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9. Kapitel. Unvorhergesehenes.

In der dritten Woche weilte Annemarie nun schon auf Gut Arnsdorf. Sie hatte inzwischen gelernt, nicht in jeder harmlosen Kuh einen wütenden Stier zu wittern. Sie war mit zur Feldarbeit hinausgezogen und hatte sich an der scharfen Sense nur wenig in den Finger geschnitten. Trotz brennender Julisonne, hatte sie fleißig beim Schichten und Binden der Garben geholfen. Ihre Garbengruppen sahen zwar etwas erholungsbedürftig aus – »wie verhungerte Großstädter,« meinte Peter – aber sie hatte das Kunststück, das schwieriger schien, als die schwerste mathematische Ausrechnung, doch fertig gebracht.

»Mädel, du gibst noch mal einen ganz tüchtigen Inspektor ab«, äußerte sich Onkel Heinrich anerkennend. »Wie ist's, soll ich dich in Brot und Lohn nehmen?«

»Vater braucht mich zur Assistentin, weil unsere Jungs nicht Medizin studieren wollen. Ich hab's Vater schon eher versprochen, sonst gern, Onkel Heinrich.« Annemarie nahm die Sache ganz ernst.

Auch Tante Käthchen war sie in der Einkochzeit in Gemüse- und Obstgarten mit gutem Willen zur Hand gegangen. Tante Käthchen hatte das übermütige, frische Mädelchen so lieb gewonnen, daß sie es überhaupt nicht wieder hergeben wollte. »Dich geb' ich nicht wieder heraus, du mußt bei mir bleiben, mein Liebling, wenn Elli und Bübchen für immer nach Kiel ziehen«, sagte sie oft.

»Kannst mich ja heiraten«, schlug Peter vor.

»So dämlich – nee, solchen Frechdachs mag ich nicht zum Manne«, lehnte Annemarie deutlich ab.

»Wie ist's denn mit mir?« neckte Herbert.

»Na, du wärst erst der Richtige – ein Faultier ist noch schlimmer als ein Frechdachs.« Trotz dieser täglichen Wortkriege und Hänseleien verstanden sich die Vettern mit ihrem Cousinchen recht gut.

Am liebsten aber von allen aus Gut Arnsdorf hatte unbedingt Klein-Bübchen die Annemarie. Noch lieber als der Waldmann, trotzdem der ihr auch überall nachlief. Bübchen wollte sich nur noch von Annemarie füttern lassen. Annemie mußte ihm sein Fläschchen geben, ihn waschen und zu Bett bringen. Wenn Bübchen die »Mie« – so rief er sie – nur von weitem sah, dann war er nicht mal mehr bei der Mutter zu halten. »Was soll das bloß werden, wenn mein Kindermädel wieder in Berlin ins Gymnasium geht?« jammerte Elli jetzt schon.

»Bis dahin ist ja noch schrecklich lange Zeit,« tröstete Annemarie. Vorläufig lagen noch Wochen voll Sonnengold und ungebundener Freiheit vor Doktors Nesthäkchen.

Jeden Morgen vor dem Spiegel beim Kämmen – denn sonst hatte man in Arnsdorf keine Zeit vor dem Spiegel zu stehen – stellte Annemarie triumphierend fest, daß sie am verflossenen Tage wieder ein gut Teil brauner gebrannt war. Wenn das noch einige Wochen so weiter ging, würde sie selbst Marlene und Ilse den Preis als Mohrenkopf streitig machen.

Merkwürdig war, daß Annemaries liebenswürdiges Wesen selbst die polnischen Feldarbeiter, die brummig und widerwillig ihre Pflicht taten, bezwang.

»Laß dich nicht mit der Sorte ein, gehe ihnen möglichst aus dem Wege, Kind. Sie führen nichts Gutes im Schilde,« hatte Tante Käthchen gewarnt.

Aber Annemarie war gewöhnt, jeden freundlich zu grüßen. Ihre strahlenden Blauaugen hatten es selbst den polnischen Tagelöhnern angetan. Und vielleicht noch mehr ihr rosenrotes Miedertüchlein mit den bunten Bauernblumen, das stach den polnischen Weibern besonders in die Augen. Als die junge Großstädterin eines Morgens beim Garbenaufrichten tüchtig mit angriff, trat eine Polin mit blitzenden, schwarzen Augen an sie heran.

»Ah – schöner Tuch dies – schöner Tuch!« sagte sie bewundernd und fuhr mit der Hand streichelnd über das leuchtende Tuch.

Wollte sie ihr das Tuch rauben? Annemarie warf einen sichernden Blick in die Runde. Die anderen Arbeiter waren ein ziemliches Stück von ihnen entfernt. Und außerdem waren es fast ausschließlich Polen, die würden ihr kaum beistehen. Da riß Annemarie kurz entschlossen das Tuch ab und reichte es der Überraschten.

»Möchten Sie das schöne Tuch gern haben? Hier, bitte, ich schenke es Ihnen.«

Die polnische Frau war ganz außer sich vor Freude. »Ah, gutte Frräulein – schöne Frräulein –« Sie konnte sich gar nicht genug tun in dankbaren Handküssen. Von diesem Tage an war Annemarie der erklärte Liebling der polnischen Arbeiterschaft.

»Eine kleine Satanshexe,« schmunzelte Onkel Heinrich, »selbst mit den Polacken ist sie gut freund.«

Diese Freundschaft sollte sich ganz merkwürdig beweisen.

An einem Juliabend war's. Die Linden dufteten süß und schwer. Annemarie stand an ihrem Giebelfenster und löste ihr reiches, blondes Haar für die Nacht. Die Luft war köstlich. Das junge Mädchen konnte sich gar nicht entschließen, die Fensterläden zuzusperren.

Da löste sich ein dunkler Schatten von der mondbeschienenen weißen Hauswand.

»Frräulein, gutte Frräulein – schöne Frräulein – Maruschka will sprrechen zu gutte Frräulein,« wisperte es mit dem Nachtwind herauf.

»Was wollen Sie denn?« Annemarie fragte es laut. Sie hatte keine Furcht, aber ganz behaglich war ihr doch nicht zumute.

»Ah – sprrechen nicht laut – sprrechen leise – ganz leise – Maruschka will sagen gutte Frräulein, was gegeben hat armes Polin schöne rrote Tuch, wenn gutte Frräulein will fahrren nach Haus zur Maminka, können rreisen keine Tag mehrr – keine Tag – nurr morrgen.«

»Aber warum denn, Maruschka; gibt's denn wieder einen Eisenbahnerstreik?« Annemarie dämpfte nun auch ihre helle Stimme. Sie fühlte, daß die dankbare Polin es gut mit ihr meinte.

»Kommen Pollen, werrden nemmen Gutt hier, werrden nemmen Dorrf, werrden nemmen Eisenbahn. Kann gutte Frräulein nicht merr fahrren nach Haus zurr Maminka.«

»Ich danke Ihnen vielmals, Maruschka. Aber so schlimm wird's ja nicht gleich werden.« Mit der Sorglosigkeit der Jugend schob Annemarie jede Möglichkeit einer frühzeitigen Unterbrechung ihres herrlichen Aufenthaltes von sich. Quatsch – es wurde hier in der Grenzgegend so viel von heranrückenden polnischen Soldaten gefaselt! Das war sicher wieder eines der beliebten Gerüchte. Sorglos schlief Doktors Nesthäkchen ein.

Als Annemarie am andern Morgen zum Frühstück herunterkam, war sie höchlichst verwundert, auch den Hausherrn, der sonst schon längst seinen Morgenritt machte, dort anzutreffen.

»Onkel Heinrich, du bist noch da? Fein! Da können wir nachher zusammen aufs Feld,« rief sie lebhaft.

»Du wirst heute nicht mit aufs Feld können, Kind.« Onkel Heinrich hatte tiefe Falten zwischen den hellen Augenbrauen.

»Warum denn nicht?« Annemaries Augen wurden rund und erstaunt. Sie wanderten von Onkel Heinrichs finsterem Gesicht zu Tante Käthchen. Nanu? Hatte Tante Käthchen geweint?

»Annemie, es ist amtlich Nachricht gekommen, daß starke polnische Truppen vorrücken auf Arnsdorf. Sie werden das Gut besetzen und uns von unserm deutschen Vaterland gänzlich abschneiden.« Tante Käthchen, die sanfte, rief es weinend in heißer Empörung.

»Ach, Tante Käthchen, du hast doch selbst so oft gesagt, das sind alles nur dumme Gerüchte, denen man nicht Glauben schenken muß,« tröstete Annemarie. Und die nächtliche Warnung der Maruschka? Ach was, die hatte eben auch von dem Gerücht gehört.

»Diesmal ist es Ernst. Es ist amtlich gemeldet,« mischte sich Onkel Heinrich hinein. »Und darum, Kind, können wir unter den bevorstehenden unsicheren Verhältnissen die Verantwortung deinen Eltern gegenüber nicht tragen. Abgesehen davon, daß wir nicht wissen, wie lange überhaupt noch Züge abgelassen werden. So schwer es uns wird, Annemarie, Tante Käthchen und ich halten es für richtig, daß du sogleich deine Sachen packst und deine Eltern telegraphisch in – – –«

»Was – rausschmeißen wollt ihr mich?« unterbrach ihn da das Backfischchen mit zuckenden Lippen. Onkel Heinrich und Tante Käthchen, die sie nie wieder hatten hergeben wollen, wollten sie heute schon los sein? Annemarie traute ihren Ohren nicht.

»Annemiechen, Liebling, du glaubst ja nicht, wie schwer wir uns zu diesem Schritt entschlossen haben.« Tante Käthchen zog das erstarrte Mädchen zärtlich zu sich heran. »Aber es muß sein. Wir können nicht mehr für deine Sicherheit hier einstehen. Am liebsten würden wir dir auch Elli und Bübchen mitgeben. Aber sie will ja durchaus nicht von uns fort.«

»Ich auch nicht. Ich will auch bei euch bleiben, Tante Käthchen. Ich graule mich kein bißchen vor den Polen. Schmeißt mich doch nicht raus – bitte – bitte!« Schwer war's, diesen lieben, bettelnden Blauaugen etwas abzuschlagen.

Aber Onkel Heinrich schüttelte trotzdem den Kopf. »Du kannst möglichenfalls auf Monate von deinen Eltern abgeschnitten sein. Das dürfen wir nicht riskieren. Du packst gleich deine Sachen und fährst mit dem Elfuhrzug. Bis Breslau begleitet Herbert dich und setzt dich dort in den Berliner Zug. Es tut uns leid, Kind, aber – es ist nicht das schlimmste und größte Opfer, was die Polen von uns fordern werden.« Onkel Heinrich verließ dröhnenden Tritts die Veranda.

Zum erstenmal seit ihrem Arnsdorfer Aufenthalt wollte das Frühstück nicht rutschen. Annemarie würgte das gute Landbrot hinunter und der goldene Honig, den sie sonst so gerne gemocht, widerstand ihr geradezu.

Es half nichts. Der Reisekoffer wurde vom Boden heruntergeholt. Elli half Annemarie beim Einpacken, während Tante Käthchen eine Futterkiste für die Eltern und den Mundvorrat für die Fahrt zurecht machte.

Wie im Traum zog alles an Annemarie vorüber, unwirklich, als ob sie es gar nicht selbst erlebte. Da war Kutscher August, der den Koffer auf den Wagen lud. Sie lag im Arm von Tante Käthchen, die sie gar nicht wieder loslassen wollte. Bübchens Stimme rief: »Mie tommen – Mie tommen.« Irgendwo wedelte Waldmanns goldbraunes Dackelschwänzchen in blauer Luft.

Dann zogen Wiesen, Kühe, Felder vorüber: dort winkten die Garbenpuppen, die sie eigenhändig gebunden, ein Lebewohl. Der rote Kirchturm von Arnsdorf – schwarzer Dampf aus brüllendem Lokomotivenschlund – durcheinanderhastende Menschen. Durch einen Tränenschleier sah Annemarie Onkel Heinrichs breite Gestalt und Peters schlanke auf dem Bahnsteig kleiner und kleiner werden – immer kleiner – eine Kurve – so, nun war nichts mehr von Arnsdorf zu erblicken.

Da zog Annemarie ihr Taschentuch hervor und weinte bitterlich.

Herbert wußte nicht recht, was er mit dem heulenden Backfisch anfangen sollte. Annemaries ungestümer Schmerzausbruch war ihm peinlich. Die Kleinbahn war überfüllt. Jeder wollte noch mit dem letzten Zuge fort, ehe die Polen kamen.

Breslau – nun mußte Herbert das Cousinchen allein seinem Schicksal überlassen.

»Leb wohl, Annemarie, und wenn wir die Polen rausgeworfen haben, kommst du wieder,« rief er, neben dem schon fahrenden Zuge entlangtrabend, noch tröstend.

Annemie schüttelte traurig den Kopf. Wann würde das sein? Es war ihr, als ob mit dem Vetter das letzte Zipfelchen der goldenen Sommertage auf dem Lande ihr entwich.

Der beste Trost bei einem Abschiedsschmerz pflegt meist der Futterkorb zu sein. Als Annemarie das erste Ei und die leckere Schinkensemmel beim Wickel hatte, ward ihr Schmerz stiller. Den Hühnern, die ihr das Ei gespendet hatten, hatte sie morgens das Futter gestreut. Der Schinken stammte sicherlich von dem Ahnherrn eines der rosigen Ferkelchen, die sich zu Annemaries Ergötzen stets so drollig im Sande einbuddelten. Und die Pfirsiche hatte sie selbst gestern vom Spalier gepflückt. Zärtlich strich Annemarie über ihren Samt. Sie fühlten sich so weich an wie Bübchens Wange.

Immer weiter ratterte der Zug, legte eine immer größere Entfernung zwischen ihr und ihrem Ferienglück. Wie mochte es in Arnsdorf werden, wenn die Polen kamen? Die Mitreisenden erzählten alles mögliche von polnischen Übergriffen, Härten und unerträglichem Druck in bereits besetztem Gebiet. Das junge Mädchen konnte sich das nicht recht vorstellen. Maruschka war doch so gut zu ihr gewesen. Und Vera hatte doch auch polnisches Blut in den Adern. Was würde Margot bloß sagen, wenn sie plötzlich wieder an die Balkonwand pochte? Und die Eltern! Wie würden die sich freuen, ihre Lotte wieder zu haben. Annemarie, die noch eben so traurig gewesen, fühlte mit Erstaunen, wie die Freude der Eltern, die sie sich ausmalte, warm in ihr eigenes Herz zurückstrahlte. Sie freute sich ja auch, sie alle wiederzusehen. Wenn Onkel Heinrich in seiner Aufregung nur nicht vergessen hatte, den Eltern zu telegraphieren, denn sie kam nachts in Berlin an.

Geld genug hatte sie zwar, um sich vom Bahnhof eine Droschke leisten zu können. Für alle Fälle hatte Onkel Heinrich sie noch mit einem Hundertmarkschein versehen. Der war sorgsam in ihrem Handtäschchen untergebracht. Krampfhaft hielt sie dasselbe in der Hand und sah jeden Mitreisenden mißtrauisch an, ob er auch keine bösen Absichten gegen ihren Schatz hege.

Allmählich schwand der Argwohn. Man freundete sich miteinander an. Dies ungekünstelte, freundliche Wesen des reisenden Backfisches gewann ihm auch hier bald die Herzen.

Das Riesengebirge wurde mit blaugrauen Höhenzügen sichtbar. Liegnitz mit seinen alten Häusern zog vorüber. Wieder Wälder, Wiesen, Windmühlen, rote und weiße Kopftücher zwischen goldenen Halmen.

Abendrosen blühten schon am westlichen Himmel in purpurner Pracht auf. Der Zug fuhr in die Bahnhofshalle von Sagan ein. Nun war es nicht mehr weit bis Berlin. Nur noch dreiundeinhalb Stunden. Annemarie konnte schon die Zeit nicht mehr erwarten.

Da trat der Schaffner in ihr Abteil. »Sagan – alles aussteigen – der Zug fährt nicht weiter.«

Nanu – was sollte denn das heißen?

Da war der Beamte auch schon davon, um im nächsten Abteil dasselbe zu melden.

Größte Verwirrung allenthalben. Zwei Damen rafften ängstlich ihr vieles Handgepäck zusammen. Ein Herr schimpfte, er rühre sich nicht vom Platz. Er habe sein Geld bis Berlin bezahlt und wünsche nun auch hinbefördert zu werden. Ein anderer wieder drängte zum Aussteigen. Sicher war etwas an der Maschine in Unordnung und man würde mit einem anderen Zuge weiterbefördert werden.

Das leuchtete auch Annemarie ein. Sie griff nach ihren Sachen. Etwas reichliches Gepäck war es. Tante Käthchen hatte nicht damit gerechnet, daß Annemarie zwischen Breslau und Berlin, wo sie von den Eltern sicher auf dem Bahnhof erwartet wurde, noch einmal würde umsteigen müssen. Zwei Eierkisten, eine für die Großmama, eine für die Eltern. Den schweren Rucksack schnallte sie auf. Aber dann war da noch der Korb, aus dem es öfters mal leise piepte. Junge Hühner waren da drin. Annemarie wußte gar nicht, wie sie mit ihren Siebensachen hinauskommen sollte.

Nun stand sie endlich in einem Menschenknäuel auf dem von der Abendsonne bestrahlten Bahnsteig. Man umlagerte den Mann mit der roten Mütze. Der zuckte gleichmütig die Achsel. »Eisenbahnerstreik proklamiert, es fährt kein Zug mehr.«

»Ich muß aber nach Berlin,« schrie ein Herr wütend.

»Dann müssen Sie sich ein Luftschiff mieten,« rief irgendein Spaßvogel.

Die Reisenden liefen in unbeschreiblicher Aufregung durcheinander. Jeder hoffte noch irgendwo eine Möglichkeit zur Weiterreise zu erlangen. Vergebens. Die schwarzen, fauchenden Eisenungetüme standen mitleidslos still. Kein Rad drehte sich mehr – der Streik hatte jeglichen Verkehr jäh unterbrochen.

Annemarie war wie benommen. Was nun? Wie würden sich die Eltern um ihr Ausbleiben sorgen. Vor allen Dingen ein Telegramm nach Hause senden. So huschlig und unüberlegt das Backfischchen auch manchmal war, jetzt, wo die Stunde es verlangte, handelte es verständig.

Die Post war gegenüber. Annemarie gab Rucksack, Eierkisten und piepsendes Gepäck in den Aufbewahrungsraum.

Vor der Post staute sich eine Menschenschlange. Alle wollten sie den Telegraphendraht in Anspruch nehmen. Da kamen die ersten schon wieder aus dem Postgebäude heraus. »Telegrammdienst gesperrt – alles streikt!« riefen sie aufgeregt.

»Da soll doch der Deibel reinschlagen!« machte sich jemand wütend Luft.

Überall wurden Rufe der Enttäuschung und des Ärgers laut. Dazwischen stand Doktors Nesthäkchen mit dem schlausten Gesicht der Welt. Was sollte es denn jetzt bloß beginnen?

»Wir müssen schleunigst in die Stadt gehen, sonst bekommt man keine Unterkunft in den Hotels mehr und hat das Vergnügen, bei Mutter Grün zu logieren,« sagte ein Herr zu seiner Frau in Annemaries Nähe.

Da zog schon eine Karawane die baumbestandene Straße, die sich zum Städtchen hineinwand, entlang. Ganz benommen schloß sich Annemarie dem Zuge an. Allein in einem Hotel in einer fremden Stadt – so keck Doktors Nesthäkchen auch für gewöhnlich war, diesem Außergewöhnlichen gegenüber versagte ihre Keckheit. Auch lastete ihr die Sorge der Eltern schwer auf der Seele und ließ ihren sonst so fröhlichen Mut nicht aufkommen.

Die Stadt war beinahe erreicht, still und friedlich lag sie im Grünen im letzten Abendglanz. Da durchzuckte es Annemarie plötzlich heftig wie ein körperlicher Schmerz – ihre Handtasche – das Täschchen mit dem Hundertmarkschein – wo war es? Die Menschen, die Bäume, die Häuser begannen sich zu drehen. Eiskalt überlief es sie.

Beim Aussteigen hielt sie es noch in der Hand – bestimmt! Hatte sie es durch das viele Handgepäck auf dem Bahnhof verloren? Oder vor dem Postgebäude? Jedenfalls zurück, suchen – suchen!

Scharen von Menschen kamen ihr entgegen. »Haben Sie nicht eine kleine dunkelgrüne Handtasche gefunden?« Wie oft stellte Annemarie diese Frage auf der kurzen Strecke zum Bahnhof zurück! Und wie oft erhielt sie die gleiche niederschmetternde Antwort »nichts gefunden«.

Die Menschenmenge auf dem Bahnhof hatte sich ziemlich verlaufen. Das Suchen auf dem Perron wurde dadurch erleichtert. Auf und nieder lief das junge Mädchen in grenzenloser Aufregung. Nirgends eine Spur von dem grünen Täschchen. Weder Stationsvorsteher noch Gepäckträger hatten dasselbe gesehen. Auch im Handgepäckraum fand es sich nicht. Damit schwand Annemaries letzte Hoffnung.

Die Nacht zog auf. Mit goldenen Flimmersternen am dunkelblauen Samthimmel senkte sie sich still auf das Getriebe des Tages herab. Ach, wer jetzt ein Dach über seinem Haupt, eine Lagerstatt sein nannte! Wie glücklich, wie beneidenswert war der!

Ohne Geld nachts in einer fremden Stadt! Doktors Nesthäkchen wußte nicht, wohin es sich wenden sollte, wo es einen Unterschlupf fand. Die Julinacht war warm. Längs der Landstraße hatte man Heuschober errichtet. Sollte sie dort unterkriechen? Nein – nein – das sonst so dreiste Mädel war plötzlich wie ausgetauscht.

Du liebes Giebelstübchen in Arnsdorf, wenn sie sich doch noch dort geborgen fühlen könnte! Und daheim warteten die Eltern vergebens: wer konnte wissen, wie lange die Eisenbahn- und Postsperre andauerte! Wovon sollte sie inzwischen ihr Leben fristen?

Halt – die Futterkiste von Tante Käthchen! Wie gut, daß sie die wenigstens noch hatte. Ja, hatte sie dieselbe denn noch? Sie hatte sie ja der Aufbewahrungsstelle übergeben und dafür eine Marke in Empfang genommen. Wo war die Marke? Annemarie kramte in ihren Manteltaschen und in ihrem Gedächtnis nach. Die Marke kam nicht zum Vorschein. Dunkel erinnerte sich Annemarie, daß sie die Marke in ihr grünes Täschchen gelegt hatte. Folglich hatte sie die Tasche erst nachher verloren. Ob der Beamte ihr das Handgepäck ohne Marke herausgab? Der Andrang war groß gewesen. Er kannte sie bestimmt nicht wieder. Versuchen mußte man es jedenfalls. Auch meldete sich jetzt von dem vielen Hin- und Herlaufen wieder der Hunger, den das junge Mädchen in der Aufregung nicht gespürt. Der Rucksack war noch umfangreich. Das war wenigstens ein Trost.

O Tücke des Schicksals – die Handgepäckstelle war bereits geschlossen. Aber der Wartesaal daneben sandte einladende Lichtstrahlen in das Dunkel hinaus. Ob sie sich hineinwagte?

Auf den Bänken, die an den Wänden des großen Raumes entlang liefen, saßen müde Menschen zusammengekauert. Größtenteils Reisende der vierten Wagenklasse, die nicht in der Lage waren, ein teures Hotel aufzusuchen.

Annemarie gesellte sich zu ihnen. Die meisten schliefen. Einige waren mit Vertilgen von umfangreichen Schnitten beschäftigt oder beruhigten weinende Kinder. Annemaries gesunder Appetit wuchs, als sie andere essen sah, und es sich selbst versagen mußte. Ihre Blauaugen wurden begehrlich.

Das gemeinsame Mißgeschick, das sie alle betroffen, überbrückte das Fremdsein. Man plauderte miteinander und erwog die Möglichkeit einer Weiterreise. Auch Annemarie beteiligte sich in ihrer freimütigen Art an dem Gespräch. Sie berichtete von ihrem Verlust und fand lebhaftes Mitgefühl. Ja, als man hörte, daß sie ihren Rucksack mit den Eßvorräten abgegeben habe und heute nicht mehr herausbekäme, wurden ihr von allen Seiten milde Gaben zuteil. Die eine reichte ihr ein Käsebrot, der andere Obst. Aber merkwürdig – Annemaries großer Hunger war plötzlich wie fortgeweht. Wie schmählich, daß sie von milden Brosamen leben mußte. Denn Doktors Nesthäkchen hatte seinen Stolz.

Der Mond guckte um die Ecke des Bahnhofsgebäudes. In der Fremde, wenn man sich verlassen fühlt, ist er einem ein guter Freund. Er lächelte Doktors Nesthäkchen so vertraut an, daß die schwere Hoffnungslosigkeit, die sich an die fröhliche Seele des jungen Menschenkindes gehängt hatte, sich davonschlich. Annemarie senkte den Blondkopf, sanft und gleichmäßig kamen die Atemzüge – sie schlief inmitten der fremden Umgebung.

Freilich, beim Erwachen, da stand die Sorge, was nun werden sollte, gleich wieder vor ihr. Aber wenn man ausgeschlafen hat, und der helle Tag einem entgegenlacht, sieht alles nur halb so schlimm aus. »Ach was, ich verkaufe die Arnsdorfer Eier und das Geflügel. Das bringt mir sicher so viel Geld ein, daß ich davon eine Fahrkarte nach Berlin lösen kann. Und wenn's auch vierter Klasse ist – bloß ein Zug muß erst wieder fahren.«

Die andern Reisenden ließen sich Kaffee geben, oder holten Flaschen hervor. Das Backfischchen erinnerte sich, daß es ebenfalls noch eine Flasche mit Kakao im Rucksack hatte. Sie hatte Tante Käthchen ausgelacht, daß die ihr soviel zum Futtern einpackte. »Ich fahre doch nicht nach Amerika,« hatte sie Einspruch erhoben. Nun kam ihr die liebevolle Fürsorge der Tante zustatten.

Ja, Kuchen! Der Beamte auf der Handgepäckstelle wollte ihr durchaus nicht ihr Gepäck ohne die Marke herausgeben. Da könnte ja jeder kommen, er mache sich strafbar, wenn er nicht nach seiner Vorschrift handele.

Annemaries Bericht von dem Verlust ihres Handtäschchens und ihre Bitten, sich doch nur etwas aus ihrem Rucksack zu essen nehmen zu dürfen, da sie solchen Hunger habe, erschienen durchaus glaubwürdig. Trotzdem wagte der Mann nicht auf eigene Faust zu handeln. Er sprach mit dem Stationsvorsteher. Der ließ sich von der jungen Reisenden ganz genau beschreiben, was in dem Rucksack enthalten sei. Als Annemarie schließlich noch einen einbeinigen Hampelmann aufzählte, den Bübchen seiner Mie in den Rucksack geworfen, und den sie sich zur Erinnerung mitgenommen, schien auch der Stationsvorsteher von der Richtigkeit ihrer Angaben durchdrungen. Er fällte ein salomonisches Urteil: »Den Rucksack dürfen Sie mitnehmen, das Geflügel und die Eierkisten bleiben hier, ob kein anderer sie verlangt. Nach einigen Tagen können Sie sich dieselben abholen.«

»Nach einigen Tagen – ja, wie lange soll denn der Eisenbahnerstreik dauern?« Angstvolle Blauaugen hingen an dem Mund des Beamten.

Der zuckte die Achsel. »Zwei Wochen, vielleicht auch drei oder vier, wer kann das wissen?«

Es wurde dem jungen Mädchen schwarz vor Augen.

Vier Wochen lang sollte sie hier ohne Geld in Sagan festsitzen? Tante Käthchens Mundvorrat reichte bei sparsamer Einteilung höchstens noch zwei Tage. Und jede Nacht konnte sie doch auch nicht im Wartesaal sitzend zubringen. Es half nichts, sie mußte Geld verdienen. Soviel, daß sie Unterkunft und Unterhalt davon bestreiten konnte. Und die Rückreisekarte vor allem.

In ungewöhnlicher Nachdenklichkeit machte sich Doktors Nesthäkchen, den Rucksack auf dem Rücken, zur Stadt auf.

Was konnte sie eigentlich?

Wenig. Etwas Obersekundaweisheit, damit konnte man nicht viel Geld verdienen. Einige Mädchen in ihrer Klasse gaben jüngeren Schülerinnen Nachhilfestunden. Aber sehr einträglich waren dieselben nicht. Davon würde sie sich nicht ernähren können. Und dann mußte man erst Stunden haben.

Ob sie sich zur Erntearbeit irgendwo verdingen sollte? Erntearbeiter waren jetzt gesucht, das wußte sie von Arnsdorf her. Aber wie oft hatte Peter sie ausgelacht. Dabei hatte sie doch wirklich schwere Arbeit niemals geleistet. Nee, damit war es wohl auch nichts.

Das Städtchen war erreicht. Es war sauber und anheimelnd. Auf dem Marktplatz ging es lebhafter zu als gewöhnlich. Die wider ihren Willen hier festsitzenden Reisenden, die nichts zu tun hatten, schlenderten dort umher. Vor dem Schaufenster der Zeitungsexpedition scharten sie sich zum schwärzlichen Knäuel zusammen. Man hoffte irgend etwas über Wiederaufnahme des Verkehrs in der aushängenden Tageszeitung zu lesen.

Annemarie drängte sich mit nach vorn. Aber nicht die politischen Nachrichten interessierten sie, sondern nur das Annoncenblatt.

»Gesucht« prangte mit fetten Buchstaben als Überschrift. Was wurde denn alles gesucht?

»Verkäuferin in der Konditorei Lippold« – das wäre gar nicht so übel. Berge von Streuselkuchen und leckeren Torten tauchten vor Annemarie auf. Aber dabei wurde sicherlich nicht freie Wohnung gewährt. Und das war für sie doch notwendig. Sonst blieb nicht viel von dem Gehalt übrig.

Was suchte man noch?

Junges Zickel – Hausknecht – Schäferhund – Nähmaschine – gut erhaltener Schweinetrog – Waschfrau – Kindermädel – – – halt, das war was.

Hatte Cousine Elli sie nicht am liebsten als Kindermädel mit nach Kiel nehmen wollen? Hatte sie Bübchen nicht oft genug ganz allein versorgt? Zu einer Kindermädelstelle konnte sie sich mit gutem Gewissen melden. Den Pflichten würde sie genügen können. Und was das beste daran war, sie erhielt freie Wohnung und Kost. Von dem Gehalt konnte sie dann die Rückreise bestreiten.

Herrlich – Annemaries Herz hüpfte vor Seligkeit. Noch einmal studierte sie die Annonce: Kindermädel gesucht Parkstraße 2. Dann machte sie sich auf den Weg, um ihr Glück zu versuchen.


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