Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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9. Kapitel.

Die neue Mutter

Kurze, naßkalte Dezembertage folgten. Grau und unwirtlich. Nur einmal durchleuchtet von hellem Weihnachtsschein.

Der Regen sprühte gegen die Scheiben, der Wind heulte im Ofen, an manchem Tag mußte man in den Fabriksälen, in den Bureaus und in der Rokokovilla von früh bis abends Licht brennen.

Graue Tage bringen graue Laune. Die Märchenstimmung, die vor kurzem die Räume heiter durchstrahlt, war längst verflogen. Das Schneewittchen war wieder zum Aschenputtel geworden, grau und unansehnlich wie alles jetzt in diesem trüben Dezemberlicht. Kein Mensch dachte mehr daran, daß es sich für einen Abend als schöne Prinzessin im Reigen gedreht.

Wirklich keiner?

O doch! Von dem langen Zeichentisch, der über und über mit Blättern, Zirkeln und Reißschienen bedeckt war, flog ab und an ein Gedanke zu dem Märchenabend zurück.

Dann ertappte sich Wolfgang Steinhardt wohl plötzlich bei der Frage: »Wäre es nicht möglich, daß aus dem häßlichen jungen Entlein doch noch einmal ein stolzer, weißer Schwan werden könnte?«

Wenn er dann aber am Sonntagmittag Olly wieder am Tische sitzen sah, einsilbig und mißmutig, blaß, schmalwangig und elend aussehend, das weiche, schwarze Haar stramm aus der Stirn gebürstet, dann schüttelte er unwillkürlich den Kopf. Nein – nie – nie würde aus dem häßlichen jungen Entlein etwas anderes werden! Selbst wenn sie jemals besser aussehen sollte, ihre Unliebenswürdigkeit und ihr abstoßendes Wesen würden dem Gesicht immer den Stempel aufdrücken.

Auch Papas Auge irrte bei den gemeinsamen Mahlzeiten jetzt öfter zu seiner ältesten Tochter hinüber. Dann griff er sich unwillkürlich an die Stirn. Wie hatte er nur jemals auf die absurde Idee kommen können, Olly gleiche seiner verstorbenen Frau! Ein Märchenkobold mußte ihn an jenem Abend geäfft haben – konnte man Licht und Schatten miteinander vergleichen? Ja, aber hatten andere es ihm denn nicht auch gesagt? Und Papa schüttelte seinen Kopf geradeso wie Wolfgang Steinhardt.

Fräulein Arnolds Schönheitssinn machte sein Recht geltend. Sie wußte jetzt, daß Olly anders aussehen konnte, nun verlangte sie das auch von ihr. Ja, sie hielt es geradezu für Widerspenstigkeit von dem Mädchen, wenn es so blaß und unlustig dreinschaute, wenn es durchaus nicht leiden mochte, daß weder das Hausmädchen noch sie, Fräulein Arnold, die doch Mutterstelle an den Kindern vertrat, ihm das Haar kleidsamer aufsteckte. Wenn es sich in ungezogenem Ton gegen jede Verschönerung wehrte. Da ließ Fräulein Arnold das undankbare Mädel laufen und schüttelte ebenfalls ihren Kopf.

Die, der all dies Kopfschütteln galt, vermied selbst ängstlich jedes Rückerinnern an das schöne Märchenfest. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, die sie damals mit Entzücken erfüllt, hatte die graue Dezemberlaune zu etwas Alltäglichem, Gleichgültigem herabgedrückt. Warum sollten schöne und häßliche Menschen denn nicht Ähnlichkeit miteinander haben?

Wolfgangs Schneewittchenspruch, den sie gleich nicht für Ernst gehalten, nahm im Verhältnis zu dem Abnehmen der Tage auch an Wahrscheinlichkeit ab: Scharfe, beißende Ironie blieb nur davon übrig.

Das aber, was ihre junge Seele damals in ihren Grundtiefen erschüttert, die Möglichkeit, daß Papa seinen Kindern eine neue Mutter geben könnte, diesen Gedanken schob sie mit aller Energie von sich. Sie wollte nicht mehr an das Wohltätigkeitsfest denken, nur um jener marternden Vorstellung nicht wieder zu begegnen.

Es war ja heller Unsinn!

Trotzdem hatte Olly nicht die Gewalt über sich, daß ihr dunkles Auge nicht ab und zu bang fragend an Papas schönen Zügen hing. Begegnete der Vater einem dieser gequält forschenden Blicke, dann wandte Olly das Auge scheu zur Seite, wie der Dieb, der sich auf seinen Schleichwegen betroffen fühlt.

Sie nahm jetzt dann und wann am Gespräch teil. Sie fragte den Vater, wenn er abends in Gesellschaft gewesen, nach dieser und jener Dame, die vielleicht in Betracht kommen konnte. Aber die harmlose Art, mit der Papa Auskunft gab, sie höchstens wegen ihrer Neugier aufzog, zeigte ihr deutlich, daß sie auf falscher Fährte war. Und dann schämte sie sich wieder grenzenlos, daß sie ihrem heimlich verehrten Papa mißtraute, ja, ihn in Gedanken geradezu umlauerte. Das war unvornehm, unwahr, wie sie es sonst niemals zu sein pflegte.

Oft dachte sie, das einfachste, natürlichste und ehrlichste wäre es, Papa die Äußerung jener Damen zu erzählen und ihn zu fragen, ob etwas daran wäre. Aber im nächsten Augenblick schien ihr solches Tun ungeheuerlich. Niemals würde sie den Mut zu dieser inhaltsschweren Frage besitzen! Wie durfte sie es überhaupt wagen, Papa mit etwas Derartigem zu kommen! Der tiefe Riß, der sie von dem Vater trennte, zeigte sich in solchen Momenten besonders klaffend.

So quälte sich Olly mit dunklen Gedanken durch die dunklen Regentage.

Sie machte keinem Menschen Mitteilung von dem, was sie bedrückte. Wieviel leichter wäre es gewesen, wenn sie gemeinsam mit Senta die Bürde der schweren Gedanken geschleppt hätte. Die Schwester war doch geradeso beteiligt wie sie selbst, vielleicht wußte auch Senta, die mehr in der Welt lebte, mehr herumkam und herumhörte, ihr Näheres darüber zu berichten.

Trotzdem schwieg Olly. Der Geburtstagskuß, den die Schwester ihr damals impulsiv gegeben hatte, war längst von häßlichen, kleinlichen Streitereien wieder ausgelöscht worden. Olly, die von Herzen gehofft hatte, daß der neue Murks durch sein Erscheinen sie der Schwester näherbringen sollte, sah mit Schrecken, daß sich, ganz im Gegenteil, sein rosenrotes Schnäuzchen als Zankapfel zwischen sie schob.

Senta war eifersüchtig. Grenzenlos. Denn Murks der Zweite, der doch ihr geschenkt worden war, der ihr ganz alleiniges Eigentum sein sollte, er erkannte durchaus nicht die Herrin in ihr an. Ja, er sträubte sich gegen ihre Liebkosungen, knurrte und zeigte seine spitzen, weißen Zähnchen.

Eine alte Bauernregel pflegt zu sagen, daß ein Hund denjenigen als seinen neuen Herrn ansieht, der ihm zum erstenmal in der fremden Umgebung sein Futter reicht. Dieses Wort schien Murks' Wahlspruch zu sein. Denn trotz aller zärtlichen Schmeicheleien Sentas hielt er sich getreulich an Olly, die ihn kaum beachtete. Er saß neben ihr bei den Mahlzeiten, sah sie schwanzwedelnd an, ob sie ihn nicht bedachte, und soviel auch Senta »Murks – hierher, Murks!« rief und ihre Worte durch emporgehaltene Leckerbissen unterstützte, Murks strafte sie mit Nichtachtung. Er wich und wankte nicht von seinem Platz.

Das verwöhnte junge Menschenkind, das überall die erste Rolle zu spielen pflegte, sah sich zum erstenmal verschmäht, zurückgedrängt von einer andern. Und diese andere war noch dazu das häßliche junge Entlein!

Sentas Enttäuschung und Empörung über Murks' widerspenstiges Betragen kam gegen Olly zum Ausbruch. Sicher hatte die Schwester den Seidenpinscher vorher abgerichtet, nur um sich an ihrem Ärger zu weiden.

Unter solchen Verhältnissen konnte Olly allerdings nicht daran denken, Senta zur Vertrauten ihrer geheimen Gedanken zu machen. Einige Male hatte sie auch überlegt, Rudi einzuweihen und ihn um seine Meinung zu befragen, aber ein scheu mädchenhaftes Gefühl hielt sie davon zurück. Auch sah sie Rudi jetzt nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten, er arbeitete voll Fleiß auf das bevorstehende Abiturientenexamen hin und benutzte jede Minute zur Wiederholung.

Ihre Freundin Kätchen Lehmann aber an ihren Befürchtungen teilnehmen zu lassen, das brachte Olly in ihrer verschlossenen Art noch viel weniger fertig. Trotzdem die Gemeinschaft zwischen den beiden Mädchen sich von Tag zu Tag vertiefte, es gab eine Grenze, vor der Ollys Vertraulichkeit, aller Backfischart zum Trotz, haltmachte.

Der Verkehr mit Kätchen war der einzige Lichtblick in all diesem Regengrau. Nachdem Olly das gemütliche, vom liebevollen Walten der Mutter durchwärmte Beamtenheim kennen gelernt, kam ihr die Rokokovilla mit all ihrem Glanz nur noch kälter und unwirtlicher vor. Es fehlten für das abseits von den andern stehende Mädchen dort die Sonnenstrahlen der Liebe.

Scheu und abweisend, wie das nun mal in ihrer Art lag, trat Olly auch der Mutter der Freundin zum erstenmal gegenüber. Sie wäre so gern nett gewesen, sie hätte was drum gegeben, wenn sie wie Senta verbindliche Worte des Dankes für die Aufforderung gefunden hätte. Doch kein Ton wollte ihr über die Lippen, stumm und dumm stand sie da.

Frau Amtsgerichtsrat Lehmann hatte aber von ihrem Kätchen schon genügend über die Eigenart der neuen Freundin erfahren. Sie zog die steif Dastehende mit herzlichen Worten sogleich zu sich heran und sagte ihr, wie sie sich freue, daß ihre Tochter endlich eine Herzensfreundin gefunden hätte.

»Mein Kätchen hat es nicht so gut wie Sie, die Sie Ihrer zwei sind, mein Mädel entbehrt gar oft eine Schwester.«

Was – Olly blickte geradezu verblüfft auf Senta – sie hatte es gut, daß sie eine Schwester hatte? Bis jetzt hatte sie das eigentlich nur als eine Unannehmlichkeit mehr in ihrem Leben betrachtet.

Die Jüngere verzog die Lippen ein wenig spöttisch. Auch sie fand Kätchen Lehmann nicht so sehr bemitleidenswert, sie hätte Olly ganz gern entbehrt.

Aber die freundlichen Worte der Frau Amtsgerichtsrat verfehlten doch nicht ihre Wirkung auf Olly.

»Sagen Sie doch ›du‹ zu uns«, stotterte sie. Es klang zwar gar nicht liebenswürdig, sondern im Gegenteil eher abstoßend, aber Kätchens Mutter wußte, wie es gemeint war.

»Ihr seid mir eigentlich schon zu groß, aber wenn ihr es wollt, tue ich es gern, man kommt gleich in ein freundschaftlicheres Verhältnis zueinander.«

Senta machte durchaus kein erbautes Gesicht. Sie spielte für ihr Leben gern das junge Fräulein und fand es geradezu empörend von Olly, daß sie ihr das eingebrockt. Wie kam denn eine wildfremde Dame dazu, sie, ein sechzehnjähriges Mädchen, wie ein Baby zu duzen!

Überhaupt, so oft Senta mit bei Amtsgerichtsrats war, erschien es Olly dort lange nicht so traulich, als wenn sie allein da war. Olly selbst war auch dann eine andere. Sie gab sich nie so frei und ungezwungen der Freundin und ihren Angehörigen gegenüber. Es war, als ob die Gegenwart der hübschen Schwester geradezu lähmend und niederdrückend auf sie wirkte. Selbst Kätchens Mutter war dieser jähe Wechsel in Ollys Wesen aufgefallen.

»Das Mädel müßte mal fort von Haus, unter Fremde, wo es niemand kennt und keiner ein Vorurteil gegen es hat. Da würde es sich vielleicht ganz anders entwickeln. Denn es hat trotz aller Härten und Kanten famose Eigenschaften«, meinte die verständige Frau oft.

Zum Glück fand Senta an dem Verkehr mit dem harmlosen, bescheidenen Kätchen keinen besonderen Gefallen. Kätchen erzählte nichts von schicken Kleidern und eleganten Backfischgesellschaften. Da war ihr Irmgard von Buschen doch tausendmal interessanter.

Auch Kätchen Lehmann fand es viel netter, wenn sie mit Olly allein war. Auffordern mußte sie die Schwester, die ihr viel zu oberflächlich und äußerlich war, ja jedesmal aus Höflichkeit. Aber wenn Senta einen Grund hatte, abzulehnen, atmeten sie alle drei erleichtert auf.

Der Jahreszeiger rückte auf Weihnachten. Man wußte jetzt nichts mehr von grauen Regentagen, das Lichterfest warf seinen Schimmer voraus.

Allenthalben regten sich fleißige Mädchenfinger. Die Weihnachtsarbeiten bildeten in der Schule ein unerschöpfliches Gesprächsthema. In den letzten Wochen durften sogar die Handarbeitsstunden zum Fertigstellen der Weihnachtsstickereien benutzt werden. Hei – da flogen die Finger anders als bei den langweiligen Kappnähten an dem stumpfsinnigen Männerhemd, das kein Sterblicher je tragen konnte.

Alle hatten sie Weihnachtsarbeiten mit in die Schule gebracht, diese größere, jene kleinere. Je nach Geschicklichkeit und Höhe des Taschengeldes.

Nur Olly Hildebrandt hatte nichts mitzubringen. Sie war wieder ausgeschlossen von der fröhlichen Gemeinschaft.

Seit Mamas Tode hatte sie keine Arbeit mehr zum Heiligabend gemacht. Sie war zu ungeschickt und zu unlustig dazu. Sich wie Senta von den jeweiligen Hausdamen den größten Teil der Stickerei arbeiten zu lassen, es nachher für eigenes Kunstwerk auszugeben und Dank und Lob dafür mit Gemütsruhe einzustreichen, das brachte sie nicht fertig. Lieber ließ sie's ganz.

Kätchen Lehmann, die selbst voll Eifer an Vaters Rodelmütze und Schal arbeitete, konnte es gar nicht fassen, daß die Freundin überhaupt keine Anstalten dazu machte, den Ihrigen eine Weihnachtsfreude zu bereiten. Und wenn man auch noch so wenig gut miteinander stand, das Fest der Liebe überbrückte doch auch die schärfsten Gegensätze.

»Olly, wollen wir nicht etwas für deinen Vater besorgen und für Fräulein Arnold? Senta würde sich gewiß auch über eine kleine Arbeit freuen«, stellte Kätchen zum soundsovielten Male vor.

»Ich habe Papa nie was gearbeitet. Für Fräulein Arnold werde ich mich, Gott weiß, nicht abquälen, und Senta schenkt mir ja auch nichts«, lehnte Olly ab.

»Man muß alles zum erstenmal tun, paß auf, dein Vater freut sich über eine Arbeit«, überredete Kätchen weiter. Einen Augenblick wurde Olly schwankend.

Dann zog sie die Augenbrauen finster zusammen und sagte kurz: »Nein!«

Aber als sie der Freundin enttäuschtes Gesicht sah, setzte sie in weicherem Tone hinzu: »Du kannst das nicht so verstehen, Kätchen – bei uns ist eben alles anders!« Das klang so wenig schroff mehr, so traurig und liebebedürftig, daß das zärtliche Kätchen den Arm um Ollys lange Gestalt schlang und ihr einen leisen Kuß auf die Wange drückte.

Trotz des abweisenden »Nein« kämpfte Olly noch manchen Tag mit sich, ob sie Papa nicht doch eine kleine Arbeit machen sollte. Vielleicht strich er ihr dann wieder zum Dank über das Haar wie an jenem Wohltätigkeitsabend. Aber nein – er würde es vielleicht als Aufdringlichkeit empfinden, er würde am Ende ein Wort des Staunens dafür haben, das verwundete Olly im voraus schon.

So steckte man die große, silbergeschmückte Edeltanne, die vom Fußboden bis zur Decke reichte, in der Rokokovilla an, ohne daß Olly Gaben auf die lange Geschenktafel gebreitet hätte.

Aber sie hatte doch auch ihre Weihnachtsfreude. Nach manchem mißlungenen Anlauf hatte sie es endlich über sich gebracht, Papa zu bitten, daß sie dem wieder in sein Heim übergesiedelten Arbeiter Schulz und dessen Familie eine Weihnachtsüberraschung machen dürfte.

»Meinetwegen«, hatte der Kommerzienrat geantwortet. Dem zu Schaden gekommenen Mann war von der Berufsgenossenschaft eine Rente ausgezahlt worden, er hatte ein erkleckliches Sümmchen von dem Wohltätigkeitsabend erhalten und außerdem einen ganz gut besoldeten Posten in der Fabrik.

So zog Olly denn, während Senta Fräulein Arnold beim Aufbau half, eines der Mädchen mit einem großen Korbe und einem niedlichen kleinen Bäumchen neben sich, in die enge, dunstige Straße, in der die Arbeiterwohnung lag.

Es hatte aufgehört zu regnen. Droben am samtdunklen Abendhimmel steckten die Englein ein Weihnachtslichtlein nach dem andern an. Jetzt hier ein Stern, jetzt dort – bis der ganze große Weltenweihnachtsbaum blitzte und funkelte.

Auch Olly entzündete draußen auf der dunklen Treppe die Wachskerzen an ihrem kleinen Bäumchen und schob es behutsam zur geöffneten Tür hinein. Heller Kinderjubel schallte heraus: »Der Weihnachtsmann – der Weihnachtsmann ist da!«

Aber als der Weihnachtsmann, selbst ein wenig befangen, nun näher trat und sich als das junge Fräulein von Kommerzienrats entpuppte, da wichen die Kleinen, den Finger im Munde, scheu zurück. Erst die mitgebrachten Spielsachen und Süßigkeiten, die Olly auszupacken begann, machten sie wieder dreister. Eins nach dem andern der Flachsköpfe kam heran, um sein Teil in Empfang zu nehmen. Doch als sie nun die Pferdchen, die Püppchen, die Zinnsoldaten und Märchenbilder in Händen hielten, da war der Bann gebrochen. Helles Kinderglück erfüllte das armselige Stübchen. Und in all dem Lachen und Jauchzen stand das häßliche junge Entlein, heute nicht abseits von den andern, nein, mit jedem der Kleinen selbst ein fröhliches junges Menschenkind.

Wer sie so gesehen hätte, der hätte es wohl kaum für möglich gehalten, daß dies dasselbe Backfischchen war, das eine Stunde später freudlos, mit gleichgültiger Miene, die reichen Gaben in der väterlichen Villa in Empfang nahm.

Das Mädchen, das auch ihren Weihnachten haben wollte, mußte sie ans Heimgehen erinnern. Olly vergaß Ort und Stunde über den Kinderjubel.

»Gott segne Sie, jnädiges Fräulein!« Unter warmen Dankesworten der Eltern entschloß sie sich endlich zum Heimweg.

Das Herz war ihr so voll, so froh und glücklich, wie schon lange nicht mehr. Aber je mehr sie sich von der bescheidenen Arbeiterbehausung entfernte, je näher sie der eleganten Rokokovilla kam, desto stiller ward es in ihr. Als ob die Herzensfreude in ihrer Brust vor dem hellen Kerzenglanz scheu verstummte.

Nur einmal wurde sie noch laut, als Olly das heute festlich stille Fabrikterrain umschritt. Als sie daran dachte, wie schön das wohl sein müßte, wenn ein großer Tannenbaum in einem der geräumigen Säle aufflammen würde, wenn sich all die vielen Arbeiterkinder, deren Eltern in der Fabrik tätig waren, darunter scharen würden, um ein Spielzeug und eine nützliche Gabe in Empfang zu nehmen.

So träumte Olly mit offenen Augen, bis sie eine Stimme unsanft weckte. In der Diele stand Fräulein Arnold mit echauffiertem Gesicht und schaute nach der Saumseligen aus.

»Selbst den heutigen Abend verdirbst du einem, jetzt haben wir über eine halbe Stunde mit der Bescherung auf dich warten müssen«, empfing sie Olly vorwurfsvoll.

Da erlosch auch der letzte Funken Weihnachtsfreude in Ollys dunklen Augen, nur auflehnender Trotz glomm darin auf.

Die Klingel mit ihrem helljauchzenden Ton, die schon zu Mamas Lebzeiten die Kleinen zur Kinderseligkeit gerufen, erhob ihre Stimme.

Das junge Mädchen stand vor dem reichbesetzten Platz, nahm das kostbare Pelzwerk pflichtschuldigst in die Hand, sah stirnrunzelnd auf das neue rosa Gesellschaftskleid, in dem es kaum weniger Zurücksetzungen würde erdulden müssen als in seinem alten weißen, und streifte die Goldkäferschuhe mit geradezu feindseligen Blicken.

Dann ging Olly zum Papa, bot ihm wie in jedem Jahre errötend die Hand und stieß ein rasches »Danke vielmals« heraus.

Dasselbe Manöver wiederholte sich bei Fräulein Arnold, nur daß der Dank für das geschenkte Kopftuch ihr noch schwerer über die Lippen ging. Die Geschwister beschenkten sich nicht gegenseitig.

Aber da stand noch einer, der alljährliche Weihnachtsgast, den Olly bisher geflissentlich übersehen: Wolfgang Steinhardt. Er nahm gerade von Senta die Weihnachtsarbeit, eine Zeitungsmappe, an der Fräulein Arnold fleißig hatte mithelfen müssen, in Empfang.

»Ganz allein gemacht, Sentchen, wirklich?« neckte er.

Der Blondkopf nickte und warf einen schnellen Blick zu Fräulein Arnold hin. Der bat: Nichts verraten!

Aber Wolfgang verstand sich auf Physiognomien.

»Wie hieß doch das Grillparzersche Stück, das ich dir zum Geburtstag geschenkt habe?« fragte er, mit dem Finger drohend.

»Herrgott, du alter Schulmeister, jetzt bekommst du die Zeitungsmappe gar nicht!« lachte Senta, da sie sich ertappt sah. Dann nahm sie mit strahlendem Gesicht sein Geschenk, ein reizendes Aquarellbildchen, in Empfang. Auch Rudi und Herbert wurden bedacht. Ersterer probierte sogleich seinen Füllfederhalter auf jedem Fetzen Papier, und der Kleine zielte mit der soeben erhaltenen Riesenkanone heimlich nach Ollys Nase.

Nun wandte sich der junge Ingenieur der ältesten Tochter des Hauses zu. Er tat, als ob er es gar nicht gemerkt hatte, daß sie bisher keinen Gruß für ihn gehabt.

»Na, Olly, und wo ist deine Handarbeit für mich?« begann er scherzhaft, als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen.

Olly zog die Augenbrauen noch etwas dichter zusammen und beschäftigte sich eingehend mit dem rosa Gesellschaftskleid, trotzdem sie eigentlich recht wenig Interesse dafür hatte.

»Siehst du, ich bin besser als du, ich habe dir eine Handarbeit gemacht«, fuhr Wolfgang immer noch scherzend fort,

Olly schürzte die Lippen. Sie hatte sich fest vorgenommen, falls er es nach der ihr angetanen Schmach noch wagen sollte, ihr heute ein Geschenk zu bringen, dasselbe zurückzuweisen.

»Ich habe mich jetzt in meinen Mußestunden auf das Buntphotographieren gelegt – ich wollte dir gern eine Freude machen, Olly.« Er wickelte einen kleinen Gegenstand aus Seidenpapier und stellte ihn vor die sich gleichgültig Abwendende.

»Ich nehme von Ihnen nichts geschenkt!« Keinen Blick warf sie auf die Gabe.

»Olly, ich habe gehofft, der heutige Abend würde auch dich versöhnlich stimmen, denkst du kleiner, als ich es von dir geglaubt?« Wie ernsthaft seine Stimme auf einmal klang.

Olly antwortete nicht. Sie kämpfte einen schweren Kampf mit sich. Ein heimlicher Seitenblick streifte das mißachtete Geschenk, da – zuckte sie zusammen. Sie wurde rot, sie wurde blaß.

Ein kleines Bild war es für den Schreibtisch – das Bild ihrer Mutter. Eine farbige Photographie des großen Ölgemäldes, das drin im Rauchzimmer hing. Wolfgang Steinhardt wußte es, womit er ihr die größte Freude bereiten konnte. Warm quoll es in Ollys Herzen empor.

Aber die Hand, die sich ihm impulsiv entgegenstrecken wollte, sank schlaff herab, das Dankeswort, das sich ihr auf die Lippen drängte, blieb ungesprochen. Als hätte es jemand hinter ihr gerufen, so gellte es Olly plötzlich ins Ohr: »Häßliches junges Entlein!« Und doch waren die Worte nicht gefallen, nur Ollys brausendes Blut schrillte sie durch den Raum.

»Willst du mein Geschenk nicht annehmen, Olly?« fragte der ehemalige Freund aufs neue.

Olly schüttelte heftig den Kopf. Dann blickte sie mit verschleiertem Blick auf das kleine Bildchen, als müßte sie die Mutter um Verzeihung dafür bitten, daß die Tochter sie verschmähte.

Wolfgang Steinhardt sagte nichts mehr. Still packte er seine zurückgewiesene Gabe in Papier und schob sie in die Tasche.

Das Intermezzo war den andern nicht weiter aufgefallen. Jeder war heute mit seinen eigenen Geschenken beschäftigt.

Senta sang und sprang in ihrem neuen Staat umher, Herbertchen entlockte seiner Harmonika höchst musikalische Töne, und Murks der Zweite begleitete die allgemeine Weihnachtsfreude durch beinahe ebenso musikalisches Geblaffe.

Allgemeine Weihnachtsfreude?

Wer das lange, schmalschultrige Mädchen mit dem bleichen Gesicht da an der mit Tannengrün und Rosen geschmückten Tafel sitzen sah, der dachte wohl an alles andere eher als an Weihnachtsfreude. Es zuckte und arbeitete um den blaßroten Mädchenmund, es brannte in den dunklen Augen. Olly mußte alle Kraft einsetzen, um die immer wieder aufsteigenden Tränen niederzuzwingen.

Die Weihnachtslichter brannten nieder. Sie wurden am Silvesterabend durch neue ersetzt. Das alte, graue Jahr mit seinen Regentagen schlich sich davon, und im frostklirrenden Eispanzer sprang das junge Jahr in die Welt hinein. Wie ein rechter ausgelassener Schlingel, der seine neue Weihnachtsuniform in der Sonne funkeln und blitzen läßt.

Das Räderwerk der großen Hildebrandtschen Maschinen rollte weiter, und auch das Räderwerk in der weißen Rokokovilla. Ein Tag nach dem andern rollte dahin. Der Kanal, auf dessen Kristallspiegel sich die Jugend, mit Ausnahme von Olly, fröhlich auf ihren Schlittschuhen tummelte, ward schartig und rissig. Der Schnee im Garten auf Rasenflächen und Buschwerk gelb und unansehnlich.

An einem sonnenhellen Februartage war's, da stürmte Kommerzienrats Ältester ganz besonders forsch die Stufen zum väterlichen Hause empor. Und »Vivat – durch!« schrie er, daß Fräulein Arnold vom Leinenschrank herbeieilte, daß Senta ihre Mozartsche Sonate im Stich ließ, und selbst Olly über das Treppengeländer herablugte.

Im Frack, mit feierlich weißer Binde und glücklichen Augen stand der neugebackene »Mulus« da. Er hatte das Abiturientenexamen bestanden.

Das gab ein Händeschütteln, ein Küssen, Gratulieren und Freuen ohne Ende. Der Kommerzienrat, dem Herbertchen Kunde gebracht, ließ all seine Zeichnungen und Schreibereien im Stich und eilte spornstreichs zur Villa.

Als Papa, der sonst mit seinem Lob recht zurückhielt, seinem großen Jungen anerkennend auf die Schulter klopfte: »Brav, mein Sohn, nun weiter immer wacker, fleißig und rechtschaffen, dann bleibt auch ferner der Segen der Arbeit nicht aus!« da ward es dem durchaus nicht weich veranlagten Rudi merkwürdig zumute.

»Schade, daß Mama das nicht erlebt hat!« sagte er leise.

In Olly, der einzigen, die wieder bisher abseits gestanden und dem Bruder, trotzdem es sie zu ihm drängte, noch nicht gratuliert hatte, lösten diese leisen Worte jede gewaltsam aufgetürmte Schanze der Zurückhaltung.

Sie dachte nicht mehr daran, daß sie monatelang kaum das Alltägliche mit Rudi gesprochen, daß dieser sich von ihr zurückgezogen. Sie hatte dasselbe warme Gefühl wie damals im herbstelnden Garten. Mit langen Sätzen eilte sie die Treppe hinab, schlang die Arme um den verdutzt Dreinblickenden und lehnte ihren dunklen Kopf gegen seinen hellen.

»Ich gratuliere dir viel-, vielmals, Rudi!«

In peinlicher Röte blickte der junge Mann auf die plötzlich so zärtliche Schwester. Einen raschen Blick zu Fräulein Arnold, zu Papas erstauntem Gesicht und Sentas übermütiger Grimasse, dann siegte das Gute in ihm. Er richtete sich stramm auf, zwang die Verlegenheit nieder und strich sanft über das dunkle Mädchenhaar.

»Ich danke dir, Olly!« Wieviel besser war die Schwester, die von allen mißachtet wurde, doch als er!

Olly hob den Kopf. Sie hatte die Umgebung ganz vergessen. Als sie aber den erstaunten, spöttischen und lachenden Augen aller begegnete, ward sie verlegener als der Bruder vorhin. Ebenso schnell, wie sie die Treppe hinabgeeilt, jagte sie dieselbe wieder empor. In den äußersten Winkel ihres Zimmers zog sie sich zurück, aber das quälende Gefühl, sich lächerlich zudringlich benommen zu haben, folgte ihr.

Nach einem Weilchen klopfte es an ihrer Tür.

Es war Rudi, der Gott weiß wie lange nicht ihr Zimmer betreten.

»Ich möchte etwas mit dir besprechen, Olly«, begann er. »Papa ist der festen Hoffnung, daß ich das Maschinenbaufach studieren werde, um dereinst die Fabrik zu übernehmen. Nun aber interessiere ich mich keine Spur für den ganzen Krempel. Ich bin weder ein guter Mathematiker noch Zeichner. Für mich gibt es nur Medizin – es tut mir ja leid, Papa diese Enttäuschung zu bereiten, aber ich kann doch unmöglich mein Leben seinen Wünschen zuliebe verpfuschen.« Der Bruder sah unschlüssig vor sich nieder.

Olly konnte vorläufig nichts antworten. Ihre Gedanken streikten, die Gefühlstätigkeit in ihr war augenblicklich überstark. Der Bruder kam zuerst zu ihr mit dem, was für sein ganzes Leben ausschlaggebend war. Sie empfand es deutlich: Er wollte gutmachen!

»Du mußt mit Papa sprechen«, sagte sie nach einem Weilchen, ihre Gedanken sammelnd.

»Wenn er nur nicht zu ärgerlich wird!« Selbst Rudi bangte noch heute vor Papas Zorn.

»Das kann alles nichts helfen, Rudi, etwas Ausgesprochenes ist niemals so schwer zu tragen wie etwas scheu Verheimlichtes!« Olly kam sich plötzlich dem fast Neunzehnjährigen gegenüber als die bedeutend Reifere vor.

»Du hast recht, Olly«, er griff nach ihrer Hand. »Und darum will ich auch dir gegenüber nicht mehr schweigen. Ich habe mich erbärmlich, hundserbärmlich feige dir gegenüber benommen!«

»Es ist ja noch nicht zu spät, es zu ändern!« Olly sah den Bruder offen an.

Dieser gab den Blick fest und feierlich zurück, er würde sich selbst nicht wieder ungetreu werden.

»Ich werde heute mittag mit Papa sprechen.« Rudi erhob sich. Es war ihm doch zu bedrückend, die Unterredung in Papas Privatbureau stattfinden zu lassen.

Mit einem kräftigen Händedruck trennten sich die Geschwister. Olly blieb mit frohem Lächeln zurück.

Es war bei der Mittagstafel. Papa war in bester Laune, er hatte eine Flasche Sekt zum besten gegeben. Jetzt hob er den feingeschliffenen Kelch auf eine glückliche Zukunft.

Aber sein Junge tat ihm keinen Bescheid. Der faßte das Sektglas und setzte es dann mit einem kurzen Ruck wieder hin.

»Ich muß es dir sagen, Papa,« die Worte übersprudelten sich wie die Sektperlen im Glase, »ich kann nicht Ingenieur werden, ich habe keine Neigung dazu!«

Der feine Fuß des Kelches in des Kommerzienrats Hand zersprang schrill. So fest hatten seine Finger zugepackt.

»Und was denn, wenn ich fragen darf?«

»Laß mich Medizin studieren, Papa, dafür habe ich von klein auf Interesse gehabt«, stieß Rudi bittend hervor.

»Hahaha.« Der Kommerzienrat lachte hart auf. »Dafür hat man gearbeitet und sich gemüht, Stein auf Stein zu seinem Lebensbau getragen, daß der Herr Sohn, nun das Werk bald vollendet, es mit einem leichtsinnigen ›Ich habe kein Interesse dafür!‹ wieder einreißt! Hahaha.« Des Kommerzienrats blaue Augen blitzten.

»Papa, Herbert ist doch auch noch da, der kann doch mal die Fabrik übernehmen«, wagte Rudi bescheiden einzuwerfen.

»Schweig!« polterte Papa. »Auf dich habe ich meine Hoffnungen gesetzt, mein Ältester sollte mich nun bald entlasten, und statt dessen – es ist um aus der Haut zu fahren!«

»Aber wenn Rudi sich doch nicht für das Fach eignet, Herr Kommerzienrat«, warf Fräulein Arnold mit bewunderungswürdigem Mute ein.

Der Kommerzienrat sah sie an, und seine gefurchte Stirn glättete sich.

»Erledigt!« sagte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Du gehst zu Ostern nach Heidelberg und studierst dort Medizin. Und ich, ich werde meine Hoffnungen noch ein Endchen weiter tragen, bis Herbertchen mir vielleicht eines schönen Tages ebenfalls den Stuhl vor die Tür setzt.«

»Papa – laß mich Ostern aufs Gymnasium gehen und später das Maschinenbaufach studieren«, stieß da Olly, heiß errötend, hervor.

Ein allgemeines Gelächter erhob sich an der Tafel. Papa mußte sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen wischen, so herzlich lachte er. Fräulein Arnold und Senta hielten sich die Seiten, Herbertchen johlte geradezu. Auch Rudi nahm die Sache für einen Scherz.

»Mädel, solch einen guten Witz hast du dein Lebtag nicht gemacht!« Papa lachte noch immer.

»Es ist mein Ernst!« Ollys Lippen bebten. Seit langer Zeit hatte sie, die stets ein Traumleben für sich führte, an diesem Zukunftsplane gesponnen. Wenn die Mädchen in der Schule davon sprachen, was sie nach absolvierter Schulzeit beginnen wollten, daß die eine das Lehrerinnenexamen machen, die andere studieren und die dritte einen hauswirtschaftlichen Beruf ergreifen wollte, dann hatte sie stillschweigend auch für sich Luftschlösser gebaut. Die Maschinen, die sie als Kind schon mehr geliebt als das schönste Spielzeug, die ihr von klein auf vertraute Freunde gewesen, wollte sie in ihren geheimsten Rädchen, Hebeln und Spulen ergründen.

Nun war der stillgehegte, sorglich gehütete Lieblingswunsch ihren Lippen entflohen. Und man lachte darüber, lachte noch immer!

»Es studieren viele Mädchen«, kam Rudi, um ihr die gelobte Kameradschaft zu halten, der Schwester zu Hilfe.

»Ja, aber andere als Olly! Kommt kaum durch die Klassen, bringt stets Schundzensuren nach Hause und will studieren! Es ist wirklich eine edle Dreistigkeit!« Der Kommerzienrat blickte jetzt mißbilligend auf die Tochter.

»Ja, ich muß auch sagen –« begann Fräulein Arnold.

»Eine Fremde hat dabei überhaupt nicht mitzusprechen!« sprudelte Olly empört heraus.

»Herr Kommerzienrat –« Fräulein Arnold sah auf Papa.

Der stand plötzlich kurz entschlossen auf.

»Folge mir, Olly«, er winkte ihr in das Nebenzimmer. Dort schritt er erst einige Male erregt auf und nieder.

»Ich habe dir schon einmal befohlen, Olly, Fräulein Arnold gegenüber den schuldigen Respekt nicht außer acht zu lassen. Es ist das letztemal heute, daß ich dies dulde – hast du mich verstanden?«

Olly senkte tief den Kopf.

Dann aber hob sie das Gesicht mit jähem Entschluß zum Vater empor. Sie wußte nicht, woher sie den Mut zu dem, was sie sagen wollte, nahm.

»Papa, lieber Papa,« – zum erstenmal gebrauchte sie eine Zärtlichkeitsform – »bitte, schicke Fräulein Arnold zu Ostern fort. Da du mich nicht studieren lassen willst, so laß mich den Haushalt führen, wenn ich aus der Schule bin. Ich werde doch in der nächsten Woche schon siebzehn!« Leise und leiser war Ollys Stimme geworden, Papas unbewegliches Gesicht ließ sie verstummen.

Der Kommerzienrat hatte sie ruhig ausreden lassen. Jetzt sah er sie durchdringend an.

»Fräulein Arnold zu Ostern fortschicken – jawohl, das will ich!« In Ollys dunklen Augen leuchtete es auf. Papa fuhr fort: »Wahrscheinlich sogar schon eher. Aber zu Ostern kommt sie wieder, nicht mehr als Fräulein Arnold, sondern als meine Frau, als eure neue Mutter! Ich habe mich gestern mit ihr verlobt.«

»Papa – – –« ein Wehschrei durchgellte das Zimmer.

Dann sank Olly plötzlich zu Boden, wie hingemäht von der furchtbaren Wahrheit.

Ein gütiger Engel hatte ihr Denken in eine tiefe Ohnmacht gehüllt.



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