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12. Kapitel. Kohlennot.

Kalt war's – bitterkalt. Der Nordost pfiff und heulte im Ofen. Dort konnte er sich austoben, so viel er Lust hatte, denn in vielen Berliner Öfen brannte kein Feuer. Die Kohlennot war groß in der Millionenstadt.

In Nesthäkchens gemütlichem Mädchenstübchen blühten jetzt Eisblumen an den Fenstern statt bunter Winden und Astern. Und gemütlich war es dort durchaus nicht mehr. Hundekalt war es in Annemaries Reich. »Grönland« hatte Annemarie es getauft. Denn die wenigen Kohlen, die man bekam, mußten zur Heizung des Sprechzimmers und des gemeinsamen Wohnzimmers verwendet werden.

Zwischen der weißen Blumenkrippe und dem Bett mit der rosenroten Steppdecke marschierte ein Eskimo mit rosenroter Nasenspitze hin und her. Er trug einen Pelzmantel der Mutter und Pelzüberschuhe an den Füßen, als ob statt des Teppichs meterhoher Schnee dort läge. Eine dicke grünwollene Rodelmütze war tief über die Ohren gezogen und verdeckte alle widerspenstigen Blondhaare. Der grüne Wollschal, der mehrfach um den Hals geschlungen war und bis an die rosenrote Nasenspitze reichte, ließ in sekundenlangen Zwischenräumen Atemwolken hervorquellen. Denn es war so kalt in dem Zimmer, daß man seinen Hauch sah. Die Hände des Eskimos steckten in riesengroßen Fausthandschuhen, die zur Wintersportausrüstung des ältesten Bruders gehörten. Sie hielten den Tacitus wie zwei gewaltige Bärentatzen gepackt. Und wären die strahlenden Blauaugen nicht über der rosenroten Nasenspitze gewesen, so hätte wohl keiner in der Eskimokleidung Doktors Nesthäkchen erkannt.

Hin und her tappten die Pelzschuhe, auf und ab. Denn es war unmöglich, bei der eisigen Temperatur am Schreibtisch zu sitzen. Mit den Atemwolken quollen lateinische Sätze durch die Maschen des grünen Rodelschals. Der Eskimo war so vertieft in seine lateinische Lektüre, daß er nicht merkte, wie sich die Tür hinter ihm öffnete.

»Jotte doch, so'n armes Wurm! Bei lebendigem Leibe muß es hier erstarren. Jeh doch bei deine Mutti, Annemiechen – drin in der Wohnstube is es schön mollig.« Das blaurote Gesicht Hannes blickte voll gutmütigen Mitleids auf den frierenden Eskimo.

»Nee, das geht nicht, Hanne. Drin ist mir zu viel Radau. Dabei kann kein Mensch Tacitus lernen,« klang es dumpf aus der Wollvermummung.

»Radau? Dir piept es woll, Kind. Frau Doktorn ist die ruhigste Frau von der Welt. Wenn du selbst man keinen Radau machst!«

»Das verstehen Sie nicht, Hanne. Drin singt und flötet Mätzchen: Muttis Schere und ihr Fingerhut fallen abwechselnd runter: Klaus kommt plötzlich rein und fängt laut hämmernd an, Stiefel zu besohlen. Und zum Überfluß bimmelt alle paar Minuten das Telephon. Zu Tacitus braucht man unbedingte Ruhe und Sammlung.«

»Na, denn friere meinetwegen weiter mit Tacitussen,« knurrte die Küchenfee, ärgerlich, daß Nesthäkchen keine Vernunft annehmen wollte. »Da – trinke mal erst das heiße Warmbier, was ich dich jekocht habe, Kind.« Sie stellte eine dampfende Tasse auf den Tisch. »Wenn man inwendig jut einheizt, braucht man auswendig keine Kohlen.«

»Hanne, Sie sind doch die allerbeste, trotzdem Sie solch ein Knurrteufel sind. Ich habe aber ein Mittel, das noch besser einheizt als Warmbier und Kohlen.« Damit kriegten die Bärentatzen des Eskimos die nichts Böses ahnende Hanne zu packen und begannen sie im Foxtrottschritt durchs Zimmer zu schleifen.

»Annemiechen – biste denn janz und jar varrickt,« japste die dicke Hanne atemlos. »Tanz' meinetwegen mit Tacitussen Foxtrott, aber mir laß jefälligst unjeschoren.« Damit knallte sie die Tür hinter sich zu.

Der Eskimo lachte wie ein Kobold hinter ihr drein. Dann machte er sich über das Warmbier her. Wirklich, ganz mollig wurde einem danach. Noch ein paarmal die Arme um den Körper geschlagen, wie Nesthäkchen das den auf der Straße frierenden Berliner Droschkenkutschern abgesehen hatte, und nun wieder mit frischen Kräften an die Arbeit.

Die Klingel stand jetzt während der Sprechstunde nicht still. Denn Hand in Hand mit der Kälte schritt die Grippe, die heimtückische Krankheit, die so viele blühende Menschenleben dahinraffte, durch die Straßen der Großstadt. Da war kaum ein Haus, das sie mit ihrem schlimmen Besuch verschonte. Die Ärzte hatten Tag und Nacht keine Ruhe. Und Doktor Braun in seinem unermüdlichen Pflichteifer gönnte sich knapp die Zeit zu den Mahlzeiten.

»Du treibst es so lange, bis du selbst nicht mehr weiter kannst, Ernst,« warnte seine Frau besorgt.

»Zu Essen und Trinken muß Zeit sein. Das dankt einen kein Deibel nich, wenn man nachher selbst auf de Nase liejt,« räsonierte Hanne, wenn sie immer wieder das aufgewärmte Essen in die Kochkiste zurückpacken mußte, weil stets neue Hilfsbedürftige erschienen.

Auch Annemarie bat den Vater unter zärtlichem Streicheln, sich doch ein wenig mehr Ruhe zu gönnen. Aber weder die Sorge seiner Gattin, weder Hannes Gebrumm, noch Nesthäkchens Betteln vermochten Doktor Braun von seiner unausgesetzten Pflichterfüllung zurückzuhalten. Dieses strenge Pflichtbewußtsein wurde, ohne daß der Vater es wußte, seinen Kindern zum nachahmenswerten Beispiel. Hans, sein Ältester, bedurfte dessen nicht erst. Der war schon als Schuljunge stets der Primus durch alle Klassen gewesen; der hatte seine Examina mit Auszeichnung gemacht und war jetzt als Referendar ebenso tüchtig und fleißig wie als Schüler. Mit Klaus hingegen lag die Sache anders. Klaus hatte stets das Wort befolgt: »Wer die Arbeit kennt und sich nicht drückt – der ist verrückt.« Durch das Gymnasium hatte er sich mit viel Geschick mittels Klatschen und Eselsbrücken glücklich hindurchgeschwindelt. Wie er durch das Abiturium mit durchgerutscht war, blieb der Braunschen Familie ein ungelöstes Rätsel. Denn arbeiten hatte ihn keiner je zum Abiturientenexamen gesehen. Die Studentenzeit aber hielt er nun vollends lediglich für den Zweck des Kollegschwänzens, des Kneipens und des darauf folgenden Katers eingerichtet. Er verbummelte in den ersten Semestern gehörig. Jetzt aber, wo er den Vater Tag und Nacht im Dienste der Menschheit tätig sah, begann er sich seines Drohnenlebens zu schämen. Das äußerte sich dadurch, daß er nicht jede Kneipe- und jeden Bierbummel mehr mitmachen mußte. Daß er bei den Kollegs nicht nur als Gast, sondern als regelmäßiger Hörer erschien. Und daß er zu Hause für die gesamte Familie, Hanne und Minna miteingerechnet, Stiefeln besohlte, in denen zwar kein Mensch laufen konnte, da stets irgendwo ein Nagel heimtückisch herausschaute. Dafür machte aber diese segensreiche Beschäftigung um so mehr Lärm und ward zum Apfel der Zwietracht zwischen ihm und Nesthäkchen. Denn Annemarie behauptete voll Undankbarkeit, durch das abscheuliche Gehämmer beim Lernen gestört zu werden. Während Klaus seinerseits geltend machte, daß bei Annemaries lautem Auswendiglernen der sanftmütigste Mensch die Tollwut bekommen könne.

Annemarie lernte augenblicklich in der Tat »mit Dampf« trotz der Kälte. Sie mußte fleißig sein, um bald Medizin studieren zu können, und den Vater, der ohne Rücksicht auf seine Gesundheit immer hilfsbereit war, zu entlasten. Wenn man ein solches Ziel vor sich hat, schweigen selbstsüchtige Wünsche. Dann können die blanken Schlittschuhe noch so blitzen und funkeln, erst hieß es, die Schulaufgaben zu erledigen und die Unterrichtsstunden, die man selbst gab, pünktlich innezuhalten. Da kann der Rodelschlitten noch so sehr nach dem Grunewald locken – für derartige Extravergnügungen blieb der Sonntag. Selbst die Tanzstunde mit all ihren Zauberklängen wurde mit Aufbietung aller Willenskraft in den Hintergrund geschoben, solange die Schulbücher das Regiment führten. »Ich lerne, daß mir der Kopf raucht, da merke ich die Kälte nicht,« pflegte Annemarie zu scherzen.

Eine Unterrichtsstunde, die Nesthäkchen erteilte, war aber doch der Kälte zum Opfer gefallen. Vera hatte gestreikt. Ihre Wohnung, die Zentralheizung hatte, wurde schon seit Wochen wegen des Kohlenmangels nicht mehr geheizt. Ob die Mieter sich auch beschwerten, ob sie drohten und schimpften, es nutzte ihnen alles nichts, sie mußten frieren. Annemaries »Grönland« war nicht wärmer. Das Familienzimmer, das die Mutter den jungen Mädchen zur Verfügung stellte, wurde als Mittelpunkt aller häuslichen Geräusche abgelehnt. Annemarie machte den Vorschlag, die Nachhilfestunde auf den Neuen See, der sich seit Wochen in eine spiegelblanke Eisbahn verwandelt hatte, zu verlegen. Mit Begeisterung nahm die Freundin diesen Ausweg an. Vera war eine vorzügliche Eiskünstlerin, und auch Doktors Nesthäkchen lief anmutig und graziös. Ja, ja – auf dem Neuen See wurde man warm. Dort würde es mit dem Unterrichten und Lernen sicher gehen. Es wäre auch gegangen, denn guten Willen dazu brachten Lehrerin und Schülerin mit. Wenn es nur dort keine Musikkapelle gegeben hätte, die alle die neuen Tänze, die man aus der Tanzstunde her kannte, erklingen ließ. Konnte man dabei trockene Grammatik treiben, wenn es einem in den Beinen zuckte, einen eleganten Eistanz zu vollführen, der die Bewunderung der vom schneeumböschten Ufer Zuschauenden erweckte? Da tauchte plötzlich in Nesthäkchens gelehrten Auseinandersetzungen irgendein Tanzstundenjüngling auf und warf die ganze deutsche Grammatik, die Annemarie so mühsam Veras hübschem Köpfchen einzutrichtern bemüht war, über den Haufen. Veras Versetzungsaussichten nach der Prima standen schlecht. Und daran waren nur die Kälte und die Kohlennot schuld.

In die Schule gingen die Mädel diesen Winter gern. Dort wärmte man sich wenigstens auf. Die städtischen Behörden wurden genügend mit Kohlen versorgt. Aber eines Tages wartete auch dort eine Überraschung. Herr Lustig, der Gesanglehrer, der die erste Stunde gab, da man zum Singen kein Licht brauchte, teilte den Schülern mit, daß der Unterricht heute zum letztenmal im Lyzeum erteilt würde. Das benachbarte Knabengymnasium sollte künftig auch der Bildungsstall der weiblichen Gymnasiasten werden. Der Unterricht würde nachmittags von zwei bis sieben Uhr dort stattfinden. Auf diese Weise würde die Heizung doppelt ausgenützt, und die Hälfte der Schulen sparte Kohlen.

»Fein, da können wir uns wenigstens ausschlafen!« Annemarie Braun rief es begeistert.

»Mein Vater ist vormittags auf dem Gericht, da kann ich in seinem warmen Arbeitszimmer meine Aufgaben machen,« frohlockte Marlene.

»Ich auch« – »ich auch.« Es war eine allgemeine Freude über die Veränderung. Allerdings erhoben sich auch einwendende Stimmen: »Das geht nicht, ich habe zweimal in der Woche nachmittags Turnstunde« – »wir haben doch unser Lesekränzchen am Sonnabend nachmittag« – »meine Klavierstunde kann bestimmt nicht verlegt werden« – »unsere Tanzstunde fängt schon um sechs Uhr an, die versäumen wir auf keinen Fall – – –« Trotz Turn- und Klavierstunde, trotz Lesekränzchen und Tanzstunde hatten die Behörden kein Einsehen. Der Schulunterricht fand künftig am Nachmittag statt.

»Nun kann der Eskimo aus Grönland fortziehen,« erklärte Nesthäkchen daheim und beschlagnahmte täglich nach der Morgensprechstunde das behaglich warme Zimmer des Vaters.

Doktor Braun liebte diese Gemeinschaft eigentlich nicht. Er hatte gern sein Reich für sich. An seinen Schreibtisch durfte allenfalls Muttis ordnende Hand sich wagen. Und selbst dann behauptete er, daß ihm alles verlegt sei und daß man nichts mehr finde. Jetzt, wo sein huschliges Nesthäkchen sich an seinem Heiligtum breitmachte, war das schlimmer als je. Bald fehlte ein Rezept, bald ein Kassenbon. Heute lag das Hörrohr nicht an seinem Platz, morgen wagte sich gar ein vergessenes französisches Buch zwischen medizinische Fachschriften.

»Wenn du deine Gedanken und deine Siebensachen nicht zusammenhalten wirst, marschierst du wieder nach Grönland zurück – verstanden, Lotte?« drohte Doktor Braun seinem Nesthäkchen.

Das aber lachte zu Vaters Worten. »Ehe meine Frostpfoten nicht geheilt sind, darfst du mich nicht rausschmeißen, Vatchen. Sonst kriege ich am Ende auch noch die Grippe!« Der Schlaukopf wußte, wie besorgt der Vater stets gewesen, daß sich sein Nesthäkchen in dem ungeheizten Raum etwas holen könnte.

Mutti aber sorgte sich eigentlich jetzt noch mehr, wo sie Annemarie im warmen Sprechzimmer ihres Mannes bei der Arbeit wußte. Wie leicht konnten dort noch Grippebazillen herumschwirren und ihr Nesthäkchen bedrohen. Fehlte doch jetzt schon die Hälfte der Klasse. Auch die Lehrer waren zum Teil erkrankt. Alle mußten sie der Modekrankheit ihren Tribut zahlen.

»Wir sind gefeit, Muttchen – in ein Doktorhaus wagt sich die Grippe nicht – presente medico nihil nocet,« prahlte Nesthäkchen mit seinen lateinischen Kenntnissen.

Aber die Grippe, die heimtückische, nahm keine Rücksicht auf Annemaries lateinische Gelehrsamkeit. Die schlüpfte ungesehen die mit roten Läufern belegte Treppe hinauf. Mit der aus der Schule heimkehrenden Margot huschte sie in die Thielensche Wohnung hinein. Dort scheuchte sie Margot mit brennender Stirn auf das Krankenlager. Auch die kleinen Geschwister ergriff sie. Doktor Braun ging manchen Tag dreimal hinüber, um nach den Schwerkranken zu sehen. Besonders Margot fieberte erschreckend hoch. Und wenn Annemarie den Vater nach dem Befinden der Freundin fragte, zuckte er nur die Achsel. Es stand sehr schlecht.

Annemarie hatte jetzt weder Lust zum Lernen, noch zum Schlittschuhlaufen oder zum Tanzen. Still und gedrückt stand das ausgelassene Backfischchen am Fenster, hauchte Gucklöcher in die eisblumigen Scheiben und starrte zu Thielens hinüber. Dort waren die Fenster nicht zugefroren, da sie dem scharfen Ostwind weniger ausgesetzt waren. Ab und zu tauchte dort drüben eine weiße Schwesternhaube am Fenster auf. Dann klopfte Annemaries Herz schneller. Wie mochte es Margot gehen?

Lieber Gott, wenn sie stürbe! Annemarie hatte kein reines Gewissen der kranken Freundin gegenüber. Hatte sie sich nicht oft über Margots pedantische Art lustig gemacht? Hatte sie ihr nicht den Namen »Tugendschäfchen« beigelegt? Und wie oft hatte sie Vera zärtlich umschlungen, sie gestreichelt und geherzt, bloß um Margot eifersüchtig zu machen. Wenn sie doch nur noch mal ihr Unrecht wieder gut machen konnte!

Gar zu gern hätte Annemarie persönlich nachgeschaut, wie es der armen Margot erging. Aber die Eltern hatten jegliche Verbindung mit Thielens der Ansteckungsgefahr wegen streng verboten.

Doch die Grippe kümmerte sich weniger als Nesthäkchen um das Verbot der Eltern. Durch die Hintertür wagte sie sich in die Braunsche Küche hinein. Minna, das Stubenmädchen, war die erste, die von ihren Fängen ergriffen wurde. Hanne pflegte sie getreulich und warf sich in die Brust: »Na, mir soll die Jrippe man drei Schritt von'n Leibe bleiben. Mit mich wird sie so leicht nich fertig.«

Es schien wirklich, als ob die Grippe vor der resoluten Hanne Respekt hätte. Sie machte einen großen Bogen um die energische Küchenfee herum und streckte die knöchernen Finger nach der schlanken Frau mit dem früh ergrauten Haar über dem noch jungen Gesicht am Fensterplatz des Wohnzimmers aus.

Mutti war krank. Jedes Kind empfindet ein Unbehagen, wenn die Mutter, die für alle da ist, für alle sorgt, das Bett hüten muß. Annemarie hatte dieses Unbehagen in gesteigertem Maße. Denn sie durfte nicht zur Mutter hinein; sie nicht pflegen und ihr Gesellschaft leisten, wie ihr Herz sie trieb. Ja, man schickte sie sogar aus dem Hause. Mutti selbst hatte es so angeordnet. Denn bei jungen Menschen trat die Grippe gefährlicher auf als bei reiferen. Frau Doktor Braun hatte nicht eher Ruhe, als bis ihr Nesthäkchen mit einem kleinen Handkoffer zur Großmama übergesiedelt war. Man mußte ihr den Willen tun, um das Fieber nicht zu steigern.

Für Annemarie bedeutete es von klein auf einen Festtag, wenn sie bei der Großmama sein konnte. Da war es so friedlich, so hell und sauber zwischen den alten Mahagonimöbeln, den blühenden Tulpen und Hyazinthen an allen Fenstern und den schneeweißen Tüllgardinen. Und Großmama selbst war so appetitlich, stets freundlich und voll Verständnis für alle kindlichen Wünsche. Diesmal jedoch fühlte sich Annemarie in den gemütlichen Räumen gar nicht so wohl wie sonst. Die gute Großmama kochte ihr all ihre Leibgerichte. Sie ließ die Stricknadeln leiser klappern, nur um die lernende Enkelin nicht bei der Arbeit zu stören. Denn Großmama konnte auch nur ein Zimmer heizen. Und auch das nur noch für wenige Tage.

Annemarie hatte weder Lust zur Arbeit, noch zur Unterhaltung. Das war nun eine ganz besondere Merkwürdigkeit bei der lebhaften Enkelin, deren munteres Wesen sonst Großmama eine Erquickung war.

»Kind, bist du auch gesund – ist dir auch nichts? Kein Gliederbrechen, kein Frösteln?« so forschte die alte Dame mit der ängstlichen Besorgnis der Großmütter so und so oft des Tages.

Dann lachte Annemarie wohl ihr altes, frisches Lachen. Aber nicht lange, so war sie wieder still und in sich gekehrt. Wenn sie nur bei Mutti hätte sein dürfen! Frau Doktor Braun war zart und anfällig, seitdem sie während des ersten Kriegsjahres in England interniert gewesen war. Nicht ohne Grund sorgte sich das junge Mädchen, daß der schwächliche Gesundheitszustand der Mutter die Grippe nicht überstehen würde. Jeden Morgen schlich sie sich nach Haus über den Hof zur Küche hinein.

»Hanne, wie geht's Mutti?« Wie bang die blauen Augen dreinsahen.

»Jut, janz jut, Kind – ich koch ihr eben ein Taubensüppchen. Aber mach, daß du wechkommst, Kind, wenn dich unser Herr Doktor hier erwischt, setzt es ein Donnerwetter.«

Bums – schlug die Tür zu und sperrte Annemarie mit all ihrem Bangen und den tausend Fragen, die ihr nach der Mutter noch auf der Seele brannten, einfach aus. Da stand sie vor der verschlossenen Tür ungefähr mit denselben Empfindungen, wie Puck an der Krankenstube, in die er nicht durfte.

Bei Thielens drüben war die Gefahr vorübergegangen. Das war wenigstens ein Lichtblick. Margot war fieberfrei, mußte aber noch lange das Bett hüten, da die Lunge etwas angegriffen war. Annemarie schrieb ihr zärtliche Briefe, um sie zu erfreuen und ihr Gewissen ihr gegenüber zu entlasten.

»Morgen müssen wir im Bett bleiben, Annemiechen,« eröffnete Großmama eines Tages der verwunderten Enkelin.

»Nanu – hat sich die verflixte Grippe etwa hier bei dir auch angesagt?«

»Behüte – aber wir haben heute die letzten Kohlen in den Ofen gelegt. Von Tag zu Tag hat mich der Kohlenlieferant vertröstet, aber er bekommt keine Ware herein. Frieren kann ich nicht, dazu bin ich schon zu alt; folglich bleiben wir im Bett.« Es war Großmama vollständig ernst mit ihrer Absicht.

»Aber ich doch nicht etwa auch, Großmuttchen? Ich lege einfach meine Eskimouniform wieder an. Ich bin Grönlandtemperatur schon gewöhnt,« erhob Annemarie lebhaft Einspruch.

Den ganzen Tag verfolgte sie der Gedanke, daß die arme Großmama von morgen ab frieren sollte. Die alte Dame saß selbst im geheizten Zimmer noch mit dem gehäkelten Seelenwärmer. Wie fing man es nur an, Kohlen für sie zu erhalten?

Als Annemarie abends aus dem Gymnasium mit kältegeröteten Wangen zur Großmama heimkehrte, hatte dort ein zweiter Gast seinen Einzug gehalten: Tante Albertinchen mit Nachtjacke, Zahnbürste und Lockenwickler, mit Sack und Pack.

»Tante Albertinchen, du wagst dich bei achtzehn Grad Kälte aus deinem warmen Stübchen heraus? Du bist doch sonst nicht so unternehmungslustig,« machte das Backfischchen seiner Überraschung Luft.

»Ja, Kind, wenn ich ein warmes Stübchen gehabt hätte, kriegten mich keine zehn Pferde heraus. Aber ich friere schon seit drei Tagen, ich habe das Reißen in allen Knochen.« Ganz betrübt hingen Tante Albertinchens Pudellöckchen herunter, die sonst so lustig zu wackeln pflegten. »Und weil ich weiß, daß Großmama ein leeres Bett für mich hat, habe ich mich zu der Übersiedelung hierher entschlossen. Ich ahnte ja nicht, daß das Bett schon besetzt sei, und daß es hier ebenso hundekalt ist wie bei mir.«

»Hundekalt – aber Tante Albertinchen, heute ist doch noch geheizt. Es ist doch ganz mollig hier.«

»Ja, aber morgen! Morgen werde ich hier genau so erstarrt sein wie zu Hause. Ach, wer mir das in meiner Jugend gesagt hätte, daß ich mal im Alter so frieren muß!«

Tante Albertinchens Kummer tat Annemaries liebevollem Herzen ganz schrecklich leid. Als sie nachts auf dem Sofa lag, denn das Bett hatte sie natürlich dem alten Tantchen mit den sorgsam aufgewickelten Locken abgetreten, zerbrach sich Annemarie den Kopf, woher sie wohl Kohlen für die beiden alten Damen auftreiben konnte. Bis in die Träume hinein verfolgte diese Unruhe die junge Schläferin. Aufgeregt warf sie sich auf dem ungewohnten Lager hin und her.

Bums – ein lauter Knall – Klirren – erschreckte Ausrufe.

»Barmherziger – sind das Einbrecher?« Tante Albertinchen flüsterte es angsterfüllt. Sämtliche aufgewickelte Locken sträubten sich vor Entsetzen.

Auch Großmamas Herz hämmerte vor Schreck. »Kind, Annemiechen, was ist denn bloß passiert?« Mit zitternden Händen schaltete sie das elektrische Licht ein.

Da saß Doktors Nesthäkchen im Nachthemd unten auf der Erde zwischen Sofa und Tisch und lachte – – – lachte – – Mundspülglas und Wasserkaraffe, die sie im Fallen mit vom Tisch heruntergerissen hatte, lagen in Scherben um sie herum.

»Was passiert ist, Großmuttchen? Ich habe geträumt, daß ich Kohlen für dich geholt habe. Eine ganze Kiepe voll. Aber plötzlich kam eine Elektrische, und ich wollte schnell auf die andere Seite, um nicht überfahren zu werden und da – da habe ich eine kleine Rutschpartie gemacht. Ach, ist das komisch – ist das ulkig – – –« Nesthäkchen hielt sich die Seiten vor Lachen.

»Also keine Einbrecher – Gott sei dank!« Tante Albertinchen beruhigte sich wieder.

Bei Großmama ging das nicht so schnell. »Hast du dich auch nicht verletzt, Annemiechen? Ist auch bestimmt nichts gebrochen?«

»Doch – Karaffe und Mundspülglas,« gab Annemarie, vollständig munter geworden, übermütig zur Antwort. »Aber bei der Rutschpartie habe ich sämtliche Kohlen, die ich für dich aufgetrieben hatte, wieder verloren – so 'ne Gemeinheit!« Annemarie kroch zurück ins Bett. Doch so rasch schlief sie nicht wieder ein. Fauchen und Pusten kam alsbald von Tante Albertinchens Lager her, und auch aus der anderen Ecke, in der Großmama schlief, pfiff es melodisch. Das war ja ein nettes Schnarchduett! Annemarie kam nicht zur Ruhe. Der Gedanke verfolgte sie: Wo hatte sie die Kohlen, die sie so deutlich im Traum besessen, bloß herbekommen?

Ach, am nächsten Morgen war keine einzige Kohle mehr in Großmamas Hause. Die beiden alten Damen ließen sich den Kaffee ins Bett bringen, denn draußen war es ungemütlich kalt. Das Thermometer zeigte über zwanzig Grad Kälte an.

»Ei, Annemiechen, solche Nachtwanderung mache nicht wieder. Du hast mir einen schönen Schreck dadurch eingejagt. Ich konnte gar nicht wieder einschlafen,« ließ sich Großmama gähnend vernehmen.

»Aber Großmuttchen, du hast doch wie ein Dompfaff gepfiffen. Ein wunderschönes Schnarchkonzert hast du im Verein mit Tante Albertinchen zum besten gegeben,« rief die Enkelin lachend.

»Das muß Tante Albertinchen gewesen sein – ich war bis zur Morgendämmerung munter.«

Tante Albertinchen aber behauptete, die ganze Nacht kein Auge zugemacht zu haben – sie könne nun mal nur in ihrem eigenen Bette schlafen.

»Na, dann muß ich selbst so doll geschnarcht haben, trotzdem ich ganz allein munter gewesen bin.« Das Backfischchen amüsierte sich gottvoll. »Ich will mal sehen, ob bei Burkhards die Zentralheizung schon wieder in Betrieb ist. Dann wärme ich mich dort auf und arbeite mit Vera zusammen.« Annemarie stülpte die Pelzmütze auf das Blondhaar.

»Kind, du hättest ebenfalls lieber im warmen Bett bleiben sollen. Das heißt Gott versuchen, bei solcher Kälte fortzugehen,« wandte Großmama ein.

»Überhaupt wo die Grippe jetzt so verbreitet ist. Man hat was weg, ehe man's denkt,« stimmte Tante Albertinchen ein.

Aber das Backfischchen lachte alle Bedenken der alten Damen fort. Was – am hellichten Tage sollte sie sich ins Bett legen, wo sie kerngesund war – nee, das war nichts für Doktors Nesthäkchen, überhaupt man fror nur zu Hause, wenn man hinter dem Ofen hockte. Im Freien trieb einem die Kälte das Blut rascher durch die Adern, da wurde einem ganz warm. So behauptete Fräulein Grünschnabel, und übermütig ihre Muffe schwenkend, war sie davon.

Na, allzu warm war es gerade nicht auf der Straße. Die Kälte stach wie mit Nadeln. Die Fußgänger hatten Mantel- oder Pelzkragen bis über die Ohren hochgeschlagen. Sie trippelten wie auf einem Gletscher. Denn in Tausenden von Eiskristallen blitzte und funkelte die weiße Straße.

Doktors Nesthäkchen nahm den Weg zur elterlichen Wohnung. Erst mußte sie hören, ob ihre Mutti eine gute Nacht gehabt, und ob es ihr besser ginge.

Die Vordertreppe wagte sie sich noch immer nicht hinauf, aus Furcht, vom Vater erwischt zu werden. Im Hof war der Hausmeister gerade dabei, Kohlen von einem Handwagen abzuladen. Sein kleiner Pflegesohn, Annemaries besonderer Freund, half ihm dabei.

»Du, Mäxchen, wo habt ihr denn die Kohlen her?« Annemarie blickte mit so begehrlichen Augen auf die schwarzen Steine, als ob sie aus Schokolade wären.

»Ha' mer uns jeholt.«

»Woher denn, Max?«

»Det sag' ick nich – det sag' ick nich.« Der Junge sprang vor Vergnügen oder vor Kälte von einem Bein auf das andere.

»Du, Max, ich hab 'nen Bonbon.« Annemarie grabbelte mit erstarrten Fingern in ihrer Tasche herum.

Jetzt machte der Junge begehrliche Augen.

»Wo denn? Ach, Se haben ja jar keenen, Se schwindeln mich ja bloß was vor,« rief er ungezogen.

Wirklich, Annemarie fand den gesuchten Bonbon nicht mehr. Sie mußte ihn sich wohl schon selbst zu Gemüte geführt haben.

»Mäxchen, ich bringe dir morgen eine ganze Tüte voll mit, wenn du mir sagst, woher ihr die Kohlen habt,« versprach das junge Mädchen.

Aber statt zu antworten, machte der Bengel ihr eine lange Nase und weg war er, in die Portierwohnung hinein.

So eine Range! Dem hatte sie einst den schönen Namen Hindenburg beigelegt; für den Schlingel hatte sie sich gemüht und eigenhändig Windeln genäht, als Hans ihn vor Jahren als elternlosen Ostpreußensäugling mit heimgebracht hatte. Undank ist der Welt Lohn!

Sie mußte sich an den Hausmeister selbst halten. Vielleicht überließ der ihr sogar ein paar Kohlen für die Großmama. Denn Hanne, die auch schon einige Male ausgeholfen, konnte nichts mehr abgeben. Sonst mußte Vaters Sprechzimmer und das Krankenzimmer der Mutter ungeheizt bleiben.

»Ach, Herr Kulicke,« bat Annemarie, als der Mann sich wieder im Hof zeigte, um eine neue Ladung zu verstauen, »wo bekommt man denn Kohlen?«

Der Hausmeister war eigentlich als Grobian im Hause verschrien. Aber Doktors Nesthäkchen mit den strahlenden Blauaugen hatte es ihm wie jedem andern angetan. »Na, Fräuleinchen, weil Sie's sind – von'n Nordhafen habe ich se in aller Herrjottsfrühe heute schon herjekarrt. Was meine Ollsche is, die hätt' sonst heut' morjen keen Droppen Kaffee nich kochen können.«

»Ach, lieber Herr Kulicke, könnten Sie mir nicht ein paar Kohlen abgeben?« bettelte Annemarie. »Meine Großmutter muß heute im Bett bleiben, weil sie kein warmes Zimmer hat.«

»Wir haben ooch tagelang frieren müssen. Nu können die Reichen ooch mal sehen, wie dis is.«

Vater hatte recht: Der Kulicke war sicher Spartakist, dachte Annemarie. Trotzdem versuchte sie noch einmal ihr Heil. »Wir würden es Ihnen sehr gut bezahlen, Herr Kulicke, wenn Sie uns auch solch einen Wagen mit Kohlen besorgen würden.«

»Wenn ihr Kohlen haben wollt, holt se euch jefälligst alleene. Die Reichen denken bloß immer, für ihr Jeld können se allens haben. Nee, is nich! Die Zeiten sind vorbei. Ihr werdet schon nicht frieren, wenn ihr Kohlen schleppen dut wie unsereins. Sollt mal sehen, wie euch denn schwitzt. Hahaha –« Der Mann lachte höhnisch auf.

»Ich würde ja gern selbst Kohlen holen, aber ich habe doch keinen Wagen,« meinte Doktors Nesthäkchen kleinlaut.

»Den würd' ich Ihn' borjen, weil Se immer jut zu unsern Mäxeken jewesen sind,« lenkte der Mann, als er das betrübte Gesichtchen Annemaries sah, ein. »Aber allein könn'n Se den schweren Wagen nicht ziehen, dazu sind Se man zu spillerig. Was Ihre Herren Brieder sind, die kennen anfassen. Die vornehmen jungen Herren kennen ooch mal sehen, wat Schwielen an den Händen bedeuten.« Damit nahm Kulicke seine Last auf den Rücken.

Klaus – ja, Klaus mußte mit zum Nordhafen. Der hatte Kräfte. Der mußte für die Großmama Kohlen fahren helfen.

»Hanne, wie geht's Mutti heute?« Atemlos stieß Annemarie es hervor, so schnell war sie die zwei Treppen hinausgelaufen.

»I, unse Frau Doktorn, die is janz mobil. Aber –«

»Ist Klaus da, Hanne? Rufen Sie ihn doch mal raus.« Annemarie war ganz erfüllt von ihrer Absicht.

»Ja, da sein tut er schon. Aber rufen kann ich ihn nich. Der Herr Klaus nämlich, den hat's jestern abend doll jepackt.«

»War er auf der Kneipe? Hat er wieder mal 'nen Kater?«

»Nee, aber die Jrippe hat er. Und zwar janz jehörig. Und wenn de hier noch lange rumstehst, Annemiechen, denn kriegt se dir auch bei'n Schlafittchen.« Hanne machte Miene, sie schon wieder auszusperren.

Aber Nesthäkchen klemmte den Fuß zwischen die Tür. »Einen Augenblick, Hanne, ist Hans vielleicht noch da?«

»Nee, Annemiechen, der is schon über 'ne Stunde aufs Jericht. Unser Herr Hans is jrade so fleißig wie sein Pappa. Aber nu jeh, Annemiechen, ich hab' keine Zeit nich. Bei uns is jetzt das reine Lazarett. Drei Patienten hab' ich zu pflegen. Aber so 'ne Krankenschwester, wie se drüben bei Thielens überall das jroße Wort fiehrt, die kommt mir hier nich rein.«

»Dann werden Sie bloß nicht auch noch krank, Hanne!«

»I, wo werd' ich denn – aber nu jeh' hübsch bei deine Frau Jroßmama'n, Annemiechen.« Die Tür flog wieder ins Schloß.

Annemiechen aber ging nicht »bei ihre Frau Jroßmama'n«, sondern in die Hausmeisterloge zu Herrn Kulicke.

»Was mach' ich denn nun bloß, Herr Kulicke? Mein Bruder Klaus ist krank, er hat die Grippe. Und mein ältester Bruder ist schon auf dem Gericht. Kann ich denn den Wagen wirklich nicht allein ziehen?«

»Nee, was nich jeht – jeht nich. Aber'n Kinderwagen von Mäxeken wer' ich Ihn' jeben. Da kennen Se jut und jerne 'n Zentner Preßkohlen drin holen.«

»Ach, lieber Herr Kulicke, ist das nett von Ihnen.« Annemarie drückte dem Hausmeister glückselig die Hand.

Der ziemlich wackelige Kinderwagen wurde hervorgeholt und Annemarie ließ sich den Weg zum Nordhafen beschreiben. Dann zog sie mit ihrer Equipage los.

Am Hause von Vera führte der Weg vorüber. Halt – Vera mußte mitkommen. Allein war der Winterausflug in den Norden Berlins ein wenig unbehaglich. Aber mit der Freundin zusammen, das war ganz etwas anderes. Da machte sogar das Frieren Spaß.

»Fein – daß du kommen zu mich, Annemie,« empfing Vera sie erfreut. »Ich haben gewillt – gewollen dich holen, weil heute wiederr ist warrm bei mich.«

»Drei Fehler in zwei Sätzen. Vera Burkhard, ich kann Ihnen unmöglich die Reife für Unterprima erteilen.« Annemarie guckte über einen nicht vorhandenen Kneifer hinweg wie ihr Ordinarius.

»Sie können geben mich sogleich eine Lektion prrivat, Herr Prrofessor,« lachte Vera.

»Dazu ist heute keine Zeit, Verachen. Ich habe meinen Kinderwagen unten im Hausflur und – – –«

»Was haben du?« Vera lachte, daß ihr die Tränen in die Augen traten. Nein, war die Annemie ulkig! »Eine Kinderrwagen du haben unten? Für welche Baby sollen es sein, für dirr oder mirr?«

»Für uns allebeide. Ich beabsichtige wie Cook und Nansen eine Nordpolexpedition zu unternehmen. Dazu wollte ich dich auffordern.«

»Annemie, gefrrieren wirr haben jetzt zwei lange Wochens. Ich nicht brrauchen mehrr zu rreisen zu Norrdpol,« ging Vera auf den Scherz ein.

»Schadet nichts. Du mußt mir heute deine Freundschaft beweisen und mitkommen.« Annemaries lustiges Grübchengesicht sah plötzlich ernst darein. »Ich will für meine Großmama Kohlen in dem Kinderwagen holen, damit sie sich nicht erkältet und krank wird.«

»Von das Norrdpol, Annemie?« Vera wurde nicht klug aus der Sache. War das nun Ernst oder Spaß?

»Ja, natürlich – schnell, zieh dich an. Aber warm machen mußt du dich, es ist verflixt kalt draußen.«

»Von das Norrdpol du wollen holen Kohlen? Rreden du auch nicht in Fieberr, Annemie? Sein du auch nicht krrank?« Ängstlich forschend betrachtete Vera das kälterote Gesicht der Freundin. Hatte sie am Ende auch die Grippe?

»Nee – nee – Verachen, ich bin ganz gesund. Du brauchst mich nicht so ängstlich anzusehen. Ich meine ja den Nordhafen und nicht den Nordpol, trotzdem es da wohl auch nicht kälter sein wird. Am Nordhafen werden von den Schiffen Kohlen verkauft, hat mir unser Portier gesagt. Da will ich für Großmama einen Zentner im Kinderwagen holen, und du sollst mir ziehen helfen.«

»Gerrn, aberr meine Tante nicht sein zu Hause. Ich nicht kann frragen ihrr Errlaubnis.«

»Desto besser!« Annemarie fürchtete wohl mit Recht die Einwendungen der Tante. »Mach' rasch – bis deine Tante nach Hause kommt, bist du längst wieder da.«

Einige Minuten später schoben ein blondes und ein schwarzes Backfischchen, mit lustigen Augen aus der Pelzvermummung herauslugend, einen leeren Kinderwagen durch die schneeglitzernden Straßen.

Trap – trap – trap ging's. Die Füße stampften den gefrorenen Schnee, um sich zu erwärmen. Der Weg zum Nordhafen war weit. Die eleganten Mietshäuser des Berliner Westens machten Geschäftsbauten, dann kasernenartigen Arbeiterhäusern Platz. Das Straßenpublikum veränderte sich ebenfalls. Man sah keine kostbaren Pelze mehr, sondern fadenscheinige Mäntel und Tücher, durch die der scharfe Nordostwind pfiff.

Die Mädchenaugen sahen nicht mehr lustig drein, sondern ziemlich jämmerlich. War man denn noch nicht bald da? Die Kälte prickelte in den Fingern, die den Wagengriff umspannt hielten.

»Wenn wir nachher den Zentner Kohlen nach Hause schieben, werden wir schon schwitzen,« tröstete Annemarie sich und die frierende Freundin. »Sieh nur, Vera, da kommen Kohlen – eins, zwei, drei Hundewagen. Nun ist es sicher nicht mehr weit,« frohlockte sie.

Mit neuen Kräften ging es vorwärts. Wirklich, bei der nächsten Straßenbiegung sahen die beiden den Nordhafen vor sich. Aber was sie noch erblickten, war nicht gerade dazu angetan, ihren gesunkenen Lebensmut zu heben. Schwarz von Menschen und Fuhrwerken aller Art wimmelte es vor ihnen bis zu den Kähnen hinunter, von denen die Kohlen ausgeladen wurden. Das war ein Gedränge und ein Geschrei, daß einem Sehen und Hören vergehen konnte.

Vera hielt die mutig vorwärts strebende Freundin ängstlich zurück.

»Wollen du gehen wirrklich in die Gewühl, Annemie?« fragte sie zögernd.

»Natürlich, denkst du, wir haben den weiten Weg in der Kälte gemacht, um jetzt das Hasenpanier zu ergreifen? Du kannst hier mit dem Kinderwagen warten, Verachen, ich werde sehen, daß ich Kohlen auftreibe. Auf Wiedersehen!« Da verschwand Annemaries dunkle Pelzmütze zwischen all den Menschen und Pferdeköpfen. Vera stand allein mit ihrem Kinderwagen da, und die Tränen schossen ihr in die Augen. War es vor Kälte oder vor Bangigkeit?

Hu – pfiff ein scharfer Wind vom Hafen her. Am Nordpol konnte es wirklich nicht eisiger sein als hier am Nordhafen. In der Tat, ein großes Opfer war es, das Annemarie heute von ihrer Freundschaft forderte.

Viertelstunde auf Viertelstunde verging. Annemarie kam nicht wieder. Vera hatte überhaupt kein Gefühl mehr in Händen und Füßen. Mit angstvollen Augen beobachtete sie den Zeiger der Kirchturmuhr drüben. Dreiviertel zwölf. Sie mußte nach Haus zu Tisch, wollte sie heute nachmittag nicht zu spät zur Schule kommen. Ob sie den Kinderwagen einfach im Stich ließ und fortging? Solche schwarzen Gedanken wälzte Vera in ihrem schwarzen Köpfchen. Jedes warme Freundschaftsgefühl hatte der eisige Nordost davongeblasen.

Da fühlte sie plötzlich etwas Heißes an ihren Lippen. Hinter ihr stand Annemarie und hielt ihr mit erklammten Fingern einen Topf schwarzen heißen Kaffees an den Mund. »Da trink, Verachen, daß du warm wirst. Es ist zwar kein Mokka, aber heiß ist er wenigstens. Ich habe ihn drüben in der Destille erstanden.«

»Haben du Kohlen?« Veras erstarrte Finger begannen an dem heißen Topf aufzutauen. Auch ihre erfrorenen Freundschaftsgefühle erwärmten sich unter Annemaries liebevoller Fürsorge wieder.

»Nee, noch nicht. Es ist ein zu großer Andrang. Da können wir bis morgen früh hier anfrieren. Aber einen Kavalier habe ich aufgegabelt, der mir die Kohlen besorgen wird.« Annemarie wies auf einen etwa fünfzehnjährigen Burschen, der ihr folgte. »Er besorgt mir die Kohlen zur Großmama hin. Ich habe ihm zehn Mark dafür gegeben und ihm warmes Essen und ein Paar abgelegte Stiefeln von Klaus versprochen. Dafür tut er's. Wir können dann ruhig mit der elektrischen Bahn nach Hause fahren, den Kinderwagen lasse ich ihm hier.«

»Aber die Geld für die Kohlen? Du nicht können lassen frremde Mensch soviele Geld, Annemie,« flüsterte die Schwarze der Blonden warnend zu.

»Tu ich auch nicht, du Schlaukopf. Er will es auslegen. Heute nachmittag bekommen wir unsere Kohlen. Und nun schleunigst nach Hause, sonst denkt Großmama, ich sei irgendwo eingefroren.«

So gut es gehen wollte, schrieb Annemarie mit den klammen Fingern auf ein Notizblatt die Adresse der Großmama und überreichte sie ihrem Kavalier, der sie grinsend in Empfang nahm.

»Also, je mehr Kohlen, desto besser! Und passen Sie gut auf den Kinderwagen auf, es ist ein gepumpter.«

Dann fuhr Doktors schlaues Nesthäkchen, vor Kälte zitternd, aber stolz darauf, daß es seine Sache so fein gemacht hatte, mit Vera nach Haus.

Kulickes Kinderwagen sah kein Mensch mehr wieder. Doktor Braun mußte hohen Schadenersatz dafür leisten.

Großmama und Tante Albertinchen bekamen keine Kohlen, aber Annemarie und Vera – die Grippe.


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