Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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2. Kapitel.

Backfischgesellschaft

Bei Irmgard von Buschen war Backfischgesellschaft. Zu Ehren ihres sechzehnten Geburtstages hatte sie ihre sämtlichen Freundinnen auf goldumränderten Karten eingeladen. Keine Nachmittagsschokolade mit Baisertorte – o nein, ein regelrechtes Lämmerhüpfen mit richtigen Herren!

Trotzdem Irmgard noch in die Schule ging, tat sie schon ganz so wie eine junge Dame. Sie war ein großes, schlankes Mädel mit kastanienbraunem Haar, braunen Rehaugen und pfirsichblütenem Teint. Das sah alles sehr hübsch aus, weniger hübsch aber war es, daß keiner mehr von Irmgards Schönheit überzeugt war als sie selbst. Der Zug unter dem feinen Näschen zu den Mundwinkeln hin verriet es deutlich: »Ich bin bildhübsch, ich gefalle jedem, selbst die Leute auf der Straße sehen sich nach mir um.«

Gegen ihre Freundinnen war Irmgard ziemlich hochfahrend und herrschsüchtig. Aber da sie schon fast ganz lange Kleider trug und die Haare bereits zum Nest am Hinterkopf gesteckt hatte, ordneten sich die andern ihr willig unter. Irmgard von Buschen war tonangebend in der Oberklasse.

Während der Unterrichtsstunden freilich nicht. Herrgott, da hatte sie wirklich an anderes zu denken als an schlesische Dichterschulen und unregelmäßige Verben!

Es hatte große Aufregung in der Oberklasse geherrscht, wen Irmgard wohl alles einladen würde. Manches Mädchenherz hatte heimlich bang geschlagen, denn wer mit Irmgard von Buschen verkehrte, gehörte zu den Vornehmen in der Klasse. Manche Empörung und manches Sichzurückgesetztfühlen hatten die goldumränderten Kärtchen ausgelöst, aber auch freudigen Stolz, ungeduldige Erwartung und wichtige Kleiderfragen.

Selbst Olly, die häßliche Olly Hildebrandt, die fast alle in der Klasse über die Achsel ansahen, und über die man sich heimlich allgemein lustig machte, war gebeten. Allerdings nur nach heftigem Kampfe mit Irmgards Mutter. Das Töchterchen wollte durchaus nur Senta und Rudi, wenn der auch eigentlich noch ein grüner Junge war, zu ihrem Geburtstag einladen. Aber das gab Frau Hauptmann von Buschen nicht zu. So konnte man Kommerzienrats nicht vor den Kopf stoßen.

»Ach die« – machte Irmgard und warf die Lippen auf, »die setzen Olly ja selbst am meisten zurück.« Aber sie drang diesmal nicht mit ihrem Willen durch.

So mußte auch Olly sich an dem bewußten Sonnabend in Gala werfen. Irmgard hatte ihr mit der Einladung gar keinen Gefallen getan. Nirgends fühlte sie sich unglücklicher, täppischer und von der Natur mehr vernachlässigt als unter lachenden, hübschen jungen Mädchen. Und nun noch gar mit richtigen Herren? Das, was Sentas Backfischherz mit hellem Jubel erfüllte, war ihr eine Quelle vorausempfundener Demütigungen. Keiner würde mit ihr tanzen – sicher nicht – ach Gott, sie konnte es ja auch niemandem verdenken!

Unter diesen Gedanken machte Olly Toilette. Inzwischen saß Senta vor dem Spiegel und ließ sich von Fräulein Arnold frisieren. »Süß« war Fräulein Arnold, so hatte sich noch keine Hausdame ihrer angenommen. Fräulein Arnold setzte ihren Stolz darein, ihr Pflegekind als eine der Schönsten herauszuputzen. Dreimal hatte sie ihr das Blondhaar wieder gelöst, immer noch war es nicht ganz zur Zufriedenheit. Senta wollte heute durchaus keine Hängezöpfe haben, was sollten die »richtigen Herren« wohl davon denken! Die Defreggerfrisur, wie Olly sie zu tragen pflegte, machte ihr rundes, frisches Gesichtchen zu breit. Aber jetzt, das lose Nest, das Fräulein Arnold ihr am Hinterkopf graziös aufgesteckt, stand ihr famos – genau wie Irmgard von Buschen war sie frisiert – das war das Schönste dabei! Sie mußte Fräulein Arnold noch ganz schnell, trotzdem es schon recht spät war, einen Kuß dafür geben.

»So, Olly, nun komm du her«, die Hausdame wandte sich zur älteren Schwester.

»Ich bin schon fertig«, antwortete Olly abweisend und steckte sich die letzte Nadel in die dunklen Zöpfe.

»Was – ohne Spiegel – ist mir denn so was vorgekommen – und die Haare glatt aus der Stirn gestriegelt, da mußt du ja so – – –« beinahe hätte Fräulein Arnold gesagt »so häßlich aussehen«, aber sie hatte es noch schnell heruntergeschluckt.

Olly wußte, daß ihr keine Schmeichelei zugedacht gewesen war, das machte ihre dunklen Augenbrauen noch finsterer.

Senta schlüpfte in das neue hellblaue Kleid und drehte sich den Kopf fast vor dem Spiegel aus, um sich von allen Seiten zu begucken. Diesmal war selbst Fräulein Arnold zufrieden. Allerliebst sah das Mädchen aus, und als sie ihm noch den Vergißmeinnichtkranz in das Blondhaar gesteckt, warf sogar Olly einen heimlich bewundernden Blick zu der Schwester hin.

Sie selbst hatte ihr schon etwas ausgewachsenes weißes Kleid angelegt. Dasselbe ließ ihre langen Gliedmaßen noch scharfkantiger erscheinen, außerdem sah sie heute besonders blaß aus, die Unlust schaute ihr aus den Augen, während Senta vor Aufregung glühte.

»Flink noch den Apfelblütenkranz, Olly«, drängte Fräulein Arnold, da diese bereits in den Abendmantel schlüpfen wollte.

»Ich will keine Blumen«, wehrte sich das junge Mädchen, denn es fühlte, daß jeder Aufputz seine Häßlichkeit nur noch mehr hervortreten lassen würde.

Aber diesmal gab Fräulein Arnold nicht nach. Das sollten sie bei Hauptmanns nicht sagen, daß sie die eine der anderen vorzog. Hatte Senta einen Kranz im Haar, mußte Olly auch einen tragen.

Es kam zu einem regelrechten Krach zwischen der Hausdame und dem Backfischchen. Olly weinte, was ihr Aussehen nicht verschönte. Längst war das Automobil vorgefahren. Rudi trommelte ungeduldig gegen die Tür des Mädchenstübchens.

Da ließ sich Olly schließlich mit den ungezogenen Worten: »Der Klügere gibt nach«, widerwillig den rosigen Blütenkranz um die festgeflochtenen schwarzen Zöpfe legen.

Einen Augenblick schwankte Fräulein Arnold. Sollte sie ihr den Kranz nicht doch lieber wieder abnehmen? Ihr Schönheitsgefühl riet es entschieden, aber nein – der Trotzkopf durfte nicht recht behalten!

Das Auto brachte die drei in kurzer Zeit nach Charlottenburg, wo Hauptmann von Buschen wohnte. Die meisten waren schon versammelt, man sah es an den dichtbehangenen Garderobenhaken. Ein Riesenpfeilerspiegel warf die Gestalten der Hildebrandtschen Schwestern zurück.

Auch Olly sah sich plötzlich ihrem Spiegelbild gegenüber. Und was sie da neben der zierlichen, blauen Senta erblickte, war so niederschmetternd, daß sie am liebsten dem beim Ablegen helfenden Burschen ihren Mantel wieder aus den Händen gerissen hätte und davongelaufen wäre.

Aber es war schon zu spät. Die Türen wurden bereits geöffnet, strahlende Helle flutete von der Kristallkrone ihnen entgegen. Eine tiefe Falte in der Stirn, so schritt Olly hinter Senta auf die sie freundlich bewillkommende Irmgard zu.

»Sentachen, so spät, aber entzückend siehst du aus – Tag, Olly, der Kranz steht dir famos!« Irmgard mußte sich schnell einer andern zuwenden, sonst hätte sie der ihr einen finsteren Blick zuwerfenden Olly geradezu ins Gesicht gelacht. Wie konnte die sich bloß noch obendrein so entstellen!

Senta begrüßte in ihrer ungezwungenen Liebenswürdigkeit und in dem die Stimmung hebenden Bewußtsein, eine der Hübschesten zu sein, ihre Schulkameradinnen. Sie war allgemein beliebt und hatte viele Freundinnen.

Auch Olly reichte einem jeden der ihr bekannten Mädel mit mißtrauischem Gesicht die Hand. Kicherten die da nicht hinter ihr her?

Der lange Backfisch fühlte die Blicke der Herren, unter denen die Leutnantsuniform vorherrschte, wie scharfe Messerstiche.

Die Vorstellung begann. Senta kannte einen Teil der jungen Herren von der Eisbahn und vom Tennis her, Olly hatte sich stets von allem Sport zurückgehalten. Mit gerunzelten Augenbrauen nickte sie, an Stelle des lieblichen Lächelns von Senta, wie ein Droschkengaul bei den Verbeugungen der Herren kurz und böse mit dem Kopf.

»Ääh – merkwürdiger Balg – wer ist denn diese exotische Schönheit?« lachte ein blutjunger Leutnant zu dem gerade neben ihm stehenden Jüngling.

»Das – das« – der Jüngling errötete wie ein Mädchen – »das ist meine Schwester!« Deibel auch, brachte einen diese abscheuliche Olly selbst hier in Verlegenheit! Rudi warf ihr gerade keinen sehr freundlichen Blick zu.

Der Leutnant machte ein nichts weniger als schlaues Gesicht.

»Oh – ääh – nettes Ding – ääh«, er wandte sich unbehaglich ab.

Überall hatten sich Gruppen gebildet. Alles lachte und scherzte. Nur eine hohe Säule, ein langer, dünner Backfisch ragte stets allein aus diesem fröhlichen Beieinander heraus. Olly hatte keine Freundin. Sie mochte sich nicht den untereinander flüsternden oder mit den Herren scherzenden Mädchen aufdrängen. Wenn doch Senta sich ein bißchen mehr um sie gekümmert hätte! Die war stets, wo das hellste Lachen erschallte. Aber sie, Olly, war doch schließlich die ältere! Eine Schande, daß sie von der kleineren Schwester unter die Flügel genommen werden wollte. Was sollte sie denn bloß hier? Immer finsterer wurde Ollys Blick.

»Wie findet ihr bloß die Ungerechtigkeit von der Langer?« – »Kätchen, wieviel Fehler hast du denn im Extemporal?« – »Literatur bei Müller war doch wieder himmlisch« – so schwirrten die Mädchenstimmen durcheinander.

»Ach, laßt doch wenigstens heute die dummen Schulgeschichten!« Irmgard genierte sich vor ihren richtigen Herren.

»Irmchen,« Mama winkte dem als Mittelpunkt glänzenden Geburtstagskind, »du mußt dich mehr um Olly Hildebrandt kümmern, sie steht immer abseits.«

»Ich wollte sie nicht einladen, nun mag sie sich meinetwegen mopsen!« flüsterte die junge Wirtin recht wenig gastfreundlich.

Der gute Papa sprang ein. Er gesellte sich zu dem verlassen dastehenden jungen Ding und richtete freundliche Fragen an sie. Aber Olly war scheu und unzugänglich. Sie hatte solchen Respekt vor dem Herrn Hauptmann, daß sie kaum zu antworten wagte.

Das rote Gesicht des Herrn Hauptmanns schwitzte wie bei der anstrengendsten Rekrutenübung.

Hol's dieser und jener – ein Jüngerer würde schon eher den richtigen Ton mit der schwierigen jungen Dame finden!

»St – von Treuenfels, sind Sie schon Fräulein Olly Hildebrandt vorgestellt? Gute Unterhaltung, meine Herrschaften!« Ein auffordernder Blick des Vorgesetzten belehrte den jungen Leutnant darüber, was man von ihm erwartete. Es war derselbe, der sich Rudi gegenüber so schmeichelhaft über Olly geäußert hatte.

Jetzt drehte er wütend an seinen winzigen Schnurrbartspitzchen.

Wetter auch – so viele allerliebste Mädchen gab es hier, und er mußte gerade zu diesem greulich schwarzen Riesenbackfisch abkommandiert werden!

»Ääh – gnä Fräulein, gehen wohl gern in Gesellschaft?« eröffnete er als gehorsamer Soldat das Gespräch.

Das gnädige Fräulein stieß ein ungnädiges »Nee!« heraus.

Verblüfft sah der kleine Leutnant drein.

»Pyramidales Mädel, Fräulein Irmgard von Buschen, finden gnä Fräulein nicht?«

»Ich weiß nicht, was pyramidal ist«, brummte Olly nach einigen Sekunden angestrengten Nachdenkens.

»Hü–ü–it–« der Leutnant stieß einen merkwürdig pfeifenden Ton durch die Zähne – also nicht nur bildhäßlich, sondern auch grützdämlich!

»Ääh – ääh – pyramidal – ääh – das ist eben pyramidal, dafür hat die deutsche Sprache kein anderes Wort«, ließ er sich dann zu einer Erklärung herbei.

Wieder eine Pause.

»Spielen gnä Fräulein viel Tennis?«

»Nee«, Olly war der Mensch mit seiner ewigen Fragerei lästig.

»Aber tanzen tun Sie doch gern?« Erwin von Treuenfels trällerte einen bekannten Walzer.

»Ich weiß nicht«, es war ja die erste Backfischgesellschaft, die sie mitmachte.

Auch dem kleinen Leutnant schien es heiß und schwül zu werden. Er, der solch ein gewandter Gesellschafter war, sollte mit seiner Unterhaltungskunst hier von diesem unausstehlichen Backfisch kampfunfähig gemacht werden?

Ob er einfach fahnenflüchtig wurde und zu einer kleinen Schönen desertierte, die ihn besser zu würdigen verstand? Aber da drüben stand Hauptmann von Buschen, der gestrenge Vorgesetzte, der paßte ihm scharf auf die Hacken.

Na, zu seinem Vergnügen war er ja schließlich auch nicht hier, also neuer Sturm auf die Festung.

»Welches ist denn Ihre beste Freundin?« Darauf würde sie doch wohl anbeißen.

»Herrgott, seien Sie doch nicht so neugierig!« entfuhr es Olly, die nicht gewöhnt war, sich zu beherrschen, unliebenswürdig. Was ging denn das den an, daß sie keine einzige Freundin besaß, sie drehte dem zudringlichen Menschen den Rücken.

Ganz perplex sah Leutnant von Treuenfels ihr nach.

Abgeblitzt – er – und noch dazu von einem Schulmädel, von einem so reizlosen, dummen Ding, zu dem er sich herabgelassen hatte – das war ihm denn doch noch nicht passiert. Aber wenigstens war er jetzt aller Pflichten ledig und konnte seine geknickten Lebensgeister bei dem allerliebsten Vergißmeinnicht drüben wieder auffrischen.

Lachend erzählte er ihr von der geistreichen Unterhaltung mit jener dürren Zitrone – na, die da, die da drüben mit den angeklebten schwarzen Haaren, kannte das gnädige Fräulein die nicht?

Sentas rote Wangen färbten sich noch um einige Töne tiefer, dann wurde sie blaß. Ob sie die heikle Frage nicht am besten überhörte? Es war solch ein lustiger Mensch, der Leutnant von Treuenfels, er behandelte sie schon ganz wie eine Dame, aber wenn er wußte, wer die »dürre Zitrone« war? Ach was, sie verleugnete Olly einfach.

Das wäre auch ganz gut gegangen, wenn man nicht manchmal sogenannte Freundinnen besäße, die einem nur zu gern eins auswischen.

Lotte Eckert, die gerade verkündete: »Kinder, mein Aufsatz wird diesmal famos!« unterbrach plötzlich ihre Schulunterhaltung mit den Mädeln. Glücklich, daß sie Senta, die mehr Triumphe feierte als sie selbst, demütigen konnte, mischte sie sich mit scheinheiligem Gesicht ins Gespräch.

»Du, Senta, ich glaube, der Herr Leutnant meint deine Schwester Olly«, sagte sie mit erhobener Stimme.

»Wie – was?« der kleine Leutnant stand entgeistert da. War er heute etwa schon das zweitemal hereingeplumpst?

Senta biß sich wütend auf die Lippen. Na warte, Eckertchen, das vergessen wir dir nicht, das streichen wir dir ein anderes Mal wieder an! Das Blondchen nahm all seine Geistesgegenwart zusammen.

»Ach, ich glaubte, Sie meinten das junge Mädchen daneben – die Große, die ist allerdings meine Schwester.« Sie lachte, wenn es auch etwas gekünstelt klang.

»Ääh – selbstverständlich sprach ich von der andern jungen Dame.« Der arme kleine Leutnant ergriff mit beiden Händen den rettenden Strohhalm, den Senta dem unter der kalten Wasserdusche Ertrinkenden mitleidig reichte. Aber er konnte sich doch nicht enthalten, sich noch einmal zu vergewissern: »Irren sich gnä Fräulein auch bestimmt nicht – ääh – keine Spur von Ähnlichkeit, kaum denkbar!« Er verglich das rosige Gesichtchen vor ihm mit dem gelblichen der andern – und wieder schüttelte er hilflos den Kopf.

Es sah so komisch aus, daß Senta hell auflachen mußte. Mein Gott, sie war doch auch schließlich nicht für ihre Schwester verantwortlich, was konnte sie denn dafür, wenn Olly so mordsmäßig häßlich war!

Olly stand wieder allein irgendwo herum und zählte mechanisch die Sterne in dem Teppichmuster. Da trat jemand hinter sie.

»Ein Fichtenbaum steht einsam« – erklang es lächelnd.

Sie wandte jäh den Kopf. Ihr blasses Gesicht wurde rot.

»Wolfgang Steinhardt« – sie hatte ja keine Ahnung davon, daß er bei Buschens verkehrte.

Er lachte über ihr backfischmäßiges Erröten.

»Selbst hier abseits von dem lustigen Kreis, Olly, das ist nicht recht! Warum hältst du dich so zurück?«

»Weil ich häßlich und unliebenswürdig bin, weil ich anders bin wie die lachenden Mädel da ringsum«, ihre Lippen sprachen es nicht aus, nur ihre trübseligen Augen verrieten es.

Er blickte sie gutmütig an.

»Kopf hoch, Olly, sei doch fröhlich unter den Fröhlichen, und wenn du noch ein übriges tun willst, geh in die Garderobe und nimm dir das Kuhfutter aus dem Haar, es steht dir nicht«, sagte er ehrlich.

Jedem andern hätte Olly sicherlich eine schroff abweisende Antwort gegeben. Aber Wolfgang Steinhardt gegenüber wollten ihr unfreundliche Worte nicht über die Lippen. War er doch der einzige, der sich ab und zu ihrer ein wenig annahm.

Sie kam sich jetzt nicht mehr ganz so verlassen unter der lachenden Jugend vor.

Aber gerade, als er ihr einen Sessel gebracht und sich einen Stuhl dazu schob, um ein wenig mit ihr zu plaudern und das arme Ding ein bißchen aufzuheitern, wurden seine beiden Hände lebhaft von hinten ergriffen. Und eine lustige Mädchenstimme rief:

»Wölfchen Steinhardt, hast du bis jetzt Maschinen schmieren müssen, da du als letzter auf der Bildfläche erscheinst?«

Lachend wandte sich Wolfgang um.

»Potztausend, Sentchen!« Mehr sagte er nicht.

Ungeniert packte ihn Senta beim Arm.

»Komm, Wolfgang, ich muß dich meinen Freundinnen vorstellen, sie sind schon furchtbar neugierig auf dich!«

Sie zog ihn mit sich fort. Und er, er dachte auch mit keinem Gedanken mehr daran, daß da hinter ihm ein blasses Mädel mit Augen, in denen ungeweinte Tränen brannten, zurückblieb.

Der junge Herr Diplomingenieur Wolfgang Steinhardt war seit einem Jahre in der Hildebrandtschen Maschinenfabrik tätig. Durch seine Tüchtigkeit und Intelligenz hatte er sich bald unentbehrlich gemacht. Da er außerdem der Sohn von einem Jugendfreunde des Kommerzienrats war und von früh auf mit den Hildebrandtschen Kindern befreundet, kam er als häufiger Gast in die Rokokovilla.

»Herr Diplomingenieur Steinhardt, unser Freund – meine Freundinnen« – und nun folgte die Herzählung sämtlicher Lotten, Ediths, Gretchen und Kätchen, daß es dem Herrn Ingenieur davon wie ein Maschinenrad im Kopf brummte.

Die Senta hatte doch wirklich ein unverschämtes Glück. Nicht nur, daß sie als Kommerzienratstöchterlein auf die Welt gekommen, jetzt konnte sie sich sogar mit einem Freund, der schon fünfundzwanzig Jahre alt war, vor den Schulkameradinnen brüsten. Und hübsch und stattlich war er überdies noch, das »Wölfchen«. Er gefiel allen mit seiner schlanken, großen Figur, den hellbraunen Haaren, dem kühn geschnittenen Profil und den guten, blauen Augen. Nur Lotte Eckert flüsterte ihrer Intima Edith zu: »Pff – das ist der berühmte Herr Ingenieur, der hat ja einen Buckel auf der Nase, und seinen Schnurrbart trägt er nicht mal amerikanisch – pff – – – –« Sie hatte es nicht allzu leise geflüstert, damit Senta es auch hören sollte.

Aber als sich der Herr Ingenieur jetzt mit lachendem Gesicht dem jungen Dämchen zuwandte: »Lieben das gnädige Fräulein mehr Vollbart oder englischen Backenbart?« da saß sie blutübergossen wie ein kleines ertapptes Schulmädel da.

Inzwischen hatte sich Olly still und unauffällig aus dem Zimmer geschlichen. Es war jetzt leer in der Garderobe. Wäre es nicht das Gescheiteste, sie nahm ihren Mantel und fuhr mit einer Elektrischen nach Hause? Wem tat sie einen Gefallen, wenn sie blieb? Weder sich selbst noch den andern.

Aber nein – was würden Irmgards Eltern davon denken!

Olly löste den Apfelblütenkranz aus ihrem Haar und schleuderte ihn in eine Ecke. So – nun sah sie doch wenigstens nicht häßlicher aus als sonst. Dann mischte sie sich wieder unter die Gesellschaft.

Die Wirtin bat gerade zur Tafel. Man hatte es sich leicht gemacht und keine Tischordnung vorgeschrieben. »Freie Wahl« hieß es. Im Nu waren die hübschesten und lustigsten Backfische geangelt.

Noch ehe der kleine Leutnant von Treuenfels seine Verbeugung vor Senta machen konnte, hatte Wolfgang schon ganz selbstverständlich ihren Arm durch den seinen gezogen. Senta war eigentlich nicht sehr erbaut davon, Wolfgangs Gesellschaft konnte sie doch öfters genießen, und im Grunde genommen, behandelte er sie doch noch meistens wie ein richtiges Jör. Aber schließlich das stolze Gefühl, mit dem man antworten konnte: »Ich bedaure, ich bin schon versagt«, das war doch auch was wert.

Ein Paar nach dem andern spazierte an Olly vorüber, die den Mund zu einem krampfhaften Lächeln verzog. Daß es nur keiner merkte, wie zurückgesetzt sie sich wieder vorkam, wie das da drinnen im Herzen weh tat. Ja, hatte sie denn wirklich im Ernst gedacht, daß Wolfgang – Wolfgang Steinhardt sie zu Tisch auffordern würde? Ganz recht war ihr diese Enttäuschung, weshalb hegte sie auch solche anmaßenden Gedanken! Und Olly lächelte weiter, krampfhaft und weinerlich.

Ein Paar nach dem andern – es leerte sich im Zimmer. Wolfgang und Senta schritten an ihr vorüber, ersterer nickte ihr zu, aber kein Gegengruß ward ihm. Einen Augenblick schwankte der junge Ingenieur. Sollte er das arme Mädel nicht mit zu seiner Linken nehmen? Aber noch waren ja Herren da, er störte dadurch vielleicht nur die Paare.

Ein einziger Herr noch, der kam sicher zu ihr – es war zwar der etwas einfältige Vetter Irmgards, aber was tat das, nur nicht sitzenbleiben! Nur nicht aller Augen mitleidig-spöttisch auf sich gerichtet sehen! Jetzt war er schon ganz dicht vor ihr, Olly versuchte ein möglichst freundliches Gesicht zu machen, aber nein – er verbeugte sich vor dem kurzen, rundlichen Annchen, das wie ein Pfannkuchen aussah, aber stets von einem Ohr zum andern lachte.

Sie war allein. Übriggeblieben! Wie durch einen Tränenschleier sah sie die lachenden und schwatzenden jungen Menschen drinnen an blumengeschmückter Tafel.

Da trat Heini, Irmgards kleiner Bruder, der eigentlich noch gar nicht hatte aufbleiben sollen, auf sie zu. Der hoffnungsvolle Tertianer verbeugte sich ritterlich.

»Darf ich bitten?«

Olly tat, als ob sie den gebotenen Arm ihres niedlichen kleinen Kavaliers nicht sähe. Mit niedergeschlagenen Augen schritt sie neben ihm in das Speisezimmer.

Wie sie lachten, wie sie tuschelten – sicherlich über das merkwürdige Paar! Der Knirps in kurzen Hosen reichte seiner langen Dame ja kaum bis zur Schulter.

Mit drohendem Blick hob Olly die Augen und ließ sie über die Tafelrunde schweifen. Aber da schien gar keiner auf sie acht zu geben. Jeder lachte und amüsierte sich mit seiner Tischdame.

Heini war ein liebes, aufgewecktes Jungchen. Wäre Olly nicht so mit Bitterkeit angefüllt gewesen, hätte sie sich sehr gut mit ihm unterhalten und amüsieren können. So aber gab sie dem armen kleinen Kerl, der eifrig bemüht war, ein Gespräch mit seiner großen Dame, auf die er sehr stolz war, in Gang zu bringen, so schroffe und kurze Antworten, daß Heini ganz erschrocken verstummte. Er zog es vor, sich mit den Leckerbissen auf seinem Teller zu beschäftigen, anstatt mit seiner unliebenswürdigen Tischdame.

Olly saß wieder mitten in den fröhlichen Wogen jugendlichen Übermuts, wie auf einem einsamen Eiland, unbeachtet, ausgestoßen. Der Herr zu ihrer Rechten war Leutnant von Treuenfels, der hatte noch genug von der Unterhaltung mit ihr. Gerade gegenüber aber hatte ein tückischer Zufall Wolfgang und Senta die Plätze angewiesen. Jedes Wort, das die beiden miteinander sprachen, es waren fast nur ausgelassene Neckereien, mußte Ollys Ohr auffangen. Das helle Lachen des blonden Vergißmeinnichts ward zum Tränenknäuel, das dem dunkelhaarigen Mädchen die Kehle fast zusammenschnürte. Es rührte die Speisen kaum an, unausgesetzt starrte es auf den Fuß seines Bowlenglases.

»Prosit, Olly!« Wolfgang hob das Glas gegen sie.

Sie sah nicht auf, sie tat, als ob sie taub wäre.

Nanu – was hatte er ihr denn getan, daß sie mit ihm maulte? In seiner ausgelassenen Stimmung raffte er einige Blüten zusammen, mit denen die Tafel geschmückt war, und zielte nach ihrer Nase.

»Schläfst du, Olly – prosit!«

Senta amüsierte sich köstlich, Olly aber rief mit funkelnden Augen: »Das verbitte ich mir!«

»Herrjeh, friß mich nur nicht gleich –«, ganz erstaunt sah er ihre empörte Heftigkeit.

Was hatte das Mädel denn nur heute? Sie kamen doch sonst ganz gut miteinander aus!

Junges Volk will nicht lange tafeln, sondern tanzen. Kaum, daß die Eisspeisen und der Toast auf das Geburtstagskind, den ein junger Student in Versen hielt, genügend gewürdigt wurden. Die Mädchenfüße in den ausgeschnittenen Schuhchen zuckten bereits im Walzertakt.

Eins, zwei, drei, waren die Tische an die Seite geräumt. Irmgards schon etwas ältere Kusine, die eigentlich gar nicht mehr zu der »Babygesellschaft« hatte kommen wollen, saß am Klavier und spielte die Walzer aus den neuesten Operetten. Junge, tanzfreudige Gesichter erglühten im wiegenden Reigen.

Jeder tanzte, wie es die Sitte vorschrieb, zuerst mit seiner Dame. Heini wußte, was sich gehörte. Er schwenkte seine lange Bohnenstange, die sich nur widerwillig drehte, mit Anspannung all seiner kräftigen Jungenmuskeln im Zimmer herum, krebsrot sah der kleine Kerl von der Anstrengung aus.

Jetzt lachte man wirklich über das ungleiche Paar. Weder versteckt noch spöttisch, sondern ganz harmlos und öffentlich. Aber Olly hatte nicht die Gabe, in das lustige Gelächter, das weniger ihr als dem Kleinen galt, mit einzustimmen. Sie war bitterböse und riß sich von ihrem Dreikäsehoch unwirsch los.

Walzer, Polka, Rheinländer – je lustiger die Weisen erklangen, um so finsterer wurden Ollys Züge. Sie saß an ihrem Stuhl wie angeleimt, keiner holte sie zum Tanz.

»Na, Ollychen, wir wollen uns wieder vertragen«, Wolfgang Steinhardt streckte die Hand aus, um sie zum Walzer fortzuziehen.

Olly blieb steif wie eine Holzpuppe sitzen.

»Ich danke«, sagte sie mit zuckenden Lippen. Und wenn sie den ganzen Abend keinen Schritt tanzte, nein, aus Gnade nahm sie nichts!

»Wie – was – was soll denn das heißen, laß doch die Kindereien, Olly.« Er schien wirklich ärgerlich.

»Das soll heißen – daß – daß – daß ich mit Ihnen nicht tanzen will!« Ihre Stimme klang heiser vor Erregung. Sie sagte plötzlich zu ihm, den sie doch seit ihren ersten Lebensjahren kannte und duzte, »Sie«.

Da lachte der Herr Diplomingenieur wieder.

»Kindskopf!« sagte er und drehte sich um. Den ganzen Abend sah er sie nicht mehr an.

Das hatte sie nun davon.

Hauptmann von Buschen sorgte dafür, daß sie nicht völlig an ihrem Stuhl festwuchs. Er schickte all seine Leutnants nacheinander »an das schwere Geschütz«, wie die boshaften Jünger des Mars sein Kommando nannten.

In der Tat, Olly tanzte nichts weniger als graziös. Sie hatte im vorigen Winter mit Senta Tanzstunde gehabt, aber während sich letztere leichtfüßig wie ein Elflein drehte, wußte die Schwester mit ihren langen Beinen und großen Füßen nicht recht was anzufangen.

»Olly watschelt wie eine Ente, sieh nur, Wölfchen«, machte die spottlustige Senta ihren Herrn auf die Vorübertanzende heimlich aufmerksam.

»Das häßliche junge Entlein!« entfuhr es Wolfgang Steinhardt.

»Hahaha – das muß ich ihr heute noch erzählen, das häßliche junge Entlein – haha – au weh, die wird mir die Augen auskratzen«, lachte Senta ausgelassen.

Wolfgang packte Senta beim Handgelenk.

»Das wirst du nicht tun«, sagte er sehr ernst, wie er sonst nie mit ihr zu reden pflegte. »Versprich mir, daß du schweigen wirst! Das wäre brutal gegen das arme Ding, es war nicht hübsch von uns, aber – es trifft den Nagel auf den Kopf!«

Es wurde Senta schwer, Wolfgangs Worte zu befolgen. Sie ärgerte Olly zu gern. Aber ihren Freundinnen mußte sie den ulkigen Beinamen, den Wölfchen für die Schwester gefunden, unter dem Siegel der Verschwiegenheit natürlich noch an demselben Abend anvertrauen.

Lachend und unbedacht fliegt uns oft ein Spottname von den Lippen. Aber das kleine, leichte Wort wächst, es wächst von Tag zu Tag, und der andere hat oft sein Leben lang an der schweren Last dieses Namens zu schleppen.

Bald hieß Olly in der ganzen Klasse nur noch »das häßliche junge Entlein«.



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