Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4. Kapitel. Versetzungszensuren.

Der Zensurentag für die Osterversetzung war in diesem Jahre auf den 9. April festgesetzt. O Tücke des Schicksals! Doktors Nesthäkchen haderte mit den höheren Mächten. Denn der 9. April war von jeher der wichtigste Tag in ihrem Leben – ihr Geburtstag. Und gerade an diesem strahlend hell aus der einförmigen Jahreskette herausblitzenden Tag sollte das Urteil ihr gesprochen werden. Denn zum erstenmal in ihrem Leben hatte Annemarie vor den Zensuren einen sogenannten »Bammel«. Behaupteten doch die Mädel allen Ernstes, daß man mit einem Doppeltadel nicht in die Obersekunda versetzt werden könne.

Himmel, die Schande! Was würde Großmama bloß sagen, wenn sie zum Geburtstag glückwünschen wollte und Annemarie, ihr Liebling, war sitzengeblieben! Ob sie das Uhrenarmband, das sie sich sehnlichst wünschte, dann wohl noch bekam? Ach und die Eltern! Der Vater, der selbst so unermüdlich von morgens früh bis spät in die Nacht in seiner Praxis tätig war, pflegte sie immer beim Schopf zu nehmen: »Fleißig, Lotte, fleißig studiert, daß du bald meine Assistentin werden kannst!« Denn das war Annemaries Ziel, auf das sie lossteuerte. In Vaters Klinik mal seine rechte Hand zu werden. Und ihr Muttchen mochte sie noch viel weniger betrüben. Seit Frau Doktor Brauns Rückkehr aus England, wo sie das erste Kriegsjahr von ihrer Familie getrennt verlebte, war ihre Gesundheit nicht mehr so widerstandsfähig wie früher. Ihr Nesthäkchen umsorgte sie jetzt voller Zärtlichkeit, hatte es sich doch grenzenlos nach der fernen Mutter gebangt. Und da sollte sie nun den Eltern den Kummer zufügen, in der Untersekunda kleben zu bleiben? Klaus würde noch am ehesten Verständnis für sie haben, war er doch selbst schon mal den Krebsgang in der Schule gegangen. Aber vor dem großen Bruder Hans, der in Freiburg Nationalökonomie studierte, müßte sie sich mächtig schämen. Der war immer Primus durch alle Klassen gewesen und zog die jüngere Schwester in allen Briefen mit ihrer Gymnasiastengelehrsamkeit auf.

Ja, es war schon eine Tränenwelt, in der man gerade am 9. April die Osterzensuren verteilte!

Doktors Nesthäkchen hielt es für geraten, am Vorabend dieses ereignisschweren Tages die Eltern für alle Fälle schonend vorzubereiten.

»Die Versetzung nach Obersekunda soll fast noch schwerer sein als das Abiturientenexamen,« begann sie beim Abendbrot möglichst unbefangen.

»I wo!« machte Klaus wegwerfend. »Bei uns Jungs vielleicht, weil wir das Einjährige damit kriegen. Aber bei euch Mädels ist das wie jede andere Versetzung.«

»Ei – ei, unser Nesthäkchen hat doch nicht etwa eine wenig erfreuliche Geburtstagsüberraschung für uns in petto?« Der Vater nahm sein Mädel aufs Korn.

»Nee – nee – ich mein' ja man bloß so. Man muß nie zu siegesgewiß sein,« beeilte sich das Töchterchen hastig zu versichern.

»Na, Lotte, übergroße Bescheidenheit ist doch sonst nicht gerade dein Fehler,« verwunderte sich die Mutter und dachte sich ihr Teil.

Annemarie war immer eine gute Schülerin gewesen. Sie hatte stets zu den Ersten gehört, niemals hatte ihr das Lernen irgendwelche Schwierigkeiten gemacht. Wenn die Lehrer wirklich mal etwas an ihr auszusetzen hatten, dann trug höchstens ihre allzu große Lebhaftigkeit daran die Schuld. Die ließ sie nicht immer die strengen Grenzen, welche die Schuldisziplin erheischt, innehalten.

Sorgenvollen Herzens legte sich Doktors Nesthäkchen am Vorabend ihres sechzehnten Geburtstages zu Bett.

»Nu schlaf man recht schön, Annemiechen,« hatte Köchin Hanne zu ihr gesagt, »und paß auf, was dir träumt. Denn was man vor dem Jeburtstag träumt, trifft ein.«

Ach, sie würde, wenn sie überhaupt in dieser Nacht Schlaf fand, sicherlich von Tadeln und von Sitzenbleiben träumen, von Fräulein Neubert mit den Eulenaugen und von dem mißglückten Schülerrat. Hatte sie bei all ihrer sonstigen Offenherzigkeit doch nicht gewagt, davon zu Hause zu erzählen. Weniger wegen der Strafpredigt der Eltern, als aus Furcht vor den Neckereien des Bruders. Der durfte nicht erfahren, wie unsterblich sie sich in der Schule blamiert hatte.

Nein, sie würde sicherlich heute nacht kein Auge zutun, dachte Doktors Nesthäkchen und – da schlief es bereits, tief und traumlos schlief es bis zum andern Morgen.

Grau und unfreundlich blinzelte der 9. April ins Fenster hinein, als hätte er noch nicht recht ausgeschlafen. Auch das Geburtstagskind blinzelte müde aus seinen Kissen heraus. War es nicht das beste, heute überhaupt nicht aufzustehen? Aber die Geburtstagsfeier nachmittags mit den Freundinnen, all die Geschenke – – – »ach was, ich bin feige!« Damit sprang Annemarie in ihre roten kleinen Pantoffeln.

Meistens war ihr Geburtstag in den Osterferien gewesen. Fiel Ostern spät, dann pflegte der Geburtstagstisch erst mittags, wenn sie aus der Schule kam, ihrer zu warten. Mutter fürchtete sonst mit Recht, daß die Gedanken ihrer Lotte daheim bei den Geschenken blieben. Auch heute wurde erst mittags beschert. Nur ein Strauß Frühlingsblumen prangte vor Annemaries Frühstücksplatz. Und dann die große Torte, die Hanne alljährlich, selbst in den schweren Kriegsjahren, für »ihr Kind« zu backen pflegte. »Für unser Nesthäkchen« stand stets darauf in unbeholfener Zuckerschrift.

»Hanne, ich glaube, zu meinem siebzigsten Geburtstag backen Sie mir auch noch die Nesthäkchentorte,« lachte Annemarie, die sich mit ihren sechzehn Jahren dem Nesthäkchenalter ungeheuer entwachsen fühlte.

»Allemal, wenn ich denn noch leben tu. Unser Nesthäkchen biste und bleibste!« Zärtlich klopfte die gute Hanne die rosigen Wangen ihres Lieblings.

Annemarie, sonst ein strahlend heiteres Geburtstagskind, mußte sich heute ordentlich zusammennehmen, um einigermaßen froh zu erscheinen. Es lag wie eine Bergeslast auf ihrer jungen Seele. Als der Vater sie liebevoll in seine Arme schloß: »Mach' uns weiter Freude wie bisher, meine Lotte,« da hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte losgeheult. Und war dabei doch sonst gar keine Tränenweide, die Annemarie.

Muttchen aber, die ihr Kind in jeder Ader kannte, hatte sie an ihr Herz gezogen: »Nun wollen wir wünschen, daß die heutige Osterzensur zur Zufriedenheit ausfällt, was, Lotte?«

Das Töchterchen hatte stumm genickt und sich blutübergossen schnell abgewandt. Aha – da stimmte was nicht.

Essen konnte Annemarie absolut nichts heute morgen, nicht einmal Kuchen.

»Versetzungsfieber,« stellte Klaus als Doktorsohn sachgemäß fest.

Annemarie machte, daß sie fortkam.

Draußen sah es nicht viel heller aus als in des Geburtstagskindes Seele. Der Schnee, der wochenlang die Straße weiß und licht eingebettet hatte, war schmutzigem Tauwetter gewichen. »Matschwetter« nannte es der Berliner. Schneeflocken, mit kaltem Regen untermischt, schüttete ein tiefhängender grauer Wolkenhimmel auf die Dahineilenden aus. Grau in grau alles. Hu – kam denn die Sonne gar nicht wieder zum Vorschein?

Margot Thielen, mit der Annemarie täglich den Schulweg zurücklegte, hatte es gut. Die brauchte keine Angst zu haben, nicht nach Obersekunda versetzt zu werden. Die war solche pflichteifrige und bescheidene Schülerin, daß sie sicher wieder mit einer Prämie nach der ersten Klasse hinüberkam.

Die Kränzchenschwestern in der Schule waren alle miteinander aufgeregt. Würde Fräulein Neubert ihnen den Konditortadel auf die Zensur geschrieben haben?

»Du hast wenigstens heute Geburtstag, Annemie. Da wird das Donnerwetter bei dir zu Hause nicht allzu arg werden,« meinte Ilse ein bißchen neidisch.

»Wenn die Neubert mir das ›Lobenswert‹ im Betragen verdorben hat, darf ich bestimmt heute nachmittag nicht zu dir kommen,« überlegte Marianne bedrückt. Marlene Ulrich sagte nichts. Keinen Ton brachte sie vor Aufregung hervor. Ganz blaß sah sie aus. Vera hielt Annemaries kalte Hand in der ihren.

»Man wirrd versetzen dirr bestimmt, Annemie. Du brrauchen nicht ängsten,« tröstete sie leise. Dabei schlug ihr eigenes Herz nicht weniger beklommen. Wer konnte wissen, ob in der Versetzungskonferenz nicht an ihrem fehlerhaften Deutsch Anstoß genommen worden war.

Endlos lange erschien den Mädels heute die Feier in der Aula. Der Gesang der Schülerinnen, die Rede des Direktors, die Entlassung der Abgehenden, die Prämienverteilung – – – endlich, endlich betrat der Ordinarius einer jeden Klasse die Kanzel, um die Namen der Glücklichen, die versetzt wurden, zu verlesen. Da krampfte sich manches Mädchenherz zusammen. Der Atem stockte, die Augen lasen die Worte, die Sein oder Nichtsein bedeuteten, von den Lippen.

Professor Herwig, der Ordinarius der Untersekunda, schneuzte sich umständlich, ehe er den großen Bogen entfaltete. Dann nahm er noch eine Prise aus seiner Tulardose, hüstelte einige Male und begann darauf mit belegter Stimme: »Von Untersekunda nach Obersekunda werden versetzt: Arndt, Auerbach, Below – – –«

»Ach, wenn mein Name doch mit Z beginnen würde,« dachte Doktors Nesthäkchen, während die Aula mit allen Mädeln, der alte Professor droben wie Räder vor ihren Augen zu kreisen begannen.

»Below, Bock, Braun, Burkhard.« – Ein schwer unterdrückter Freudenjuchzer wurde hier in der atemlosen Stille hörbar. Die Köpfe wandten sich der dritten Reihe zu, wo er laut geworden. Aber das reizende blonde Mädel, das da in überströmender Seligkeit den Arm der danebensitzenden Schwarzhaarigen fast entzwei quetschte, merkte davon absolut nichts.

»Versetzt, Vera, alle beide – und die andern auch!« Die Namen Davis und Hermann waren inzwischen an ihrem Ohr vorübergeglitten. Nur Marlene hatte lange auf den Namen Ulrich zu warten. Aber bei der war es ja außer Zweifel, daß sie versetzt wurde. Die bangte nur vor dem Tadel.

»Ich möchte Herwig am liebsten einen Kuß aus Dankbarkeit geben,« flüsterte Annemarie wieder ausgelassen.

»Biete serr, aberr Frräulein Neubert hat verrdienen die Kuß mehrr.« Auch Vera war überglücklich. Trotzdem die eigentliche Zeugnisverteilung noch ausstand.

»Himmel, die Eulenaugen spießen mich schon wieder auf.«

Die Oberlehrerin hatte in der Tat verweisende Blicke zu den Störenden gesandt.

Was nun noch kam, war allen ganz gleichgültig. Hauptsache war, man war in die Obersekunda gerutscht. Die kleine Standpauke, die Professor Herwig Annemarie Braun bei der Überreichung ihrer Zensur hielt, daß es ihn schmerze, auf dem sonst guten Zeugnis einen Tadel zu sehen, machte zur Verwunderung des alten Herrn gerade einen entgegengesetzten Eindruck. Die blauen Mädchenaugen strahlten in reinem Glück: Bloß einen Tadel – dem Himmel sei's getrommelt und gepfiffen!

Auch die Kränzchenschwestern waren wie aufgebunden: Der Konditortadel war nicht mit auf die Zensur gekommen.

»Habe ich der Neubert gar nicht zugetraut, daß sie so anständig sein könnte,« rief Ilse Hermann unvorsichtig laut.

»Pst!« Marlene, die wieder etwas Farbe bekommen hatte, hielt ihr den Mund zu. »Am Ende haben wir das deinem Schülerrat zu verdanken, Annemie.«

Annemarie wurde zuerst ein wenig rot. Dann aber warf sie sich in die Brust: »Ist schon möglich, daß der Direktor sich auf meinen Antrag hin ins Mittel gelegt hat.« Nun kam ihr Schülerrat doch noch zu Ehren.

Immer noch ging häßlicher Schneeregen zur Erde nieder. Aber den Freundinnen, die untergeärmelt die Schule verließen, merkten in ihrer Freude nichts davon. Annemarie schien die ganze Welt verändert. Sie sah kein schmutziges Regengrau mehr, nur noch, wie lustig die Tropfen auf dem Asphalt zersprangen. In ihr hüpfte und sprang es ganz ebenso ausgelassen.

»Ich weiß gar nicht, Annemie, daß du so vergnügt sein kannst, wo du doch immer noch einmal getadelt auf der Zensur hast,« verwunderte sich Marlene.

»Ach was, einmal ist keinmal,« lachte Annemarie sie aus.

»Gib doch den Tadel einfach für den Konditortadel aus, dann ist er weniger schlimm,« schlug Ilse pfiffig vor.

»Ja, du können doch garr nicht wissen, welches Tadel sie haben gestrreicht.« Auch Vera fand die Mogelei erlaubt.

»Nee – mach' ich nicht. Muttchen beschwindle ich nicht. Noch dazu heute, wo jeder bemüht ist, mir was Liebes anzutun.« Ohne Besinnen rief es Annemarie.

»Und wer an seinem Geburtstag schwindelt, der lügt das ganze Jahr,« warnte Marianne.

Es bedurfte dieser Mahnung ganz und gar nicht. Annemarie Braun war bei all ihren kleinen Schwächen ein durch und durch ehrliches Mädel.

Wohl stieg sie, als man sich einander nach endlosem Hin- und Herbegleiten schließlich mit vielen Küssen bis zum Nachmittag getrennt hatte, ein wenig zögernd die Treppen daheim hinauf. Eigentlich dämlich, daß der Direktor nicht gleich den andern Tadel mitgestrichen hatte. Es war ja nicht ihrethalben, i wo! Aber ihrem Muttchen hätte sie gern jede unangenehme Minute erspart.

»Hanne, ich bin Obersekundanerin!« Wie ein Wirbelwind ging's an der öffnenden Küchenfee vorüber.

»Na, denn biste was rechts, Annemiechen!« Hanne vermochte sie nicht damit zu imponieren.

Der Mutter aber, die bereits vom Erkerfenster Ausschau nach ihrem so lange säumenden Nesthäkchen hielt, war ein Stein vom Herzen.

»Na, Lotte, nun beichte mal, was dir heute morgen so schwer auf der Seele gelastet hat, war's bloß die Versetzung?«

»Ja, die Versetzung und das hier.« Annemarie wies auf den säuberlich geschriebenen Tadel, den die Mutter noch nicht entdeckt hatte. »Aber du brauchst dich gar nicht darüber aufzuregen, Muttchen, denn Fräulein Neubert war geladen auf mich und selbst schuld an meiner ungehörigen Antwort.«

»Na, na, Lotte, den Tadel wirst du wohl durch vorlautes Wesen verdient haben. Nun bist du schon sechzehn Jahre alt, wann wirst du endlich lernen, bescheiden den Mund zu halten?«

Stürmisch umfaßte sie die Gescholtene.

»Muttchen, es lohnt wirklich nicht, daß du dich auch nur die Spur deshalb aufregst. Ja, wenn es noch ein Doppeltadel wäre. Aber so haben wir wirklich nur Grund, dankbar und zufrieden zu sein.«

»Diese Auffassung leuchtet mir nicht so recht ein, Lotte. Deine Freundinnen haben sicherlich keinen Tadel. Die sind bescheiden und höflich.« Wirklich ganz bekümmert sah die Mutter aus.

»Bescheiden und höflich, die? Ja, vielleicht Marlene und Vera. Aber Ilse tut bloß so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte, und Marianne ist auch oft mit dem Mund voraus. Ein paar Mädel in meiner Klasse haben sogar nur ›im ganzen befriedigend‹ im Betragen. Und Vater sagt immer, man solle unter sich sehen und nicht über sich, damit man nicht neidisch wird.«

»Na, Lotte, so habe ich das nun wirklich nicht gemeint.« Lautes Lachen kam von der Tür her. »Ich habe das nur auf soziale Verhältnisse bezogen. Wenn es sich darum handelt, sich an besseren Schülerinnen ein Beispiel zu nehmen, hast du sogar die Pflicht, nach oben zu sehen und nicht nach unten. Nun laß mal deine Zensur anschauen und hole dir deine Keile dafür, du Schlingel.« Vater packte sein Nesthäkchen, wie er es so gern tat, im Nacken wie den Puck.

»Du, Vater, du vergißt, daß ich heute sechzehn Jahre alt bin.« Annemarie reckte sich, daß sie nicht mehr viel kleiner war als Doktor Braun. »Mit Schlingel und mit Keile hat es jetzt ein Ende – ich bin Obersekundaner.«

»Donnerdoria – wirklich versetzt? Ich habe nach der Einleitung sicher gedacht, du wärest sitzengeblieben. Und ›gut‹ im Betragen, was will man mehr? Bloß einmal getadelt – für solche Prachtzensur muß nun auch die Belohnung kommen.« Der Vater zwinkerte so drollig mit dem einen Auge, daß auch die Mutter wieder lachen mußte. »Ihr habt doch mit der Geburtstagsbescherung auf mich gewartet, wie?«

»Ja, freilich, auf dich und auch auf die Großmama. Sie wollte gern dabei sein und – – –«

»Großmuttchen ist wie immer pünktlich auf die Minute.« Annemarie raste aus dem Zimmer, um der besten aller Großmütter selbst die Tür zu öffnen.

»Ja, unser Nesthäkchen wächst heran, wir haben bald eine große Tochter, Elsbeth!« Doktor Braun sah seiner hübschen Jüngsten mit Vaterstolz nach.

»Du verziehst sie noch heute genau so wie früher, Ernst. Ich bin ärgerlich wegen des Tadels auf der Zensur. Du lachst darüber. Wenn nicht solch guter Kern in unserem Mädel steckte – – –«

Da betraten die zwei, Großmutter und Enkelin, Arm in Arm das Zimmer. Frau Doktor Braun brach ihre Rede ab und begrüßte die Mutter.

»Großmuttchen ist seit letztem Sonntag kleiner geworden, ganz bestimmt – ich bin heute einen halben Kopf größer,« stellte Annemarie frohlockend vor dem großen Eckspiegel fest.

»Ich glaube eher, daß du inzwischen gewachsen bist, Herzchen,« lachte Großmama.

»Von mir aus kann die feierliche Bescherung nun losgehen,« verkündete Annemarie. »Auf Klaus wird nicht gewartet, der kann pünktlich sein.«

»So, meinst du?« Der Genannte hatte sich plötzlich hinter sie geschlichen. »Da reiße ich mir nicht nur ein, sondern alle beide Beine aus, um für dich, Leckermaul, Mandelschokolade, die du so gern ißt, aufzutreiben, und das ist dann der Dank vom Hause Habsburg.«

»Richtiggehende Mandelschokolade? Ach, Kläuschen, nun ist wirklich Frieden. Ich danke dir tausendmal.« Sie wollte ihm einen Kuß auf die ersten bescheiden sich kaum hervorwagenden Schnurrbarthärchen drücken, aber er schüttelte sie ab.

»Geschenkt – für so 'ne Leckereien bin ich nicht.«

Inzwischen hatte der Vater die breite Schiebetür, die das Wohnzimmer von dem Speisezimmer trennte, zurückgerollt. Lichterschein sprühte von dem mit weißem Damasttuch gedeckten Gabentisch und warf seine goldenen Reflexe auf den sich glücklich über die Geschenke neigenden Blondkopf.

»Siebzehn Lichte, in heutiger Zeit, ihr seid mir aber Verschwender,« drohte Großmama lächelnd.

»Ohne die Geburtstagslichte tut es Ernst nun mal nicht, die sind ihm wichtiger als der Kuchen. Er hat sie für unser Nesthäkchen vom Weihnachtsbaum abgespart.«

»Nesthäkchen, Muttchen? Nesthäkchen lesen den Struwwelpeter und nicht den Gerhart Hauptmann.« Annemarie hatte bereits die Nase in einen der Bände hineingesteckt. »Und Nesthäkchen brauchen auch noch kein Tanzstundenkleid – ach, ist das süß!« Das Backfischchen probierte bereits den Rosenknospenmull vor dem Spiegel. »Noten – fein! Den Auszug aus den Meistersingern habe ich mir brennend gewünscht. Goldig sind die Lackschuhe – – –«

»Du scheinst farbenblind zu sein, Annemie, die Lackschuhe sind schwarz.« Primanerlogik kann manchmal recht unbequem sein.

Annemarie pflegte sie einfach zu überhören. Die drückte ihre Mutter vor Dankbarkeit fast entzwei und flüsterte ihr ins Ohr: »Auf der nächsten Zensur soll sicher kein Tadel mehr stehen, Muttichen, ich will mir alle eure Liebe verdienen.« War doch ein Prachtmädel, ihre Lotte, trotz allen Übermutes. Böse sein konnte man ihr nicht.

Nun kam der Vater heran. Erneute Auflage von Küssen und Dankesbezeigungen. Von da ging's zur Großmama.

»Großmuttchen, ich danke dir vielmals.«

»Wofür denn?« verwunderte sich die alte Dame. »Ich habe dir doch gar nichts geschenkt, Kind. Bei den heutigen schweren Zeiten hielt ich es für richtiger, es bei den guten Wünschen bewenden zu lassen. Bist du nicht auch meiner Meinung, Herzchen?«

»Freilich!« – Das kam allerdings recht zögernd heraus. »Dann danke ich dir für deine guten Wünsche, Großmuttchen. Und du hast ganz recht, es ist wirklich besser, wenn du dir für das Geld Butter kaufst: alte Leute dürfen nicht unterernährt sein, sonst gehen sie ein, hat Vater neulich gesagt.« Da hatte Nesthäkchens glückliches Temperament die kleine Enttäuschung wegen Großmamas ausbleibenden Geschenkes bereits überwunden.

Großmama lachte, daß sie Tränen in den Augen hatte. Auch die andern stimmten ein. »Na, dann werde ich nur all mein Geld in Butter anlegen, um nicht einzugehen, eine Arzttochter muß das ja wissen.«

Man ging zu Tisch. Als Annemarie ihre Serviette aufhob, lag darunter ein kleines, längliches Kästchen.

»Nanu?« Sie wurde vor Erregung rot und sah jeden der Reihe nach an.

Aber ihr forschender Blick begegnete lauter harmlosen Gesichtern. Keiner schien mit dem Kästchen irgendwas zu tun zu haben.

»Mach' doch auf,« drängte Klaus, der selbst neugierig war.

Behutsam öffnete Annemarie.

»Ein Uhrenarmband – eine süße kleine Tularuhr! Das ist Großmuttchen gewesen, und wenn sie's auch nicht zugeben will.«

Großmamas Suppenteller geriet in Gefahr. Die Nudeln in der Bouillon vollführten einen wilden Wirbel, so ungestüm war Annemaries Umarmung.

»Kind – Herzchen, du bringst mich ja in Verlegenheit. Wir waren doch eben einig geworden, daß ich dir diesmal nichts schenke,« erwehrte sich die alte Dame der lebhaften Dankesbezeigungen.

»Jawoll.« – Doktors Nesthäkchen machte keiner so leicht dumm. »Ach, Großmuttchen, wunderschön ist sie.« Ein liebevoller Blick streichelte das neue Uhrenarmband. »Wieviel Butter hättest du dir dafür kaufen können!«


 << zurück weiter >>