Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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11. Kapitel.

Nun muß sich alles, alles wenden

Vier Wochen waren seit dem Eintritt der jungen Berlinerinnen in das Pierresche Töchterpensionat verflossen.

Das Osterfest, das in diesem Jahre besonders spät fiel, stand vor der Tür.

Hatte Olly damals schon geglaubt, ein Frühlingsland zu betreten, so sah sie jetzt mit stillem Entzücken, daß es von Tag zu Tag noch schöner wurde. Das Blühen wollte nicht enden. Jeden Morgen, wenn sie auf die Holzgalerie hinaustrat, auf die alle Zimmer mündeten, fühlte sie, wie sich das Herz ihr weitete, wie ihr Auge heller blickte. Wenn es die von rosenroten Morgenwölkchen umflatterten Schneehalden grüßte, den See mit seinen lieblichen Ufern, dann war es ihr gar nicht möglich, so mißmutig an den Kaffeetisch zu treten, wie sie das zu Hause stets getan hatte.

Dazu kam, daß die Lehrerinnen und Lehrer ihr allgemein wohlwollend entgegentraten. Da hatte keiner eine Ahnung davon, daß sie die faule, verstockte Olly Hildebrandt war. Jeder glaubte, ihr stilles Wesen entspränge dem Gefühl des Fremdseins und der mangelnden Sprachkenntnis. Und jeder bemühte sich daher, es der jungen Deutschen mit den ernsten, oft sogar traurig blickenden Augen heimisch zu machen.

Olly, die so gar nicht an zarte Rücksichtnahme auf ihre Person gewöhnt war, die zu Hause sich halb krank gesehnt hatte nach einem Liebesbeweis des Vaters oder der Geschwister, fand es hier in der Fremde bei Fremden. Gütige Worte, freundliche Blicke, der einzige Schlüssel zu der scheuen, stumpf gewordenen Mädchenseele.

Hier spottete keiner ihrer, keiner wollte sie verletzen oder setzte sie hinter die Schwester zurück. Im Gegenteil! Madame Pierre, die kluge Frau mit den scharfen Augen und dem gütigen Lächeln, hatte es bald heraus, daß hinter dem wenig anziehenden Äußeren der Älteren sich wertvollere Charaktereigenschaften bargen als hinter dem hübschen Lärvchen der andern. Manche Kleinigkeit hatte es ihr offenbart.

Gleich am ersten Morgen, als die Pensionsmutter die Pflichten der Woche, die alle acht Tage wechselten, unter den Pensionärinnen verteilte, da hatte sie wohl gesehen, wie der niedliche Blondkopf ein Mäulchen zog und den Kopf hintenüber warf, als er damit betraut wurde, beim Abdecken des Mittag- und Abendtisches Hand anzulegen.

»Das ist Hausmädchenarbeit und schickt sich nicht für eine Kommerzienratstochter!« Deutlich standen Senta diese Worte auf der weißen Stirn geschrieben.

Aber Madame Pierre kümmerte sich nicht um derartige rebellische Gedanken. Die hatte im Laufe der Jahre schon so manches Hochmutsteufelchen ausgetrieben.

Die dunklen Augen Ollys dagegen hatten aufgeleuchtet, als man ihr mit einer andern zusammen unter Fräulein Richters Leitung die Sorge für den Garten auf eine Woche anvertraute. Als ob Madame Pierre in ihrem Herzen geforscht habe, hatte sie ihr das Arbeitsfeld übertragen, welches ihr das liebste war.

Die Vorsteherin hatte die Beschäftigung in der frischen Luft für Olly ausgesucht, weil sie der Ansicht war, daß in der schönen Natur das Heimweh, von dem sie Olly befallen glaubte, sich am ersten geben würde. Außerdem hielt sie es für geraten, zu allererst das bleichsüchtige, überschlanke Mädchen durch gesunde Arbeit zu kräftigen.

Aber noch andere Gelegenheiten ließen die Vorsteherinnen stillschweigend Vergleiche zwischen den Schwestern ziehen.

Da war der alte, blinde Wilhelm, der schon jahrelang die Stiefel der jungen Fräulein putzte und kleine Dienste in Haus und Garten leistete.

Eines Tages sah die Pensionsmutter von der blühenden Rhododendronlaube aus, wie der Blinde, der jeden Weg in der Umgebung des Hauses kannte, mit seinem schweren Wassereimer vergebens vom Brunnen zurücktastete. Statt an der Küche stand er plötzlich vor dem versteckt gelegenen Komposthaufen und suchte dort umsonst den Eingang. Hinter den Blumenbüschen aber tauchten lachende Mädchengesichter auf.

Senta hatte in Gemeinschaft mit Madeleine Tisch und Stühle, die der Tastsinn des Alten als Wegweiser zu benutzen pflegte, auf einen andern Platz gestellt, um ihn irrezuleiten.

Noch ehe Madame Pierre einschreiten konnte, hatte sich aus der übermütig kichernden jungen Schar, die gerade Frühstückspause im Garten hielt, ein großes, dunkelhaariges Mädchen gelöst. Mit wenigen Schritten stand sie neben dem armen, vergeblich die Finger in die Luft steckenden Blinden. Ohne Zögern griff ihre Hand nach der schwieligen des Alten, und mit freundlichem Wort führte sie den verlegen Lächelnden zum Kücheneingang.

Dann aber wandte sie sich mit empörten Augen der Schwester, welche den herzlosen Streich mitangestiftet, zu.

»Pfui, schäme dich!« rief Olly in deutscher Sprache.

»Dreißig Centimes in die Weihnachtskasse für drei deutsche Worte«, war die lachend in französischer Sprache gegebene Antwort Sentas.

Die Ältere wandte sich stumm ab. Ach, sie wußte ja am besten, wie weh der Spott und das heimliche Gekicher dem Blinden, dessen Ohr noch geschärft war, getan haben mußte. Und doch, hatte sie selbst jemals so ein mildes, verzeihendes Lächeln für ihr angetane Kränkung gehabt wie der arme Blinde? Olly fühlte, daß sie viel von dem einfachen Alten lernen konnte.

Auch in anderer Beziehung. Hatte sie nicht, wo immer sie bisher gewesen, sich die Schönheit der großen Natur durch kleinliche Gedanken an das eigene winzige Ich verdorben? Ja, gerade dann hatte sie ihre Häßlichkeit am schmerzlichsten empfunden.

Und dieser arme blinde Mann hier? Der nicht sah, wie golden der Tag war, wie farbenprächtig die Blüten, wie überwältigend großartig Berg und See, der summte fröhlich bei seiner Arbeit ein Lied aus zufriedenem Herzen.

Wieviel tausendmal besser hatte sie es doch als er! Wie mußte sie dem lieben Gott danken, daß er ihr das Augenlicht geschenkt hatte, um all das Schöne ringsum in sich aufzunehmen!

Solche Gedanken machten Ollys früher meist finstere Miene hell und zufrieden. Ihre Augen blickten von Tag zu Tag jünger und lebensfroher. Auch körperlich fühlte sie sich frischer. Zum träumerischen Umhersitzen und fruchtlosen Gedankenspinnen fand sie hier keine Zeit. Da galt es, im Hause anzugreifen, beim Aufräumen der Zimmer zu helfen, eine Torte oder einen Kuchen zu backen, Salate zierlich zu garnieren und sich selbst eine weiße Bluse kunstgerecht zu plätten. Zu allem zog Mademoiselle Louison die jungen Mädchen heran. Sie wußte, wenn sie es ihr auch jetzt nicht im Augenblick dankten, später taten sie es sicher einmal.

Nein, Senta, das verwöhnte Kommerzienratstöchterlein, sowohl als auch Madeleine, die elegante Pariserin, fanden diese häuslichen Beschäftigungen durchaus nicht standesgemäß. Wo es nur irgendwie anging, drückten sie sich davon, aber die »Made«, so gut sie auch sonst war, in bezug auf das Hauswesen verstand sie keinen Spaß.

Ob Senta auch noch solche Gesichter schnitt, sie mußte das glühende Eisen zur Hand nehmen und sich ihre Stickereibluse eigenhändig – versengen. Sie, die bisher immer achtlos mit weißen Blusen, die das Hausmädchen ihr tadellos lieferte, umgegangen, sah jetzt, wieviel Mühe solche Arbeit machte. Die feinen Fingerchen zeigten Blasen, und der weiße Arm – o Schrecken – sogar eine feuerrote Tätowierung. Bei dem unlustigen Drauflosplätten hatte sie ihn mit dem Blusenärmel verwechselt.

Sentchen aber saß neben dem Plättbrett, weinte Tränen teils aus Schmerz, teils aus Ärger, teils aus Mitleid mit sich selbst, und legte geschabte Kartoffel auf das rote Ehrenzeichen der Arbeit.

Olly machte es Freude, der Made zur Hand zu gehen. Sie hatte es ja zu Hause oft genug gewünscht, sich zu betätigen. Sie hatte manches Mal die jungen Fabrikmädel beneidet, die sich nicht den ganzen Tag zu langweilen brauchten.

Geschickt zeigte sich Olly eigentlich nicht. Senta war von Natur aus viel anstelliger als sie. Aber Olly hatte Lust und Liebe zur Arbeit. Und weil die gute Made das sah, ließ sie sich keine Mühe verdrießen, dem jungen Mädchen immer wieder die kleinen Handgriffe zu zeigen.

In den Unterrichtsfächern erging es ihr vorerst weniger gut. Ihre Teilnahmslosigkeit in der Schule rächte sich, sie vermochte dem Unterricht, der natürlich in französischer Sprache erteilt wurde, kaum zu folgen. Aber als sie sah, daß die Lehrer trotzdem freundlich zu ihr blieben, kein ironisches Wort für ihre Unwissenheit hatten, sondern immer wieder versuchten, eine Sache zu erklären, bis sie dieselbe begriffen hatte, erwachte die Dankbarkeit in ihr. In Ollys reichem Gefühlsleben stand die Dankbarkeit obenan. Hier konnte sie die Geduld, welche die Lehrenden ihr gegenüber übten, nicht besser vergelten, als daß sie alle Kräfte dareinsetzte, nachzuholen und mit den andern Schritt zu halten. Willensstärke und gute Geistesgaben besaß sie, das hatte sie ja auch in der Schule für kurze Zeit bewiesen. Aber jetzt erlahmte ihre Schaffensfreude nicht durch ein schlechtes Zeugnis.

Jede freie Minute, welche die Pensionsschwestern zu allerlei Allotria benutzten, verwandte sie auf die Arbeit. Mit zäher Energie konzentrierte sie ihr Denken auf die Bücher. Da konnte es nicht ausbleiben, daß Senta nach einiger Zeit halb erstaunt, halb neidisch in den Unterrichtsfächern zu Olly hinblickte, die auf dem besten Wege dazu war, sie zu überflügeln und in den Schatten zu stellen.

Was die Schwestern bei ihrem Eintritt für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten hatten, nach wenigen Wochen bereits hatte sich ihr Ohr an die fremde Sprache gewöhnt. Wenn Madame Pierre jetzt noch so schnell parlierte, sie verstanden es, freilich mit dem eigenen Sprechen haperte es noch eine ganze Weile.

Das Plappermäulchen der Jüngeren beherrschte die französische Sprache schneller als Ollys schwerfälligere Zunge. Sentas Freundschaft mit Madeleine, die selbst kein Deutsch verstand, beförderte ihre Sprachkenntnis.

Das war aber auch das einzige Gute an der Freundschaft zwischen Senta und Madeleine. Trotzdem letztere mit Olly das Zimmer teilte, und sich fast überall die Stubengefährtinnen anzufreunden pflegten, blieb das auf Nummer 12 aus. Die beiden waren äußerlich und innerlich zu verschieden, als daß sich Fäden der Sympathie zwischen ihnen gesponnen hätten. Olly sah mit überlegenem Achselzucken auf die eitle Pariserin, die nur Sinn für ihre Schönheit und ihre Toilette hatte. Diese dagegen wieder mit stiller Verachtung auf die unschöne Deutsche, die es nicht einmal verstand, das, was einigermaßen hübsch an ihr war, zur Geltung zu bringen. Die mit demselben Mangel an Grazie die Hauskleider trug wie die eleganten.

Nein, da war ihr die blonde Senta, die ihr hübsches Spiegelbild geradeso liebte wie sie selbst, entschieden plus agréable.

Madame Pierre sah mit wenig Freude, daß Senta sich so innig an die rothaarige kleine Schönheit schloß, die dem deutschen Backfisch durch ihre überlegenen Toilettenkünste imponierte. Sie hatte Madeleine überhaupt nur ungern in ihr Haus genommen. Diese hatte Schauspielerblut in den Adern, ihr Vater sowohl als ihre Mutter gehörten zu den bekannten Schauspielern am Pariser Theater. Besonders die Mutter war eine gefeierte Aktrice, ebenso ihrer Kunst als auch ihrer Schönheit wegen.

In solch einem Milieu, dem jedes feste Familienleben mangelte, war Madeleine aufgewachsen. Früh schon hatte das schöne Kind Ausrufe der Bewunderung gehört, wenn sie im weißen Spitzenkleidchen neben der berühmten Mama den Boulevard entlangstolzierte. Je größer sie wurde, umso empfänglicher zeigte sie sich dafür. In einem Alter, wo die deutschen Mädchen noch mit Puppen spielen, hatte das französische Schauspielerkind bereits eine Schar Bewunderer um sich, da blieb für das Lernen natürlich wenig Interesse übrig. Bevor sie als erwachsenes Mädchen sich ebenfalls ganz dem Schauspielerberuf, für den sie hervorragend befähigt war, widmete, hatte der Vater sie noch auf ein Jahr in eine Pension gegeben, um die vernachlässigte Bildung auszufüllen. Aber Madeleine trieb hier alles andere als Lernen. Pah – wozu sollte sie sich das hübsche Köpfchen wohl mit unnötigem Ballast vollpfropfen? Sie studierte heimlich Rollen aus modernen Lustspielen, in denen sie zuerst aufzutreten gedachte, und führte sie vor den Pensionsschwestern auf.

Senta Hildebrandt war ein besonders begeistertes Publikum für alle Künste der rothaarigen Madeleine. Sie dachte schon daran, wie sie später den Freundinnen in Berlin großsprecherisch würde erzählen können, daß sie in der Pension innig mit einer berühmten französischen Schauspielerin befreundet gewesen.

Ja, die Freundschaft mit Madeleine wirkte nichts weniger als günstig auf das an und für sich schon etwas oberflächliche und gefallsüchtige Mädel. Aber, als Senta eines Tages statt mit ihren lose am Hinterkopf aufgesteckten Blondzöpfen mit Korkenzieherlocken, wie Madeleine sie trug, zum Garnieren des Heringssalates im Reich der Made erschien, schickte diese sie mit lebhaftem Protest wieder nach oben. Madame Pierre aber nahm sich das eitle junge Ding vor und warnte es ernst vor dem schädlichen Einfluß der jungen Pariserin.

Verbotene Früchte schmecken am besten – Madame Pierres Warnung hatte nur zur Folge, daß sich Senta heimlich noch inniger an Madeleine schloß.

Auch Olly sah es mit Bedauern. Sie hielt die Französin, mit der sie so eng zusammen hauste, ganz und gar nicht für einen geeigneten Umgang. Aber eine dahinzielende Bemerkung Ollys hatte die Schwester höhnisch zurückgewiesen.

»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, oder bist du am Ende gar neidisch auf unsere Freundschaft?«

Nein, neidisch war Olly ganz gewiß nicht darauf. Auch nicht auf die Tatsache, daß Senta bei allen Pensionsschwestern weitaus beliebter war als sie selbst. Das war doch ganz natürlich, das verdachte sie keiner.

Olly hielt sich auch hier zurück. Sie nahm nicht teil an den heimlichen Streichen, an den verstohlenen Pralinéeinkäufen und kleinen Arbeitsmogeleien. Aber von den gemeinsamen Sportspielen, Golf, Tennis, Krocket, von den Schwimmstunden und Ruderfahrten, durfte sie sich nicht ausschließen, die gehörten in das Pensionsprogramm. Und das war gut, denn diese Übungen im Freien machten ihre ungelenken Glieder und Bewegungen elastischer, hauchten rosigen Schimmer über die gelblich bleichen Wangen.

Mit Senta selbst setzte es jetzt niemals mehr Streit. Es war keine Gelegenheit dazu. Sie sahen sich kaum allein, denn sie suchten sich nicht. Auf diese Weise vertrugen sie sich vorzüglich.

Freilich wunderten sich die anderen, vor allen Fräulein Richter, daß man die beiden Schwestern so wenig zusammen sah. Der Grund dafür mochte wohl in der Verschiedenheit der Charaktere liegen, aber dennoch . . .!

Fräulein Richter, oder vielmehr »la petite«, spielte die Rolle, die sie am ersten Abend bei Olly Hildebrandt vertreten, auch fernerhin, die eines guten Engels. Sobald Olly in den neuen Verhältnissen sich nicht allein zurechtfand, stand sie ihr zur Seite. Sie ermunterte sie in den Schulstunden, zog sie bei den Mahlzeiten ins Gespräch und vermittelte in den Erholungspausen, auf den Spaziergängen Ollys Zusammensein mit der lachenden Jugend.

Das ernste Mädchen mit dem frühzeitig reifen Blick und dem wehen Zug um den jungen Mund, das so ganz anders war als all' die Mädel, die Fräulein Richter schon hatte kommen und gehen sehen, hatte von Anbeginn ihre Teilnahme erweckt. Nie hatte Fräulein Richter sie jugendlich herzlich und hell lachen hören. Höchstens huschte mal ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht, wie ein scheuer Sonnenstrahl an einem grauen Wintertage. Und doch, dieses Lächeln zauberte einen ganz anderen Ausdruck in das schmale Mädchengesicht.

Heute lächelte Olly nicht. So golden die Sonnenfunken auch auf dem dunkelblauen Wasserspiegel tanzten, so berauschende Düfte auch die farbenfreudigen Blütenglocken zu ihr sandten. In den Lüften rings um sie zwitscherte und jubilierte es, als könnten die kleinen, gefiederten Musikanten gar nicht laut genug ihr Glücksgefühl über die Schönheit des Lenzes in die Welt schmettern.

Ein Rotkehlchen hüpfte von Zweig zu Zweig und blickte neugierig auf das junge Menschenkind, das da ganz versteckt auf einer Lattenbank in den dichten Gängen des Rebenlandes hockte. Warum sang und jubilierte es denn nicht auch an solch einem wonnigen Ostermorgen?

Das zierliche Vögelchen reckte fürwitzig sein Hälschen mit dem schönen, roten Schlips. Nanu – hatte das Mädchen nicht sogar Tränen an den langen, dunklen Wimpern? Erschreckt flatterte das Rotkehlchen davon. Olly aber fuhr sich über die schwimmenden Augen.

Ihr war das Herz heute in all dem Lenzeswunder so schwer, so schwer!

Von den blumenumkränzten Hotelpalästen Territets, die in der Sonne blitzten, glitt ihr Auge weiter. Zu dem düsteren, mittelalterlichen Bau, der seine gewaltigen Felsmauern dräuend und unbarmherzig aus den blauen Wassern des Genfer Sees emportürmt. Schloß Chillon! Ach, hier hatte so mancher, eingekerkert, mit finsterem oder hoffnungslosem Blick, auf die seinem Elend hohnlachende Lieblichkeit des Sees hinausgestarrt. Hier war Lord Byrons Klagesang »Der Gefangene von Chillon« der gepreßten Brust entströmt, hier hatten schon andere gesessen und ihr Leid für das schwerste und tiefste auf der Welt gehalten.

Olly barg das Gesicht in den Händen. Das übermütige Sonnengeflimmer auf dem Wasser, der Glanz des Tages tat ihrem Auge weh.

Der weiche Boden verschlang das Näherkommen von Schritten. Das in ihren Schmerz versunkene Mädchen hatte dessen nicht acht. Erst, als sich eine Hand ihr auf die Schulter legte, und eine Stimme weich und mitleidig in deutscher Sprache: »Olly, liebes Kind, was fehlt Ihnen denn?« fragte, fuhr sie verstört hoch.

Fräulein Richter stand vor ihr. Aus guten, teilnehmenden Augen blickte sie auf das weinende Mädchen.

Beschämt, in ihrem heimlichen Leid überrascht zu sein, erhob sich Olly. Aber Fräulein Richter, die sich bereits neben sie gesetzt, zog sie wieder sanft zu sich nieder.

»Wollen Sie es mich nicht wissen lassen, Kind, weshalb Sie sich hier an dem herrlichen Ostersonntag einsam grämen?« fragte sie leise.

Olly schüttelte den Kopf.

Nein, wenn sie Fräulein Richter auch noch so gern hatte, von dem, was ihr heute das Herz beschwerte, vermochte sie nicht zu sprechen.

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen?« Sanft und weich drangen die Laute der Heimat an Ollys Ohr.

»Mir kann keiner helfen – keiner!« Aufschluchzend schlug das junge Mädchen aufs neue die Hände vors Gesicht.

»Auch nicht unser Herrgott da droben?« Ernst klang Fräulein Richters melodische Stimme. »Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen, Olly, aber vielleicht hat der liebe Gott meinen Schritt heute gerade hierher gelenkt, weil ich Ihnen Trost bringen soll. Man darf die Hand, die sich uns bietet, nicht in egoistischem Schmerze von sich stoßen.«

Olly hob ein wenig beschämt den Kopf. Da hielt ihr die junge Lehrerin mit einer rührend zarten Bewegung ihre schmale, feinädrige Hand hin. Scheu legte Olly die ihre hinein.

So saßen die beiden Hand in Hand unter dem rankenden Weinlaub. Fräulein Richter sprach nicht mehr, sie wartete. Sie verstand in den Seelen zu lesen, sie wußte, daß Olly sprechen würde, sobald sie sich selbst überwunden.

Da öffneten sich auch schon die zusammengepreßten Lippen, und wie gegen den Willen seiner Besitzerin sprach der Mund leise: »Mein Vater verheiratet sich heute wieder!« Die letzten Worte klangen ganz erstickt.

»Kind – Kind, ist denn das ein Grund zu einem solchen Schmerzensausbruch? Wie ist es nur möglich, daß ihr Schwestern so verschieden denkt? Da kam mir vor kurzem im Garten die Senta jubelnd mit einem großen Paket entgegengesprungen, das ihr zu Ehren der Hochzeit soeben erhalten habt. Die eine weint und die andere jauchzt aus der gleichen Ursache – es geht doch wunderbar in der Welt zu!«

»Ich hätte nicht sprechen sollen!« Olly sagte es mehr zu sich.

»Doch, Kind, jetzt wollen Sie sich gekränkt wieder in sich selbst zurückziehen, denken wohl gar, ich hätte kein Verständnis für Ihr Leid. Und doch habe ich das alles einst genau so durchlebt wie Sie. Auch mir gab mein Vater vor Jahren eine neue Mutter, und ich lehnte mich dagegen in unvernünftigem Trotz auf. Freilich, ich war jünger und unverständiger als Sie. Heute ist meine Stiefmutter meine beste Freundin. Vielleicht geht es Ihnen auch noch einmal so, Olly.«

»Nie!« Olly stieß es heftig heraus.

»Glauben Sie nicht, Olly, daß die Dame, die Ihr Vater erwählt hat, um seinen Kindern die Mutter zu ersetzen, auch dessen würdig sein wird?« begann Fräulein Richter nach einem Weilchen wieder.

»Meine einzig geliebte Mama hat sie aus Papas Herzen verdrängt, heute drängt sie unsere Mutter ganz aus dem Hause und aus der Erinnerung!« Nun, da das Eis des zurückdämmenden Schweigens einmal gebrochen war, fluteten Ollys geheimste Gedanken unaufhaltsam in Worte über die Lippen.

Fräulein Richter schaute mit feuchtem Blick auf die Erregte. Jetzt begann sie das über seine Jahre ernste Mädchen zu verstehen.

»Sie sind sicher ungerecht, Olly, wenn Ihr Vater ein noch jugendlicher Mann ist, hat er selbst noch ein Anrecht auf Glück und Freude im Hause. Die neue Mutter hat gewiß gute Eigenschaften – schütteln Sie nicht den Kopf, Kind – Sie sollen mal sehen, wie lieb die Mutter Sie haben wird!«

»Mich lieb – hahaha . . .« Olly brach mitten in dem bitteren Lachen ab, und ihre Stimme schlug in Schluchzen um. »Mich hat kein Mensch lieb!«

»Um Gottes willen, was reden Sie da, Kind!« Fräulein Richters gute Augen blickten geradezu entsetzt drein, »denken Sie an Ihren Vater!«

Eine lange Pause.

Nur süßes Vogelgezwitscher in den Büschen.

»Mein Vater« – Olly sprach jetzt ganz leise, kaum hörbar – »mein Vater hat mich auch nicht lieb!« Ihre Lippen zuckten.

Da schlang die junge Lehrerin den Arm um die Weinende und zog sie dicht zu sich heran. Hier öffnete sich ein solcher Kindesjammer vor ihr, daß sie vorerst nicht mit Worten daran rühren durfte.

Leise streichelte sie den dunkelhaarigen Kopf, der an ihrer Schulter ruhte.

»Ja, wenn Fräulein Arnold wäre wie Sie!« flüsterte Olly nach einer Weile, da sie ein wenig ruhiger geworden.

»Wir können nicht alle gleich sein, – aber nun sagen Sie mir bloß, Olly, wie kommen Sie zu diesem entsetzlichen Irrtum, Ihr Vater könnte Sie nicht lieb haben. Jeder Vater liebt sein Kind!«

»Ich – ich bin ihm zu – häßlich!« Als schämte sie sich, das, was ihre Jugend verdunkelt, hier im hellen Sonnenlicht laut werden zu lassen, verbarg sie aufs neue den Kopf an der Schulter der Lehrerin.

Fräulein Richter lachte befreit auf.

»Kindskopf,« schalt sie liebevoll, »als ob Elternliebe nach dem Äußeren ginge. Als ob ein Vater oder eine Mutter nicht gerade das häßliche Kind besonders an ihr Herz nähme! Im übrigen – ich finde Sie durchaus nicht häßlich, Olly!«

Das junge Mädchen hob jäh den Kopf.

»Jetzt sprechen Sie aus Mitleid gegen Ihre Überzeugung!« Mutlos ließ sie den Kopf wieder sinken.

»Ich lasse mich auch durch Mitleid nicht in der Wahrheit beeinflussen. Elend sehen Sie aus, und als Sie zu uns kamen, noch viel mehr. Aber Sie haben ein interessantes und sympathisches Gesicht – im übrigen, Olly, ist das doch furchtbar gleichgültig! Der innere Wert bestimmt den Menschen, nicht der äußere, wenigstens vor den Leuten, an deren Urteil uns liegen sollte. Ich habe gar nicht gedacht, daß Sie solch eine oberflächliche, kleine Eitelkeit sind!« Fräulein Richter zog, um sie zu trösten, das ernste Gespräch ins Scherzhafte.

Aber so schnell kam Olly nicht von dem sie in den Tiefen ihrer Seele aufrührenden Thema los.

Oberflächlich – eitel – nein, das sollte Fräulein Richter nicht von ihr denken.

»Sie haben mich zu Hause ›das häßliche junge Entlein‹ genannt. Wie dieses bin auch ich wegen meiner Häßlichkeit herumgestoßen, verhöhnt und zurückgesetzt worden!« Selbst das Allerletzte löste die Güte der Lehrerin in dem jungen Herzen.

Da lachte Fräulein Richter nicht mehr. Was für eine beklagenswerte Jugend hatte das reiche Mädchen gehabt!

»Nun denn,« – Fräulein Richter hob Ollys gesenktes Kinn empor – »soweit ich mich auf das Märchen besinne, ist das arme, verkannte Entlein doch mehr wert als all die anderen Enten im Hofe, und wird zuletzt ein herrlicher Schwan. Da müssen Sie ja den anderen für ihren Vergleich noch dankbar sein, Olly«, setzte sie lächelnd hinzu.

»Ich werde niemals zum schönen Schwan werden!« In tiefer Mutlosigkeit sprachen es die jungen Lippen.

»Denken Sie doch nicht immer nur an das Äußere, Olly. Versuchen Sie es, innerlich aus dem grauen, unscheinbaren Entlein einen edlen Schwan zu machen. Das innere Wesen drückt auch unserem Äußeren seinen Stempel auf. Glauben Sie es mir, Kind! Sie sprachen vorhin davon, daß Sie Ihrem Vater zu häßlich seien, waren Sie denn in Ihrem Wesen lieb und gut zu ihm, zärtlich und töchterlich?

Aha – Sie schweigen, Olly. Sehen Sie, daran liegt es, und nicht an Ihrer eingebildeten Unschönheit. Seien Sie ehrlich gegen sich, und Sie werden erkennen, daß Sie selbst zum großen Teil schuld sind an den mangelnden Liebesbeweisen Ihres Vaters. Wie es in den Wald hineinschallt, schallt es heraus! Versuchen Sie selbst es erst, Ihrem Vater liebevoll entgegenzukommen, dann werden Sie sehen, daß auch er Liebe für Sie hat!« so tröstete Fräulein Richter.

»Es ist zu spät, heute ist es zu spät!« Die Tränen schossen wieder heiß in Ollys Augen.

»Es ist niemals zu spät, um etwas Gutes zu beginnen! Schauen Sie um sich, Olly. Sehen Sie das Leben, das Blühen und Reifen ringsum? So glanzvoll und licht der Tag, und doch war es vor einigen Stunden hier dunkle Nacht, vor einigen Monden unfruchtbarer Winter. Es erneut sich alles in der Natur! Haben Sie doch Hoffnungsfreude, wie das solchem jungen Menschenkinde zukommt. Der Lenz ist da – nun muß sich alles, alles wenden!«

Niemals hatte Olly derartig gütige Worte vernommen; sie verfehlten nicht ihren Eindruck auf ihr empfängliches Gemüt.

»Ich danke Ihnen, Fräulein Richter, oh, ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Güte! Und ich will versuchen, innerlich zum Schwan zu werden«, setzte sie leiser hinzu.

»Bravo, Olly! Guter Wille bedeutet schon den ersten Schritt!«

Die Lehrerin zog sie aus dem grünen Dämmerlicht der Weinspaliere hinaus in den strahlenden Sonnenschein.

»Horch – Glockenschlag!« Olly blieb lauschend stehen.

»Das sind die Glocken der Kathedrale – die Osterglocken! Sie rufen zur Auferstehung. Wir wollen das Gute in uns, das geschlafen, das tot gewesen, erwachen und auferstehen lassen. Die Osterglocken singen Ihnen ganz besonders ihr Lied, Kind!«

»Ich habe noch eine Bitte, Fräulein Richter,« – Olly zögerte, weiterzugehen – »bitte, sagen Sie nicht ›Sie‹ zu mir, Sie stehen mir seit heute so nahe, wie kein anderer Mensch!«

»Gern,« – Fräulein Richter schlug einen heiteren Ton an – »aber nur in den Feiertags-, in den Ausnahmestunden! Jetzt wird wieder französisch gesprochen, jetzt heißt es ›vous‹, sonst kriegen wir noch alle beide von Madame Pierre Schelte!«

Arm in Arm schritten die beiden unter dem ehernen Sange der Osterglocken durch das blühende Gelände. Die Wasser des Sees murmelten es, der Lenzwind säuselte es, die lichtgrünen Blätter rauschten und die Blumen flüsterten es leise, die trostbringende Frühlingskunde: »Nun muß sich alles, alles wenden!«



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