leute sehen, daß man es gut mit ihnen meint . . .«

»Die Menschen denken nicht alle wie Sie, Fräulein Olly. Sie sind jung und wissen zum Glück noch nicht, wieviel schlechte Elemente die guten zum Schweigen bringen, besonders in Zeiten des Aufruhrs. Übrigens dürfen Sie jetzt nicht allein das Fabrikterrain betreten – ich bitte Sie darum! Sie sind hier nicht sicher, überall lungern jetzt arbeitslose Burschen umher, es kann täglich zu Ausschreitungen kommen. Sehen Sie, dort hinter dem Staket, das ist so einer von der Sorte, die nur darauf warten, die Fackel der Empörung in diese Stille zu schleudern!« Olly wandte den Kopf.

Böse Augen lugten durch das Gitter zu ihnen herüber – Barmherziger – was hielt der Kerl denn in der erhobenen Hand – war es eine Pistole – zielte er damit nicht nach Wolfgang Steinhardt?

Da kam es auch bereits sausend durch die Luft – aber schon war Olly ohne Besinnen schützend vor den getreten, der ihr einst das größte Weh im Leben zugefügt hatte. Der Stein traf ihre Stirn, statt die des Freundes. Mit unterdrücktem Schmerzenslaut brach sie zusammen.

»Olly!« Entsetzt beugte sich Wolfgang über die Blutende. Dann faßte er sie mit starken Armen und trug sie behutsam in das Ingenieurzimmer auf eine Chaiselongue. Er riß sein Tuch aus der Tasche und versuchte das sickernde Blut zu stillen.

Gottlob – die Wunde schien nicht tief zu sein. Der Stein des Bösewichts hatte nur ihre Schläfe gestreift Aber sie hielt die Augen fest geschlossen, der Schreck hatte sie überwältigt. Mit warmem Blick schaute Wolfgang auf das schmale, liebliche Mädchengesicht.

Da regte sie sich, sie schlug die Augen auf.

»Olly – Fräulein Olly, haben Sie große Schmerzen, können Sie wohl schon zur Villa hinüber, müssen wir an den Arzt telephonieren?« fragte er besorgt.

Olly richtete sich auf. Sie schwankte noch ein wenig.

»Es wird schon gehen«, sagte sie, mühsam lächelnd.

»Wie soll ich Ihnen danken, Fräulein Olly – Sie sammeln glühende Kohlen auf mein Haupt!« Leise kamen die Worte von seinen Lippen.

»Bitte, sprechen Sie nicht davon.« Noch immer ein wenig wankend und matt von dem Blutverlust, schritt sie, mit angstvoll spähenden Augen, an seiner Seite der Rokokovilla zu.

Am Abend des ersten Tages nach ihrer Heimkehr lag Olly in hohem Wundfieber. An ihrem Lager wachte die neue Mutter.

Eine ganze Woche mußte Olly das Bett hüten. Aber sie hatten doch etwas Gutes, diese Tage. Sie webten ein Band zwischen sie und die Mutter, die sich getreulich in die Pflege mit Senta teilte. Ollys dankbares Gemüt erkannte jetzt gern die guten Eigenschaften der sich um sie Mühenden an, ihre stets heitere Art brachte sie über manche Stunde quälender Sorge hinweg. Denn noch immer währte der Streik.

Wolfgang sandte der Genesenden täglich die herrlichsten Blumen, bis Olly, die nun schon wieder im Lehnstuhl am Fenster sitzen konnte, ihn bat, davon abzusehen. Trotzdem sie Blumen liebte, schmerzte es sie, daß dafür Geld verausgabt wurde, während Arbeiterfamilien darbten.

Rührend war Papa während dieser Zeit. Seinen eigenen Zustand schien er ganz zu vergessen, er saß stundenlang am Bett seiner Tochter, hielt ihre Hand und erzählte ihr von früheren Tagen. Als wollte er sie die Jahre, in denen sie seine väterliche Liebe entbehrt, vergessen machen.

Auch Kätchen Lehmann stellte sich getreulich ein. Trotz der Seminararbeit noch rosiger als sonst. Und das hatte seinen Grund. Denn, als die beiden Freundinnen allein waren, vertraute das flachshaarige Kätchen unter Lachen und Weinen Olly an, daß sie heimlich mit Herrn von Treuenfels verlobt sei, jenem jungen Maler, der an dem Märchenabend in der Rokokovilla die lebenden Bilder gestellt hatte. Nur ihre Eltern wußten davon, sonst keiner, denn sie mußten noch manches Jährchen warten. Aber was schadete das – sie waren ja beide jung.

Olly nahm innigen Anteil an dem Glück der Freundin. Aber auch Kätchen sah mit herzlicher Freude, wie gut Olly das Pensionsjahr getan hatte. Daß sie nicht mehr abseits von den anderen stand, daß sie jetzt erst richtig in ihrem Vaterhause daheim war.

»Habe ich es dir nicht gesagt, Olly,« flüsterte sie beim Fortgehen, »daß noch alles gut werden wird? Nun prophezeie ich dir wieder etwas: Es wird nicht lange dauern, und du wirst ebenso glücklich sein, wie ich es jetzt bin!« Damit war sie zur Tür hinaus.

Olly aber schüttelte traurig den Kopf.

Wieder war eine Woche dahingegangen. Immer noch mußte Olly die breite weiße Binde über der verletzten Stirn tragen. Sie saß am Fenster und blickte hinaus in den Garten, in dem der Frühling jetzt an allen Ecken und Enden schaffte. Das frische, junge Lenzgrün tat ihrem Auge und ihrem Herzen wohl.

Neben ihr lag im Wagen das kleine Brüderchen, strampelnd und krahlend. Der lebendige Frühling!

Junge Hoffnungsfreude ringsum – da regte es sich auch in ihrem zagenden Herzen, es mußte doch nun bald besser werden! Die Botschaft des Frühlings hatte ja auch im vergangenen Jahre nicht getrogen.

Lautes Gedröhn hallte wildlärmend in ihre lenzfreudigen Gedanken. Es kam von der Fabrik herüber, Olly preßte erregt die Hände auf die Brust. Erfüllte es sich schon, war der Streik zu Ende?

Gellendes Gejohle – und dazwischen Krachen und ohrenbetäubende Schläge auf Eisen – war das die friedliche Arbeit, die sie ersehnt?

Da stürmte, die Tür weit offen hinter sich lassend, Herbertchen ins Zimmer hinein. Er trug seine buntfederige Indianerausrüstung, in der Hand Köcher und Pfeile.

»Es geht los, Olly«, jubelte er. »Sie ziehen heran in schwarzen Scharen, unsere Mädchen sagen es. Jetzt gibt es Krieg, hör' nur, sie zertrümmern die Maschinen in unserer Fabrik. Aber ich werde sie beschleichen, ich werde euch als Häuptling vor den Pfeilen der Rothäute schützen!« Er wollte wieder zur Tür hinaus.

»Du bleibst hier!« Mit fester Hand hatte Olly den begeisterten Jungen, in dessen Kopf Indianergeschichten spukten, gepackt. »Keinen Schritt gehst du aus diesem Zimmer!« Trotzdem ihre Stimme tonlos klang, machte sie auf den Knaben Eindruck. Er sah scheu zu der erbleichenden Schwester auf. Jeden dröhnenden Schlag, der ihren lieben Maschinen galt, empfand sie schmerzlich, als wäre er gegen den eigenen Körper gerichtet.

»Mein Kind – mein Kind – sie werden mir mein Kind töten!« In verzweifelter Aufregung stürzte die neue Mutter herein und warf sich schirmend über ihren harmlos lallenden Kleinen.

Hinter ihr Senta, weinend, die Ohren gegen das laut und lauter herüberdringende Getöse mit den Händen verschließend.

»Wo ist Papa?« Olly sah verstört von einem zum anderen.

»Wohl noch in seinem Zimmer – rufe ihn, Olly, er muß sofort die Polizei alarmieren – die wilde Rotte wird auch uns bedrohen – Gott schütze mein Kind!« Die Mutter war ganz außer sich. Olly eilte in das Zimmer des Vaters. Die Beine wollten ihr kaum gehorchen.

Papa saß regungslos auf seinem Platz, stierte vor sich hin und lauschte dem wachsenden Tumult.

»Papa – lieber Papa, komm zu uns herüber, Mama bedarf deines Zuspruchs, wir werden das Schwere gemeinsam leichter durchleben!«

Der Kommerzienrat gab keine Antwort.

»Papa, wir brauchen dich, wir bedürfen deines Schutzes!« flehte Olly. Die stumme Starre des Vaters ängstigte sie mehr als die laute Verzweiflung der Mutter.

»Ihr braucht mich – mich – hahaha! Ich soll euch schützen – und kann doch nicht einmal meine Lebensarbeit vor den rohen Händen der Zerstörer retten! Hörst du's – dort drüben zertrümmern sie mein Lebenswerk, nur zu – nur weiter!«

Mit zitternder Hand strich Olly über den ergrauenden Kopf des Vaters.

»Es ist nur totes Material,« flüsterte sie mit erstickter Stimme, »aber hier – hier sind deine Kinder, Papa!«

Da erhob sich der Kommerzienrat schwerfällig. Sich auf den Arm seiner Tochter stützend, schritt er mühsam zu seiner Familie – ein kranker Mann.

»Ludwig, du mußt die Polizei benachrichtigen, sie müssen uns Bedeckung schicken.« Die junge Frau flog am ganzen Körper.

»Keine Waffengewalt auf meinem Grund und Boden.« Der Kommerzienrat schüttelte langsam den Kopf. »Olly, telephoniere an Wolfgang Steinhardt, er möchte sofort hinauskommen. Solange ich noch einen Pfennig mein Eigen nenne, darf kein Blut fließen. Ich will ihnen noch mehr entgegenkommen, Wolfgang soll mit ihnen unterhandeln – ich selbst vermag es nicht!« Er sank wieder teilnahmlos in sich zusammen.

Olly eilte ans Telephon.

»Sie kommen – sie kommen . . .« Aus dem Souterrain stürzte die Köchin, den Schneeschläger kriegerisch in der Hand schwingend, herauf. Hinterdrein die kreischenden Mädchen. Olly, die gerade den Hörer wieder angehängt, stellte sich den schreienden Dienstboten mit zwingendem Ernst entgegen.

»Geht an eure Arbeit, sie werden euch nichts tun!« Wolfgang Steinhardts telephonische Worte: »Keine Angst – ich bin in kurzer Zeit zur Stelle!« hatten sie wunderbar beruhigt.

Wie eine schwarze Riesenschlange wälzten sich die Arbeitermassen von der Fabrik her unheilvoll auf die weiße Rokokovilla. Schon waren sie im Garten, plumpe, schwere Männerstiefel zerstampften mitleidslos das frühlingsduftige zarte Grün.

»Olly, komm' vom Fenster fort, sie werden wieder mit Steinen nach dir werfen.« Senta verbarg jammernd den Kopf in die Sofakissen.

Herbertchen legte herzklopfend den ersten Pfeil in den Köcher. Für ihn war das Furchtbare nur aufregendes Knabenspiel. Die Mutter hielt Bubi fest gegen ihre Brust gepreßt.

Olly rückte sich einen Stuhl neben Papa und griff nach seiner Hand. Er sollte in der schwersten, entmutigendsten Stunde seines arbeitsreichen Lebens fühlen, daß sein Kind mit ihm litt.

Näher und näher kam das Stimmgebrause und Gejohle. Jetzt unterschied man schon schrille Rufe.

»Brot – Brot – wir wollen Brot!« – Dumpfes Murren durchtönte die Luft.

»Wo steckt der Kommerzienrat – er schwelgt im Überfluß, und unsere Kinder hungern!« Deutlich drangen die feindseligen Worte an Ollys aufs äußerste gespanntes Ohr. Sie sprang auf.

»Olly, was willst du tun?« Die Mutter und Senta riefen es entsetzt wie aus einem Munde.

»Brot . . .« Wie einziger, wilder Schrei durchgellte es wieder die Luft.

Da trat Olly entschlossen zur Verandatür.

»Laß mich zu ihnen sprechen, Papa, ich will sie zu beruhigen suchen, bis Wolfgang Steinhardt kommt!« Sie wartete keine Antwort des Vaters ab. Sie hörte die angstvoll beschwörenden Bitten der anderen nicht mehr.

Schon stand sie draußen auf der vom ersten Grün umrankten Säulenveranda, schutzlos der entfesselten Menge gegenüber.

Das Schreien, Johlen und Murren verstummte plötzlich. Man sah erstaunt auf das hochgewachsene liebliche Mädchen, das fast ebenso weiß war wie die Binde, die sich um ihren dunklen Scheitel legte.

Mit großen, traurigen Augen blickte Olly in die drohenden, finsteren Gesichter. Da war manch einer darunter, mit dem sie in den Tagen der Kindheit gut Freund gewesen.

»Was wollt ihr?« fragte sie, die Stimme zur Ruhe zwingend, und trat mutig an die Verandabrüstung.

»Brot – gebt uns Brot – wir hungern!« Wilder Tumult erhob sich wieder.

Vergeblich versuchte Olly, sich in demselben Gehör zu schaffen.

»Was will das Mädel hier – der Kommerzienrat soll kommen!« wurden Stimmen laut, während unreife Burschen, welche die Arbeiter aufgehetzt, mit gellenden Pfiffen alles übertönten.

Da trat aus den ungezügelten Massen ein weißhaariger Alter. Er schritt zur Veranda und stellte sich neben die Tochter des Kommerzienrats.

»Seid ruhig,« begann er, »sie hat es stets jut mit uns Arbeitern jemeint. Selbst jetzt, im Ausstand, hat sie mir Jeld jejeben, damit meine Enkelchens nich hungern sollten.«

Beifälliges Gemurmel erhob sich. Hier und da löste sich einer aus der Menge und trat zur Veranda. Der Arbeiter Schulz, den Olly einst im Krankenhause besucht, und so mancher andere ihrer alten Freunde. Wie eine schirmende Mauer stellten sie sich vor das furchtlose Mädchen.

»Ruhe – sie soll zu uns reden!« Die johlenden Burschen wurden zum Schweigen gebracht.

»Mein Vater ist krank von der Aufregung und dem Gram, den ihr ihm bereitet; ihr könnt ihn nicht sprechen«, begann Olly mit gepreßter Stimme. »Ich bin, wie ihr seht, von einem Stein verwundet, den Gehässigkeit aus eurer Mitte geschleudert.«

Sie mußte eine Pause machen, das Murren wurde wieder laut, aber diesmal galt es dem Missetäter.

»Ihr selbst hungert – das sind die Errungenschaften des Streiks!« fuhr Olly mutiger fort. »Viele, viele Jahre habt ihr treu mit uns zusammengehalten, mein Vater ist auch euch stets wie ein Vater gewesen. Und das soll mit einem Male alles vergessen sein? Stets habe ich meine Freunde in euch gesehen, und nun seid ihr plötzlich meine Feinde geworden!« Es war, als ob die weiche Mädchenstimme die tosenden Wogen des Aufstandes zurückebben ließ. Wieder traten einige der Streikenden mit gesenktem Kopf zu den an der Veranda Stehenden.

»Mein Vater hat es verschmäht, die Polizei gegen seine Arbeiter zu Hilfe zu rufen. Er will friedlich mit euch unterhandeln und euren Forderungen, soweit es recht und billig ist, zu entsprechen suchen. Wenn ihr die Arbeit ruhig wiederaufnehmt, wird er vergessen, wie ihr heute dort drüben« – sie wies nach der Fabrik – »gehaust habt. Vor allem aber sollen eure unschuldigen Kinder nicht länger Hunger leiden. Wer wieder arbeiten will, der trete hierher und nehme an Brot und Lebensmitteln in Empfang, was wir hier im Hause haben, soweit es reicht; den anderen wird Geld zu Brot vorgeschossen.«

»Brot . . .« Die hungernden Massen drängten unaufhaltsam nach vorn. Umsonst ertönte hier und da der verächtliche Ruf: »Streikbrecher!«

Keiner vernahm in dem Lärm das Rattern eines anfahrenden Autos.

Da stand neben der jungen Sprecherin plötzlich mit geladenem Revolver der Ingenieur Wolfgang Steinhardt.

»Zurück,« donnerte er, »wenn euch euer Leben lieb ist!« Er glaubte nicht anders, als der Ansturm entspränge feindlichen Absichten. Olly legte ihm beschwichtigend die Hand auf den drohend erhobenen Arm.

»Nicht so – ordnen Sie es friedlich, die Leute sind bereit, die Arbeit wiederaufzunehmen, die Bedingungen müssen Sie mit ihnen besprechen. Wir wollen nur erst für den ersten Hunger sorgen.« Sie ließ von den Mädchen Körbe mit Eßwaren herbeischleppen, die sie unter die gierig danach Greifenden verteilte.

Am nächsten Tage arbeitete die Fabrik wieder. Ihr Herr aber lag in schwerem Nervenfieber danieder.

Der Streik war zu Ende.



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