Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13. Kapitel. Die Rotbemützten.

Zwei Jahre sind seit jenem bösen Winter dahingegangen. Durch die Welt geht wieder ein Frühlingsahnen. Vom Grunewald her weht es lind und weich über das steinerne Häusermeer der Millionenstadt. Goldene Lichtwellen läßt die Frühlingssonne durch die weitgeöffneten Fenster in die Zimmer und in die Herzen der Menschen strömen. Auf den Straßen und Plätzen strecken welke alte Hände den Vorübereilenden die ersten Schneeglöckchen und Märzveilchen zum Verkauf entgegen. Kinder peitschen den Kreisel. Schwalben zwitschern in blauer Frühlingsluft.

Wie eine Erlösung geht es nach bangem Winterdruck durch die aufatmende Menschheit. Lenz wird es! Alles Schwere, alles Drückende lacht die goldene Sonne davon.

Ei – hat denn das junge Menschenkind, das da an dem zierlichen Schreibtisch den Blondkopf tief in Bücher und Hefte vergraben hat, gar keinen Blick für den ans Fenster pochenden Lenz? Fühlt es nicht, wie kosend die Sonne es mit warmen Strahlenfingern streichelt?

Nein, Doktors Nesthäkchen murmelt lateinische Worte vor sich hin, rechnet mit Ix-Quadrat und Ypsilon. Durch das hübsche Köpfchen ziehen Geschichtszahlen, Literaturdaten, englische und französische Verben in buntem Reigen. Annemarie Braun hat keine Zeit, dem ersten schüchternen Anpochen des Lenzes zu lauschen. Noch ist der Druck, der seit Wochen ihre junge Seele mit eisernen Folterzangen umklammert hält, nicht gewichen. Noch steht es vor ihr, das drohende, immer näherkommende Schreckgespenst: das Abiturientenexamen.

O Gott! – Annemarie war seit Tagen gar kein Mensch mehr. Nur noch ein Examensbüffel. Dieser Ehrentitel stammte natürlich von Klaus, der nach eigenen berühmten Mustern der Schwester dringend davon abriet, auch nur noch ein Buch anzurühren. »Je weniger man zum Examen büffelt, um so besser besteht man es. Durch Lernen verdummt man bloß, und der gesunde Menschenverstand rostet ein.«

Aber Annemarie hatte wenig Zutrauen zu den Weisheitssprüchen des flotten Studenten. Die hielt sich lieber an Hans, der sich täglich die Zeit nahm, eine Stunde Latein und Mathematik mit der Schwester zu wiederholen. Die schriftlichen Klassenarbeiten waren wenigstens schon durchschwitzt. »Latein habe ich bestimmt verhauen, Hänschen; da werden sie mich beim Mündlichen eklig zwiebeln,« versicherte sie aufgeregt.

Und nun stand er unmittelbar bevor, der furchtbare Tag. Morgen – morgen um diese Zeit! Da trug sie entweder stolz die rote Abiturientinnenmütze oder – was wahrscheinlicher war – sie war mit Pauken und Trompeten durchgerasselt.

Hatte es Margot Thielen am gegenüberliegenden Fenster nicht viel besser? Der preßte der herannahende morgige Tag nicht das Herz mit tausend Examensqualen ab. Die saß gemütlich da drüben und entwarf zierliche Formen für Buchschmuck, Möbelstoffe und Handarbeiten. Denn sie besuchte die Kunstgewerbeschule.

Auch Vera Burkhard beneidete Annemarie heute. Wie hatte sie damals – zwei Jahre waren es gerade jetzt her – bedauert, daß Vera, welche die Reife für Unterprima nicht erlangt hatte, das Gymnasium verlassen mußte. Einen »Tyrann« hatte sie Veras Onkel heimlich gescholten, daß er ihrem täglichen Beisammensein erbarmungslos ein Ende gemacht hatte. Und heute? Wie dachte Annemarie heute darüber? Klug und einsichtsvoll hatte der Regierungsrat von Hohenfeld gehandelt, daß er Vera im Lettehaus künstlerische Photographie erlernen ließ; daß er sie nicht den Examensnöten des morgigen Tages ausgesetzt hatte.

Dort im Schrank hing das neue Examenskleid. Dunkel natürlich, der düsteren Schwere des Tages entsprechend. Mutti ahnte nicht, daß es morgen schon das Tageslicht erblicken sollte. Mutti und Vater sollten sich nicht auch noch um ihre Lotte aufregen und Sorgen machen. Dazu war Zeit genug, wenn sie durchgeplumpst war.

Ahnte Mutti wirklich nichts? Die Tür, die zum Wohnzimmer führte, ward leise geöffnet. Gedämpfte Schritte kamen näher. Besorgte Mutteraugen liebkosten das ziemlich blasse Mädchengesicht. Dann eine weiche, zärtliche Hand über flimmerndes Blondhaar – war es die Hand der Mutter oder streichelnde Sonnenfinger? Die Tür schloß sich wieder geräuschlos. Nur ein großes Stück Schokolade auf dem lateinischen Wörterbuch bewies der nicht von ihren Büchern Aufblickenden die mütterliche Fürsorge.

Drinnen im Nebenzimmer sagte Frau Doktor Braun seufzend zu ihrem Manne: »Wenn bloß das Examen unserer Lotte erst vorüber wäre. So oder so. Mir ist schon alles gleich. Das Bücherhocken ist nicht mehr mitanzusehen. Ganz blaß ist das arme Ding von dem Lernen bis in die Nacht hinein und von der Aufregung.«

»Na, nun hat es ja wohl die längste Zeit gedauert, Elsbeth. Aber wenn ich vorher gewußt hätte, daß das Mädel es so heiß nimmt, hätte ich nie und nimmer meine Einwilligung dazu gegeben. Ich dachte, unser Nesthäkchen wird mit seiner kecken Unverfrorenheit das Examen spielend bewältigen. Und nun wird sie mir dadurch zur nervösen jungen Dame. Das beste an ihr, die gesunde Frische des Körpers und des Geistes, geht dabei flöten!«

An das Fenstersims, vor dem der weiße Schreibtisch stand, schoß im Bogenflug ein Schwälbchen vorüber. »Quiwitt – quiwitt – komm mit – komm mit« – – – so zwitscherte es lockend. Annemarie beachtete es nicht.

Vom gegenüberliegenden Fenster ertönte der Freundschaftspfiff. Dreimal kurz hintereinander. Der drang hinein bis in Annemaries Verschanzung hinter mathematischen Formeln. Geistesabwesend hob sich der Blondkopf.

Drüben gestikulierte Margot in Zeichensprache. »Ich gehe jetzt Tennis spielen,« verkündeten die Fingerverrenkungen. »Komm mit! Du bist dann morgen frischer, als wenn du heute noch arbeitest.«

Annemaries Zeigefinger gab kurz und ausdrucksvoll Antwort. Er tippte nur gegen die Stirn, ob die Freundin nicht recht bei Troste sei, sie heute am Vortage des Examens zum Tennisspiel aufzufordern. Dann tauchte Annemaries Blondkopf wieder in ein Meer von Zahlen und Buchstaben unter.

Die Telephonklingel – Annemarie hatte es sich während der letzten Arbeitswochen abgewöhnt, sich dadurch stören zu lassen. Hannes breites Gesicht lugte zur Tür herein.

»Annemiechen, du sollst am Telephon kommen – – –«

»Zum Kuckuck, ich habe keine Zeit.«

»Hab' ich ja auch schon Fräulein Veran jesagt. Aber se sagt, se müßte dir sprechen, sagt se.«

»Na ja, ich komm' gleich.« Die sonst immer liebenswürdige Annemarie rief es ungehalten. Nervös und aufgeregt war sie durch das angestrengte Lernen und das Angstfieber vor dem morgigen Tage geworden.

»Na, wenn dis varrickte Examen vorüber is, mach' ich auch drei Kreuze hinterdrein,« brummte Hanne ingrimmig.

»Nee, Hanne, dann gibt's anderes für Sie zu tun. Dann müssen Sie backen und kochen für unser Abiturientenfest. Wenn – ja, wenn mich der Deibel nicht ans Schlafittchen genommen hat!« Das war wieder Doktors lustiges Nesthäkchen.

»Verachen – bist du's?« erklang's gleich darauf am Telephon. »Wie mir's geht? Na, ungefähr so, wie dem Verurteilten kurz vor der Hinrichtung. Nein, mein Herz, ich gehe heute nicht mit dir spazieren! Ich lerne heute doch nichts mehr? Na, wenigstens brauche ich mir dann keine Vorwürfe zu machen, wenn's schief geht. Du kommst morgen hin? Kneife beide Daumen – alle guten Geister seien mir gnädig!«

Wieder nur Sonnengeflirr und Lenzesweben draußen – drinnen Federgekritzel und Seitengeraschel. Plötzlich ward das Physikbuch, in dem Annemarie gerade studierte, mit lautem Knall zugeschlagen.

»Schluß!« sagte eine Stimme hinter Annemarie. »Jetzt hat's ein Ende mit ochsen. Zieh dich an, wir gehen in den Tiergarten.«

»Nein, Hans, ich habe noch schrecklich viel zu wiederholen. Physik, die Gegenkaiser, schwäbische Dichterschule, Latein und Miltons Paradies. Vor Mitternacht werde ich damit nicht fertig.«

»Und dann willst du morgen frisch ins Examen steigen, Kleines? Nichts da. Was du heute noch nicht weißt, wirst du in den paar Stunden auch nicht mehr erwischen. Jetzt gehen wir spazieren. Dann ißt du Abendbrot und legst dich um halb zehn ins Bett. Es ist wichtiger, daß man einen klaren, freien Kopf mit ins Examen bringt, als daß man sich vor lauter aufgespeicherter Rumpelkammerweisheit überhaupt nicht mehr darin zurechtfindet. Hör' auf mich, bemoostes Haupt, und hole deinen Hut, Kleines. Marsch!«

Annemarie schwankte noch immer. »Nur wenn du mir versprichst, Hänschen, mich unterwegs noch Latein und Mathematik abzufragen.«

»Den Deibel werd' ich! Kein Wort wird beim Spazierengehen von dem verflixten Examen gesprochen. Los, Kleines!«

»Na, wenn ich rassele, hast du die Schuld, Hans!« Zögernd holte Annemarie Hut und Jackett herbei. Dabei streifte ihre Hand das im Schrank hängende Examenskleid. Wie ein Dolch fuhr es ihr durchs Herz. O Gott, war sie leichtsinnig, die Bücher im Stich zu lassen!

Doktors Nesthäkchen war in den letzten beiden Jahren eine junge Dame geworden. Kaum kleiner als der Bruder, rank und schlank wie eine Weidengerte. Das Blondhaar flimmernd im Sonnenschein und das schmal gewordene Gesichtchen so lieb und süß, daß manch bewundernder Blick das bildhübsche Mädel streifte. Annemarie merkte es nicht. Die war mit ihren Gedanken mittendrin in dem morgigen Tage.

Sie sah den Schulrat vor sich sitzen, daneben den Direks, der ihr, seitdem sie damals einen Schülerrat hatte gründen wollen, nicht ganz grün war. Fräulein Neuberts Eulengläser funkelten bösartig im Sonnenlicht und – – –

»Na, Annemie, ist's hier nicht schön?« Hans war auf dem Platz vor der Kunstschule stehen geblieben, der wie ein großes Beet von farbenprächtigen Hyazinthen und Tulpen leuchtete.

»Wie meinst du?« Nesthäkchen sah und hörte nichts.

»Ja, potztausend, Mädel, du hast doch sicher eben wieder zwischen a und b Quadrat gesteckt. Denkst du, es ist interessant für mich, in einer Gesellschaft spazieren zu gehen, gegen die der Fisch noch geschwätzig ist?« räsonierte der Bruder gutmütig.

»Ich habe dir ja gleich gesagt, du sollst mich zu Hause lassen. Die Examensfurien sind hinter mir her, ich kann ihnen nicht entrinnen.«

»Entrynnien meinst du wohl.«

Da mußte Nesthäkchen lachen, hell und jung, wie es das so gerne tat. Und plötzlich war es, als ob das frische Lachen den Druck, der ihr die Seele abpreßte, sprengte. Frei und leicht ward es Annemarie plötzlich zumute. Sie sah jetzt erst, wie übermütig die goldenen Sonnenfüßchen auf dem Wege hin und her sprangen. Daß die Sträucher lichtgrünes Geschmeide trugen, und die Bäume sich mit rostbraunen Knospen besteckt hatten. Frühling – Frühling wurde es!

»Sieh nur, die jungen Entchen – wie süß! Die alte sieht aus wie Fräulein Drehmann. Die watschelt genau so. Wenn wir uns nicht den Hals im Examen brechen, muß ich Ilse Hermann sagen, daß sie ruhig ein bißchen bei unserm Festspiel watscheln soll. Sie gibt nämlich Fräulein Drehmann.« Hans brauchte sich nicht mehr über seine schweigsame Begleiterin zu beklagen. Annemaries Mundwerk war jetzt wieder aufgezogen.

»Unverschämt von uns, Hänschen, nicht? Da setzen wir uns hin und studieren ein Festspiel ein, in dem wir den Lehrern tüchtig die Federn ausrupfen, und vorläufig sind sie es doch noch, die uns in ihren Fängen haben. Aber das Abiturientenfest soll doch übermorgen steigen. Wenn wir doch alle mit heilen Gliedern durch wären!«

Auf dem Neuen See trieb Klaus im frühlingsgrün leuchtenden Nachen plätschernd am Ufer hin. »Immer rein, meine Herrschaften,« rief er den Geschwistern zu.

Das ließen die beiden sich nicht zweimal sagen. »Annemie kann rudern – physische Kraftaufwendung ist das beste Gegengift bei Geisteskraftverschwendung,« verordnete Klaus.

Wirklich, das Ausarbeiten der Muskeln tat Annemarie wohl. Der See träumte goldiggrün zwischen rieselndem Erlengezweig. Fischlein spielten auf dem klaren Grund. Still zog der kleine Nachen seine Bahn. Das Schreckgespenst des morgigen Tages versank vor diesem Abendfrieden.

Als das Schifflein eine Stunde später am Bootshause anlegte, kam Doktors Nesthäkchen wie aus einer anderen Welt. Was Annemarie nie für möglich gehalten – sie hatte während der ganzen Zeit nicht einmal an das morgige Examen gedacht.

Freilich, zu Hause, als die treulos zurückgelassenen Schulbücher vom Schreibtisch so vorwurfsvoll herüberblickten, kam sie sich recht pflichtvergessen vor. Aber beim Abendessen galt es, möglichst unbefangen zu erscheinen, damit die Eltern keine Lunte riechen sollten. Das Rudern hatte ihr die Wangen gerötet und den Appetit angeregt. Während sie mittags jeder Bissen im Halse gewürgt hatte, schmauste sie jetzt tapfer drauflos. Vater und Mutter waren glücklich, wie gut es ihrem Nesthäkchen mundete.

Eine lange, bange Nacht lag vor ihr. Wäre es nicht richtiger gewesen, sie hätte bis zum Morgengrauen bei den Büchern gesessen, anstatt sich schlaflos in den Kissen zu wälzen? Annemarie hatte nicht viel Zeit, sich dies zu fragen, denn sie vergaß, daß Rudern nicht nur Wangen rötet und die Eßlust steigert, sondern daß die ungewohnte Muskelanstrengung auch rechtschaffen müde macht. Doktors Nesthäkchen, das geglaubt hatte, die ganze Nacht kein Auge schließen zu können, schlief sanft und süß dem bösen Examenstage entgegen.

O wäre sie doch nie aufgewacht! Was ist das für ein Gefühl, wenn man froh und klaräugig des Morgens erwacht, und hat solch eine dunkle unbewußte Empfindung: da war doch irgend etwas Schlimmes, Beklemmendes – was war es nur? Und dann plötzlich ein jäher Schreck wie ein Peitschenhieb – Examenstag! Der gefürchtete Tag ist da! Man kann sich nicht vor ihm verkriechen. Er ist da und jagt einen unbarmherzig hinaus, allen Schrecknissen und Nöten entgegen. Konnte man denn gar nichts tun, um seinen Klauen zu entgehen? O ja, man könnte sich krank melden. Eigentlich war sie's auch wirklich. Ganz übel war ihr zumute und in den schmerzenden Schläfen pulsierte es wie flüssiges Feuer. Wenn man krank war, brauchte man nicht die Aula zu betreten, die einem in ihrer ungewohnten Leere entgegengähnte wie ein ungeheurer Rachen, bereit, die armen Opfer zu verschlingen. Da brauchte man sich nicht von den Augen des Schulrats durchbohren und von den Blicken des Lehrerkollegiums aufspießen zu lassen. Man blieb ruhig zu Hause in seinem Bett, trank etwas Pfeffermünztee und – »wird dann nachträglich nur um so doller gezwiebelt. Nee, is nich!« Damit beendete Doktors Nesthäkchen seine Überlegungen und sprang aus dem Bett.

Das neue Examenskleid – in kindischer Eitelkeit hatte sie sich damit gefreut. Jetzt empfand sie ein Grauen davor. Wie feierlich sie damit ausschaute. Als ob sie darin zu ihrer eigenen Beerdigung gehen sollte. Schulbücher brauchte sie heute nicht. Aber forträumen mußte sie dieselben, sonst schöpfte Mutti Verdacht. Ehe Mutti aufgestanden war, mußte sie schon über alle Berge sein.

Klaus, sonst gerade kein Frühaufsteher, hatte der »Examensbammel« der Schwester aus den Federn getrieben. »Na, die Hinrichtungsuniform angelegt, Annemie,« versuchte er sie aufzuheitern.

»Ach, Klaus, anders kann dem armen Sünder in seinem letzten Stündlein auch nicht zumute sein. Ich finde, der Galgen ist ein Hochgenuß gegen den Examenstag.« Nesthäkchen sah mit einem Gesicht drein, als ob es wirklich zur Richtstatt gehen sollte.

»Kannst du nicht Papiermanschetten unter deine Ärmel ziehen, Annemie? Darauf lassen sich fein Namen und Daten notieren, die man nicht in den Kopf bekommt.«

»Nee – ich habe doch halbe Ärmel in dem neuen Kleid. Aber eine Papierserviette habe ich mir als Taschentuch zurecht gemacht, wo alles drauf steht, was ich nicht weiß. Wenn mich der Schulrat etwas fragt, muß ich mir immer erst die Nase putzen.« Annemarie mußte schon wieder lachen. Wenn es auch nur Galgenhumor war.

»So ist's recht, Annemie – immer feste drauflos!« lobte der Bruder. »Und laß dich bloß nicht einschüchtern. Dreist antworten, ob du's weißt oder nicht. Meistens hören sie gar nicht hin.«

»Na – na –« erlaubte sich Annemarie die pädagogischen Lehren des Studenten anzuzweifeln. »Hans, streiche mir kein Brot – ich kann keinen Bissen runterbringen. Mir wird ganz elend, wenn ich's nur sehe.«

»Werde bloß kein hysterisches Frauenzimmer, Annemie. Da – hingesetzt und gefrühstückt.« Hans drückte sie auf einen Stuhl und stand daneben Wache, ob sie auch ihren Kakao trank und ihr Brot aß.

Wirklich – es ging. Annemarie hätte es nicht für möglich gehalten. Nun mußte sie aber schleunigst fort, sollte die Mutti sie nicht in dem Examenskleid noch erwischen.

»Mach' deine Sache gut, Annemie. Je ruhiger du bist, um so klarer wirst du alle Fragen beantworten können. Keine Angst, du hast was gelernt.«

Ja, Hans hatte gut reden. Als ob sich die Kneifzange, die ihr die Brust abpreßte, dadurch lockerte.

Vater erschien am Frühstückstisch. Einen prüfenden Blick warf er auf die Jammermiene seines Nesthäkchens – dann wußte er Bescheid. Aber er tat seiner Lotte den Gefallen, nichts zu merken. Nur die blasse Wange klopfte er ihr aufmunternd.

»Ich wünsch' dir einen Beinbruch!« Klaus flüsterte es ihr liebevoll im Korridor zu.

»Pfui – Klaus!«

»Das ist der beste Segensspruch fürs Examen. Da kannst du jeden Studenten fragen. Heute abend nehme ich dich mit auf die Kneipe.«

»Erst muß ich heil aus dem Höllenrachen wieder raus sein.«

Hanne steckte den Kopf aus der Küche. »Pst – Annemiechen, da, extrajute Stullen. Mir macht keener nich dumm, ich hab's jemerkt, daß se dir heute abmurksen tun. Aber bange machen jilt nich. Du hast so ville jelernt wie alle Professorens zusammen. Und, wenn se dir trotzdem rinplumpsen lassen, denn wer' ick ihn schon die Wahrheit jeijen.«

Jetzt mußte Annemie aber wirklich lachen: die treue Hanne in ihrer Berliner Unverfrorenheit wollte den Professoren die Wahrheit geigen.

Puck gab ihr das Geleit bis auf die Treppe hinaus. Als ob das kluge Tier es merkte, daß seine junge Freundin einen Leidensweg ging.

»Na – denn rin ins Verjnüjen!« Doktors Nesthäkchen schob sich die Treppe hinab.

Unten vor der Haustür standen Vera und Margot, die beiden Getreuen. »Heute wirr wollen lassen gehen dirr nicht allein zu Schule« – »wir wollen dir das Geleit geben.«

»Ihr meint wohl die letzte Ehre.« Annemarie drückte den Freundinnen dankbar die Hand. »Kinder, was habt ihr's gut, daß ihr jetzt nicht aufs Schafott müßt.«

Helle Frühlingssonne lachte vom Himmel. Graues Regenwetter hätte Annemaries Seelenzustand mehr entsprochen. Die Freundinnen sprachen von beiden Seiten lebhaft auf sie ein, um sie von den bevorstehenden Schrecknissen abzulenken. Annemarie hörte sie kaum. Sie ging wie in einem Traumzustand dahin. Aber es war ein böser Traum, der Alb, der ihr aus der Brust hockte und ihr die Kehle zusammenpreßte.

»Annemie – Vorsicht!« Margot packte sie am Arm.

»Bei einem Haar wärst du unter das Auto gekommen!«

»Dann wäre mir wohler als augenblicklich.« Denn da tauchte gerade der rote Backsteinbau, das Schubertsche Lyzeum, vor ihnen auf.

»Behüte dirr Gott, Annemie. In die Pause um zwölf ich kommen hörren, wie es gehen dich.« Vera küßte sie zärtlich.

»Viel Glück, Annemie!«

»Du darfst mir kein Glück wünschen, Margot, sonst geht's bestimmt schief. Ach du gerechter Strohsack – wär' ich doch erst wieder draußen!«

Eine atembeklemmende Stille herrschte in den Gängen, denn die Schule hatte dem Examen zu Ehren frei. Hier war man nun den größten Teil seines Lebens, die ganze Schulzeit über, ein- und ausgegangen. Mal mit etwas gepreßtem Herzen, aber meistens quietschfidel und sorglos. Wanderte Doktors Nesthäkchen heute zum letztenmal den gewohnten Weg? Oder würde es weiter noch Schulmädchen bleiben müssen?

Die Abiturientinnen waren bereits in der Oberprima versammelt. Alle mit farblosen Gesichtern und verängstigten Augen. Zehn an der Zahl. »Wie eine Schafherde beim Gewitter,« dachte Annemarie, und wunderte sich selbst, daß sie in diesen bangen Minuten so etwas denken konnte.

Die untere Abteilung der Oberprima packte rote Studentenmützen aus, zehn an der Zahl. Würde jede ihre Besitzerin finden? Das Rot brannte in den Augen. Marlene empfand geradezu einen körperlichen Schmerz, wenn sie auf die Mützen blickte. Eine eiskalte Hand reichte sie Annemarie.

»In Mathematik falle ich glatt durch.«

»Ich in Latein, Marlene. Rege dich nicht so schrecklich auf. Hans sagt, je ruhiger man ist, um so besser stehen die Chancen.« Doktors Nesthäkchen redete der Freundin gut zu und flog dabei selbst an allen Gliedern.

Ilse Hermann, deren lange Blondzöpfe nicht mehr den Rücken entlang hingen, sondern zum Nest am Hinterkopf aufgesteckt waren, brabbelte in einem fort Zahlen und Namen vor sich hin. Marianne waffnete sich gegen die zu bestehenden Gefahren mittels eines Käsebrotes. Dabei behauptete sie, vor Aufregung gänzlich appetitlos zu sein.

Der Ordinarius der Oberprima, Professor Möbus, betrat die Klasse.

»Na, meine Damen, Sie haben doch nicht etwa Angst? Lauter Bleichgesichter? Tun Sie doch nicht so, als ob Sie ins Land der Menschenfresser müßten. Wir skalpieren keinen, der was kann.«

»Ja, wenn man was kann!« Jede – und hatte sie ihrem Kopf noch soviel Gelehrsamkeit eingetrichtert – war in diesem Augenblick von ihrer gänzlichen Unwissenheit überzeugt.

»Allerdings kann ich Ihnen nicht verhehlen,« fuhr der Ordinarius fort, »daß drei von Ihnen das Examen nicht machen werden.«

Zehn Herzen setzten in jähem Schreck aus. Keins von den verängstigten Küchlein sah, wie lustig Doktor Möbus über seine Brille hinwegblinzelte. »Fräulein Ulrich, lernen Sie nichts mehr, es nützt Ihnen doch nichts.«

Ach, Marlene hatte es ja gewußt, daß sie die Mathematikarbeit total verhauen hatte. Am Ende ließ man sie daraufhin gar nicht zum Examen zu. Wer waren bloß die Ärmsten, die drei, von denen der Ordinarius schon im voraus wußte, daß sie das Examen nicht bestehen würden? Jede einzelne glaubte in ihrer Erregtheit, der Lehrer habe sie dabei besonders angesehen.

» Time and hour runs through the roughest day.« – Gelernt hatten sie alle das Wort Shakespeares. Aber durchlebt, selbst empfunden hatte es bisher noch keines der sorglosen, jungen Dinger. Heute empfanden sie es: Auch die bangesten Minuten vergingen schließlich.

»Meine Damen, Sie können sich in die Aula begeben!« Da war es, das Schreckenswort.

Mit schlotternden Knien kamen sie der Aufforderung nach.

Marlene und Ilse Hand in Hand. Annemarie Braun als Vorreiter. Jetzt, wo es soweit war, wollte sie es nicht merken lassen, wie gottserbärmlich ihr zumute war. Besonders Fräulein Neuberts Eulenaugen sollten sich nicht an ihrer Schwäche weiden.

Da saßen sie am langen Tisch nebeneinander aufgebaut, alle, die sie durch die langen Schuljahre hindurch geleitet. In der Mitte thronte der Schulrat. Sah eigentlich ganz menschlich aus, der alte Herr. Jetzt lachte er sogar im Verein mit dem Direks. Wie konnte der Mann nur lachen, während zehn junge Seelen sich in Marterqualen wanden. Na, wenigstens war er guter Laune.

Der Ordinarius verlas die Namen der Abiturienten.

Gepreßtes »Hier« antwortete.

Dann faltete der Direktor feierlich einen weißen Bogen auseinander. »Das schriftliche Abiturientenexamen haben bestanden« – – – Es erfolgte wieder die Verlesung der zehn Namen.

Gott sei's getrommelt und gepfiffen – im Schriftlichen war keine gerasselt.

»Zum mündlichen Examen werden zugelassen –« sieben Namen – Annemaries und Marlenes war nicht darunter.

Marlene schoß es bereits heiß in die Augen. Annemarie krampfte die Finger ineinander. Den Eulenaugen wollte sie kein Schauspiel geben.

»Vom mündlichen Examen werden auf Grund eines mit Eins bestandenen schriftlichen Examens dispensiert: Fräulein Annemarie Braun« – »Hurra!« Wie der Jubellaut einer Lerche stieg es durch die nüchterne Aula. Was fragte die impulsive Annemarie nach dem Schulrat, nach den Eulenaugen. Sie war vom Mündlichen befreit – hurra! »Fräulein Elli Jordan und Fräulein Marlene Ulrich,« vervollständigte der Direktor lächelnd seine unterbrochene Rede.

»Marlenchen – – –«, ungeniert, in seligem Glückstaumel schlang Annemarie den Arm um die Freundin. Das war auch gut, denn Marlene schwankte. Die jähe Freude nach den ausgestandenen Ängsten übermannte das zarte Nervensystem des jungen Mädchens. Hilfreiche Hände reichten ihr ein Glas Wasser.

»Meine Damen, Sie können die Aula verlassen – ich spreche Ihnen im Namen des Lehrerkollegiums die besten Glückwünsche aus,« wandte sich der Direktor noch einmal an die drei Glücklichen.

Verbeugungen – Fräulein Hering drückte der vorübergehenden Annemarie glückwünschend die Hand – die Eulenaugen Fräulein Neuberts schauten merkwürdig freundlich drein – noch einen Jammerblick von Marianne Davis fing Annemarie auf. Dann schlug die Tür der gefürchteten Aula hinter ihnen ins Schloß. Der Höllenrachen hatte sie unversehrt wieder ausgespien.

Draußen erklang es zum zweitenmal »Hurra!« vielstimmig aus den Kehlen der unteren Abteilung der Oberprima. Rote Mützen wurden in wilder Freude geschwenkt. So – da trug Doktors Nesthäkchen das Abzeichen ihrer neuen Abiturientenwürde auf dem krausen Blondhaar.

»Kinder – ich bin selig!« Die rotbemützte Annemarie wirbelte in ungestümer Ausgelassenheit Elli Jordan, ein stilles, fleißiges Mädchen, im Kreise herum. »Marlenchen, also Mathematik hast du total verhauen? Du redest ja keinen Ton. Hat dich die Freude der Sprache beraubt?«

Marlenes bleiches Gesicht bekam allmählich wieder Farbe.

»Ach, Annemarie, ich kann mich nicht so laut freuen wie du. Ich muß das ganz still für mich tun. Und dann noch eins: Die arme Ilse! Die zwiebeln sie jetzt wohl schon arg da drin. Ich muß immerzu an Ilse denken. Ganz treulos komme ich mir vor, daß ich sie verlassen habe.«

»Na, dann gehe doch wieder rein und sage dem Schulrat, ›wenn mein Inséparable nicht vom Mündlichen befreit worden ist, will ich mich aus Freundschaft ebenfalls von Ihnen fressen lassen‹, du hast ja ein Piepvögelchen, Marlene!«

Das dritte »Hurra!« wurde laut. Es galt der umfangreichen Torte, zu deren Stiftung die untere Abteilung verpflichtet war. Ein Stück nach dem andern wurde verschmaust. Der gesunde Jugendappetit, der tagelang gestreikt hatte, war plötzlich wieder da, und zwar in gesteigertem Maße.

»Nun aber schleunigst nach Hause – die Freudenbotschaft zu melden. Um zwölf zur Pause treffen wir uns hier wieder. Hoffentlich hat dann keine von den sieben Schiffbruch gelitten. Herr Piefke – wir sind durch – vom Mündlichen befreit!« Annemaries helle Stimme jagte den still seinen kleinen Hausgarten bestellenden Schuldiener einen Heidenschreck ein.

»Na, denn tu ich auch schönstens jratulieren, Fräuleinchen. Ich hab's schon jestern jewußt – aber Amtsjeheimnis über allens.« Piefke warf sich hoheitsvoll in die Brust, nahm aber dann doch die fünf Mark, die jede der Abgehenden ihm in die Hand drückte, gnädig an.

Arm in Arm zogen die Rotbemützten durch die belebten Straßen Berlins. Annemarie, beweglich wie Quecksilber, sprang und tanzte dahin, als wäre sie nicht eine erwachsene junge Dame, die heute zum letztenmal auf der Schulbank gesessen, sondern noch Doktors kleines Nesthäkchen, das erst durch Schuldisziplin gebändigt werden mußte. Jedem Vorübergehenden, und war es der mürrischste Griesgram, wurde es warm ums Herz, wenn er in die strahlenden jungen Augen blickte.

Im Galopp ging es daheim die Treppen hinauf – immer zwei Stufen auf einmal.

»Hanne – ich bin durch!« –

»Na, so 'ne Jemeinheit! Die Onkels können sich aber vor mich in acht nehmen – unser Kind durchfallen zu lassen, wo es Tag und Nacht sich reine varrickte jelernt hat – – –«

Annemaries übermütiges Lachen unterbrach die schimpfende Hanne.

»Aber, Hanne, ich bin doch nicht durchgefallen – durch bin ich – fertig – ohne mündliches Examen, weil ich das Schriftliche mit eins – ach, da ist Mutti!« Annemarie lag am Halse der Mutter, lachte und schluchzte durcheinander.

»Muttichen – nun hat die Tierquälerei ein Ende! Vom Mündlichen bin ich dispensiert worden, Marlene Ulrich auch. Ach, Muttichen, ich bin ja so selig!« Fest hielt die Mutter ihr Nesthäkchen im Arm.

»Meine Lotte!« sagte sie nur leise. Denn eine Mutter bangt um ihr Kind noch mehr, als es selbst. Hatte sie doch längst entdeckt, daß das Examenskleid aus dem Schrank fehlte.

Klaus, der die würdige Gelegenheit benutzt hatte, heute das Kolleg zu schwänzen, kam freudigst herbei. »Hab' ich dir's nicht gesagt, Annemie, die Dummen haben das meiste Glück? Was hast du nun von all deinem Büffeln? Wenn der Mensch Schwein hat, kommt er auch so durchs Leben.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen, mein Sohn. Fleißige Pflichterfüllung gibt eine sicherere Gewähr«, wandte die Mutter ein. Und auch Puck, der Annemarie wie toll umkreiste, erhob laut kleffend Einspruch.

»Ist Vater nicht zu Hause und Hans?« Annemarie brannte darauf, ihr Glück zu verkünden.

Nein, Vater war bereits in der Praxis und Hans im Anwaltsbureau. Wer wozu war denn das Telephon da? Nach allen Seiten rief es der elektrische Draht in die Welt hinein, daß' Doktors Nesthäkchen das Abiturium mit Auszeichnung gemacht habe; daß es vom Mündlichen dispensiert worden sei.

Vater unterbrach den Patientenrundgang, um seine Lotte ganz schnell an das Herz zu drücken. »Nun bekomme ich bald meine kleine Assistentin – der erste Schritt dazu ist gemacht. Wird auch Zeit!«

Großmama erschien mit strahlendem Stolz und einer verheißungsvollen Riesenbonbonniere. Sie hatte es geahnt, daß Nesthäkchen das Examen mit Glanz bestehen würde, sie hatte es im voraus gewußt. Tante Albertinchen kam mit freudig baumelnden Löckchen, Vera mit vielen Küssen und Bruder Hans sogar galant mit Rosen. Nesthäkchen war heute mal wieder der Mittelpunkt des Doktorhauses.

Bei aller Glückseligkeit aber vergaß es doch nicht die sieben armen Opfer, die noch im Höllenfeuer des Examens schmorten. Pünktlich zur Zwölfuhrpause trat Annemarie wieder in der Schule an, um zu hören, wie es mit den andern stand.

Gut war es gegangen. Die Mädel waren wie aufgebunden. Schulrat und Direks waren riesig nett und die Fragen kinderleicht. »Wenn's nicht schlimmer wird, kommen wir sämtlich durch,« teilte Ilse ihrer Intima Marlene erleichtert mit, während Marianne ein Stück Torte nach dem andern zur notwendigen Stärkung vertilgte.

Ja, alle kamen sie durch.

Am nächsten Abend schaute die mit Girlanden und bunten Lampions feenhaft geschmückte Turnhalle auf zehn glückliche Rotbemützte. An langen Tafeln saßen sie, Lehrerkollegium und Schülerinnen, sonst durch die respektvolle Mauer der Disziplin streng geschieden, heute in fröhlichem Beieinander. Da ließ man sich Hannes italienischen Salat schmecken, schmauste umschichtig Brötchen und Torten in nicht endenwollender Zahl und sang dreist und keck bei der Pfirsichbowle Spottlieder auf Schule und Lehrer. Und keiner konnte einem deshalb mehr einen Tadel geben, selbst die Eulenaugen durften einem nichts mehr anhaben. – O du selige, goldene Freiheit!

Aber die Turnhalle, die doch eigentlich von allen Schulklassen die am wenigsten ehrpusselige ist und manchen Seitensprung gestattet, blickte schließlich doch mißbilligend auf die ausgelassene Mädchenschar, als das Festspiel stieg.

»Die heilige Feme« hieß es. Die Verfasserin, Annemarie Braun, wollte Fräulein Neubert beweisen, was sie bei ihr gelernt hatte. Fünf schwarze vermummte Gestalten, schaurige schwarze Larven vor den lustigen Gesichtern, saßen beim zwölften Mitternachtschlag zu Gericht über die armen Lehrer.

Mit düsterer Stimme und strafend erhobenen Händen schrien sie ihr »Gerüst«. »Wehe! – wehe! – wehe!« Keins von den armen Opfern ward begnadigt. Alles, was in den langen Jahren von den Lehrern gesündigt worden war, wurde unbarmherzig von der heiligen Feme abgetan und verurteilt. Fräulein Neubert ward sogar wegen unüberwindlicher Abneigung gegen Konditoreien in eine Eule verwandelt – wehe – wehe – wehe!

Nein, Annemarie Braun trieb es wirklich ein wenig zu bunt. Das fand nicht nur manche würdige Lehrerin, auch die Turnhalle schüttelte ihr betagtes Haupt, daß Schaukelringe und Rundlauf leise klirrten. Die meisten Lehrer aber machten gute Miene zum bösen Spiel und lachten mit den Mädeln um die Wette. Ja, Professor Herwig, dem wegen zu schwerer lateinischer Extemporale seine Schnupftabakdose entzogen werden sollte, ruhte nicht, bis die junge Verfasserin zur Strafe aus selbiger Dose ein Prischen genommen hatte, und nun statt »wehe – wehe – wehe – hatschi – hatschi – hatschi –« ertönen ließ.

Piefke hatte das Klavier aus der Gesangsklasse herunterschaffen müssen und nun wurde getanzt. Die Fidelitas setzte ein. Zwar empfahlen sich jetzt die Lehrer, denn für sie war morgen kein Tag der Freiheit, sondern gewöhnlicher Schultag. Aber statt ihrer drangen Brüder und Vettern in das Heiligtum der Mädchenschule ein, stürzten sich auf die übriggebliebenen Brötchen und Torten und wirbelten, allem mißbilligenden Kopfschüttelns der Turnhalle ungeachtet, ihre Tänzerinnen zwischen Leitern, Schwebebäumen und Barren umher.

Mit Stocklaternen, wie die Glühwürmchen anzuschauen, zogen die Rotbemützten schließlich singend aus den Mauern der Schule hinaus – hinein in ein neues Leben.

Möge es dir Glück bringen, Nesthäkchen!

 

Hermann Schmidt's Buch- und Kunstdruckerei, G.m. b. H., Berlin O 27.


 << zurück