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10. Kapitel. Kindermädel.

Ein geschmackvolles, weißes Landhaus, mit blauen Klematisglocken über und über behangen, lag im sonnendurchleuchteten Garten. Das war Parkstraße Nr. 2. An der weißen Holzgittertür war ein Porzellanschild angebracht, »Dr. med. Waldemar Lange, praktischer Arzt. Sprechstunde 8-10, 4-6 Uhr«, stand darauf zu lesen.

Annemaries Herz tat zum zweitenmal einen Freudensprung. Ihr Glücksstern hatte das Doktorkind gerade in das Haus des Arztes geführt. Wenn die Stelle bloß noch nicht besetzt war!

Sie zog die Messingklingel. Die Tür öffnete sich von selbst. Den resedabesäumten Steig unter schwerbeladenen Obstbäumen schritt Annemarie entlang bis zur Steintreppe. Hinter dem Hause wurden Kinderstimmen laut. Sicher ihre zukünftigen Zöglinge.

Die Eingangstür ward geöffnet. Annemarie stand in der Diele vor einem Mädchen mit Latzschürze und weißem Häubchen.

»Sprechstunde ist schon vorüber. Sie müssen nachmittags um vier wiederkommen,« teilte ihr der dienstbare Geist mit.

Annemarie mußte lachen, daß man sie für eine Patientin hielt.

»Ich komme auf die heutige Annonce, um mich als Kindermädchen vorzustellen.«

»Ach so.« Das Mädchen schlug sogleich einen vertraulichen Ton an. »Nu, soweit sein se jo hier ganz nett. Aber die Kleinste ist schrecklich verzogen. Und Butter und Zucker hat se eingeschlossen, und alle vierzehn Tage bloß – – –«

»Das interessiert mich nicht,« unterbrach Annemarie die Vertraulichkeit mit einem ihr sonst fremden Hochmut. Nicht etwa, daß es sie verletzte, daß das Mädchen sie in ihrem Blümchenbauernkleid für ihresgleichen hielt. Im Gegenteil, das machte ihr Spaß. Aber es paßte ihr nicht, hinter dem Rücken der Herrschaften mit dem Mädchen über dieselben zu sprechen.

»Nu, da kummen Sie ooch rein; Ihren Rucksack können Sie hier haußen lassen. Aber wenn und Se können nich gleich zuziehen, denn is es nischte. Ich muß zu meiner Muttel daheime, die is krank – – –« Damit öffnete das Mädchen die Tür zum Balkonzimmer und ließ Annemarie eintreten.

Auf dem Balkon, der in den Hintergarten hinausschaute, war eine Dame mit glattgescheiteltem braunen Haar mit Zuschneiden von Kinderhöschen beschäftigt.

»Gnädige Frau, hier wär' ein Kindermädel auf die heutige Annonce,« meldete das Mädchen.

»Das junge Mädchen kann zu mir auf den Balkon herauskommen.« Freundliche braune Augen blickten der nähertretenden Annemarie prüfend entgegen.

»Guten Tag, liebes Kind. Ich brauche sofort Ersatz für mein Kindermädel, sind Sie frei?«

»Ja – ich könnte gleich zuziehen.« Annemarie pochte das Herz, als ob es galt, das Abiturientenexamen zu bestehen.

»Haben Sie Ihre Zeugnisse da?«

Das junge Mädchen erblaßte. An die Notwendigkeit von Zeugnissen hatte sie nicht gedacht. Besaß sie doch nur ihre Schulzeugnisse.

»Ich war noch nicht in Stellung – ich habe nur bei Verwandten geholfen.« Das kam etwas unsicher heraus.

»Dann wissen Sie auch nicht mit Kindern umzugehen?«

»O doch, ich habe den Kleinen dort meistens ganz allein besorgt, und ich habe Kinder riesig gern.« Die Blauaugen strahlten die Dame vertrauenerweckend an.

»Das ist mir lieb. Und was verstehen Sie von Hausarbeit?«

»Ich kann Zimmer aufräumen.« Das hatte sie wirklich schon mal getan, als das Hausmädchen zu Hause krank gewesen.

»Na, was Sie nicht verstehen, zeige ich Ihnen. Sie sind ja jung und können noch lernen. Wenn Sie nur willig sind.«

»Das werde ich sicher sein,« versprach das neue Kindermädel treuherzig.

»Kinderwäsche müssen Sie natürlich waschen.«

»Natürlich,« erklärte sich Annemarie einverstanden und hatte keine Ahnung, wie man das machte.

»Wie sind Ihre Gehaltsansprüche?«

Annemarie dachte angestrengt nach. Soviel, daß ich die Reise nach Berlin bezahlen kann – das konnte sie doch der Dame unmöglich sagen.

»Mein jetziges Mädel erhält dreißig Mark im Monat. Ich würde Ihnen dasselbe geben. Bin ich zufrieden, lege ich zu. Ist Ihnen das recht?« fragte die Dame.

»Ja, natürlich.« Eine Fahrkarte vierter Klasse bekam man dafür sicher nach Berlin.

»Schön, dann will ich's mit Ihnen versuchen, trotzdem ich sonst nie ohne Zeugnisse oder Erkundigungen miete. Aber ich bin in Verlegenheit. Und ich denke, daß ich mich nicht in Ihnen täusche. Hoffentlich bleiben wir lange beisammen.«

»Ich hoffe gerade das Gegenteil, daß die Eisenbahnsperre recht bald aufgehoben wird,« dachte Annemarie und schämte sich, daß sie in Gedanken das Vertrauen der netten Dame täuschte. Aber was wollte sie machen? Sagte sie, daß sie die Stelle nur vorübergehend haben wollte, würde man sie sicher nicht nehmen. Wovon sollte sie dann leben?

»Also dann ist die Sache in Ordnung. Wie heißen Sie?«

»Annemarie Braun.« Einen fremden Namen mochte Doktors Nesthäkchen doch nicht angeben.

»Wie alt?«

»Ich werde siebzehn.« Sie war zwar vor kurzem erst sechzehn geworden, aber sie sagte damit keine Unwahrheit.

»Wo sind Sie her?«

»Aus – aus Arnsdorf in Schlesien.« Da kam sie ja wirklich her.

»Schön – haben Sie Verwandte am Ort?«

»Nein, ich bin ganz fremd hier.«

»Dann können Sie Ihren Korb bringen und sobald als möglich zuziehen. Mein Mädchen ist aus einem Dorf in der Umgegend und möchte am liebsten sofort nach Hause, da die Mutter erkrankt ist.«

»Ich könnte gleich hierbleiben, gnädige Frau. Das Notwendigste habe ich in meinem Rucksack draußen, und mein Korb – mein Korb ist noch unterwegs.« Das war wieder keine Lüge.

Dennoch wurde die gnädige Frau stutzig. Da schien irgendwas nicht zu stimmen. Aber sie war in großer Verlegenheit und froh, so schnell ein Kindermädel zu bekommen. Auch machte ihr die Neue einen denkbar guten Eindruck. So freundlich und freimütig war das junge Ding. Vielleicht ein bißchen zu fein, aber das war nur gut im Verkehr mit den Kindern. Da lernten sie nichts Schlechtes.

»Gut, dann bleiben Sie gleich hier, Annemarie. Und noch eins. Sie müssen in den Sprechstunden den Patienten die Tür öffnen, lernen, Bestellungen für Herrn Doktor ganz genau aufzuschreiben und das Telephon zu bedienen. Es ist nicht allzu schwer.«

»Das kann ich schon«, entfuhr es Annemarie unüberlegt.

»Woher denn?« Wieder stutzte die Dame.

Das neue Kindermädel wurde rot bis an die krausen Blondhaare. »Ich habe zu Hause schon mal bei unserm Doktor geholfen.« Ach Gott, dies war das schwerste für die ehrliche Annemarie, daß sie ständig die Wahrheit umgehen mußte.

Frau Doktor Lange gab sich zufrieden. Der Grund war einleuchtend.

»Nun werde ich Sie gleich mit Ihren kleinen Pflegebefohlenen bekannt machen, Annemarie.« Die Dame schritt eine von der Veranda hinabführende Treppe hinunter in den Garten. Das neue Kindermädel folgte, selig, daß das schwere Examen so gut vorübergegangen war.

»So, Rudi und Kätherle, das ist eure neue Annemarie! Nun seid mal recht lieb zu ihr.«

Ein allerliebstes, vielleicht zweijähriges Mädchen kam auf die Mutter mit tappelnden Schritten zu. Annemarie fing es lachend auf. Das Kleine verzog erst das Mündchen ein wenig, als ob es weinen wollte. Aber als es in Annemaries lustige blaue Augen blickte, begann es ebenfalls zu lachen und zu jauchzen.

»Das freut mich, Annemarie, daß unser Kätherle gleich zu Ihnen geht. Der Rudi, unser Großer, wird schon bald zehn Jahre. Gib der Annemarie die Hand, Rudi. Und dann ist da noch die Edith – wo steckst du denn, Mädel? Komm, sage artig guten Tag.« Um die Ecke der Laube lugte ein braunes Lockenköpfchen und verschwand sofort wieder.

»Wir werden uns schon anfreunden«, versprach Annemarie und ließ Kätherle wie Bübchen Huckepack reiten. Durch den ganzen Garten klang das Jauchzen. Das braune Lockenköpfchen wagte sich wieder neugierig hervor.

»Nun, ich sehe, Annemarie, daß Sie mit Kindern umzugehen wissen. Ich überlasse Ihnen jetzt meine kleine Gesellschaft. Gefrühstückt hat sie schon. Aber Sie selbst werden vielleicht hungrig sein?« fragte Frau Doktor freundlich.

»Ja, ich habe seit heute morgen noch nichts gegessen«, gab Annemarie zu. »Aber ich habe noch Stullen in meinem Rucksack, die werden sonst alt.«

»Stullen?« lachte Rudi sie aus. Er kannte das Wort nicht.

»Das sind Schnitten«, belehrte ihn die Mutter. »Aber wie kommen Sie zu dem Berliner Ausdruck, Kind?«

»Ich – wir haben Verwandte in Berlin, die uns öfters besuchen«, redete sich Annemarie in größter Verlegenheit heraus. Nun mußte sie doch schwindeln.

»Lassen Sie sich in der Küche einen Topf Suppe zu Ihren Schnitten geben, Annemarie. Rudi, zeige der Annemarie die Küche.« Kopfschüttelnd ging Frau Doktor Lange zurück ins Haus. Ob sie recht getan hatte, das fremde Mädchen, von dem sie nichts wußte, nur auf sein vertrauenerweckendes Wesen hin ins Haus zu nehmen? Irgend etwas war da nicht ganz in Ordnung – am Ende war sie von Hause fortgelaufen. Aber schlecht war das Mädel sicher nicht. So konnten die blauen Augen nicht lügen.

Das neue Kindermädel hatte die Bekanntschaft der Köchin gemacht, einer ziemlich mürrischen Person. Es hatte seiner Vorgängerin den Korb fortschaffen helfen und sich selbst mit seinem Rucksack im Kinderzimmer einquartiert. Das war gut, daß sie nicht mit der brummigen Auguste zusammen wohnen mußte, sondern bei den Kindern schlafen sollte. Auguste hätte sich gewiß auch über die elegante Wäsche des neuen Mädchens gewundert.

Frau Doktor legte ein frisch gewaschenes schwarzes Satinkleid, Latzschürzen und Häubchen auf den Tisch.

»Annemarie, Ihr Bauernkleid ist ja sehr nett, aber Herr Doktor wünscht, daß unser Mädchen in den Sprechstunden Schwarz trägt. Ich gebe daher jedem neuen Mädchen ein Kleid, zwei Schürzen und zwei Häubchen. Sind Sie länger als ein Jahr bei uns, dürfen Sie die Sachen behalten.«

Annemarie mußte lachen. Da würde sie das Kleid wohl kaum bekommen. Als Frau Doktor die Kinderstube verlassen hatte, schlüpfte sie in ihre neue Livree.

O Gott, sah sie drollig aus! Wie zu einem Kostümball. Das Kleid paßte vorzüglich, Annemarie war ja groß und schlank. Die Schürze mochte auch noch gehen. Verlangte doch auch Mutti, daß sie zu Hause eine Schürze tragen sollte. Aber das Häubchen! Nein, war das komisch – war das ulkig! Das neue Kindermädel lachte sein hübsches Spiegelbild unter dem weißen Tollhäubchen an, daß es Tränen in den Blauaugen hatte. Wenn doch nur eine der Kränzchenschwestern zum Mitlachen hier gewesen wäre. Was Vera wohl zu ihr sagen würde!

»Ei, Annemarie, Sie freuen sich ja so über Ihren neuen Staat. So was haben Sie wohl daheim in Ihrem Dorf noch nicht gesehen?« Lächelnd beobachtete die zurückkehrende Frau Doktor die Lustigkeit ihres Kindermädels. »Nun können Sie noch für Kätherle ein Paar Höschen plätten und dann mit den Kindern spazieren gehen. Sind Sie gewöhnt, mit Gaseisen oder Bolzen zu plätten?«

Ach, das neue Kindermädel war gar nicht gewöhnt, zu plätten. Das bekam seine Wäsche, seine Blusen und weißen Kleider tadellos von dem Hausmädchen daheim hergerichtet. Mutti hatte manchmal gesagt, ihre Lotte solle sich nicht so bedienen lassen. Sie könne sich ganz gut allein eine Bluse aufplätten. Aber dann war ganz sicher die gute Hanne eingesprungen und hatte ihr das Plätteisen aus der Hand genommen. Nein, das litt die nicht, daß Doktors Nesthäkchen selbst plättete. Das »Kind« hatte sich gerade genug mit Lernen abzuquälen.

»Bei uns zu Hause wurde elektrisch geplättet.«

Wieder mußte sich Frau Doktor über ihr vornehm gewöhntes Mädchen wundern. Aber elektrische Kraft war ja auf dem Lande billig, schließlich war man jetzt in jedem Nest schon vorgeschritten.

»Na, wir plätten noch mit Bolzen. Auguste hat ihn bereits eingelegt. Das Plättbrett steht in dem Wirtschaftsraum neben der Küche. Auguste wird Ihnen schon Bescheid sagen.«

Nun stand das neue Kindermädel, mit dem eisernen Haken bewaffnet, vor dem Herd, um den rotglühenden Bolzen aus dem Feuer zu heben. Ach, wenn Hanne doch hier gewesen wäre! Die hätte ihr sicher bei dem schwierigen Werk geholfen. Auguste rührte sich nicht von ihrem Spinat fort. Knapp, daß sie ihr die notwendigste Anweisung gegeben hatte.

Denn Doktors Nesthäkchen, das sonst so kecke, hatte Angst. Richtige Angst vor dem glühenden Bolzen, an dem sie sich bestimmt verbrennen würde.

»Nu haben Se sich doch nich asu, Anna!« Der Name Annemarie war der Köchin zu umständlich. »Der Bolzen beißt doch nicht. Feste zugepackt!« Auguste hatte schon eine ganze Weile die vergeblichen Bemühungen des Kindermädels beobachtet.

Annemarie packte fest zu. Denn sie schämte sich heimlich vor Auguste ihrer Ungeschicklichkeit. Bauz – da lag der glühende Bolzen auf den Steinfliesen. Bei einem Haar wäre er Annemarie auf die Füße gepurzelt. Daneben das blanke Nickelplätteisen. Vor Schreck war es ebenfalls der Hand des jungen Mädchens entglitten.

»Nu, su a Trampel! Reene nischte verstäht se!« schalt die Köchin und half nun endlich die Sache in Ordnung bringen. »Das Eisen hat eine Beule bekommen, lassen Se das erscht die Gnädige sähen.«

Plätten ist eine schwierige Kunst für den, der es nicht kann. Das neue Kindermädel bügelte die Kinderhöschen mit einem Kraftaufwand, daß ihm die hellen Schweißtropfen auf der Stirn perlten. Aber anstatt daß die Falten herausgehen sollten, plättete es lauter neue Falten und Fältchen hinein. Kätherles Höschen wollten nicht glatt werden. Und was das schlimmste war, die schlohweiße Wäsche bekam eine bräunliche Färbung. Denn das Plätteisen war so niederträchtig, auch noch zu sengen. Eine halbe Stunde plättete Annemarie schon an den Höschen herum. Vor dem Kellerfenster des Wirtschaftsraums, das in den Garten hinausging, hockten die drei Pflegebefohlenen und lugten, ob ihr neues Kindermädchen denn immer noch nicht zum Spazierengehen bereit sei. Die Mutter hatte ihre drei schon selbst fertig gemacht, damit sie nur fortkommen sollten.

Aber das neue Kindermädel erschien nicht. Frau Doktor klingelte.

Annemarie plättete ruhig weiter auf ihre Kinderhosen los. Sie ahnte gar nicht, daß das Läuten ihr gelten könnte.

Das Klingeln wurde stärker. Es wurde Sturm.

»Nu, wollen Se denn nich gefälligst zur Gnädigen ruff gähen,« rief Auguste unwirsch aus der Küche. »Der Radau ist ja schon reene nich mähr auszuhalten.«

Erschreckt ließ Annemarie ihre Höschen im Stich und jagte die Treppe zu den Wohnräumen hinauf.

»Aber Annemarie, sind Sie denn noch nicht mit dem einen Paar Hosen fertig? Die Kinder müssen spazieren gehen.« Frau Doktor schien sehr wenig erbaut von ihrer neuen Perle.

»Ja, fertig könnte ich schon längst sein, aber – sie sind nicht sehr schön geworden. Ich hab's immer wieder von neuem probiert,« gab Annemarie mit der ihr eigenen Ehrlichkeit zu.

»Sie haben noch keine Übung darin, Kind, Sie werden es schon lernen,« begütigte die gnädige Frau. »Nun aber rasch – rasch – daß ihr fortkommt.«

Kätherle wurde in den weißen Sportwagen gesetzt.

»Einen Augenblick noch – ich möchte nur die Schürze abbinden und den Hut aufsetzen.« Das junge Mädchen wollte noch einmal zurück ins Haus.

»Aber, Annemarie, unsere Kindermädel sind immer mit Schürze und Häubchen gegangen. Netter kann doch ein Kindermädel gar nicht aussehen,« sagte Frau Doktor in bestimmtem Ton. Hatte sie da etwa ein putzsüchtiges Ding ins Haus bekommen?

»Hahaha – die Annemarie will einen Hut aufsetzen wie eine Dame!« lachte Rudi sie aus.

»Wie eine Dame!« echote Edith sofort. Und selbst Kätherle stimmte in das Lachen der Großen ein.

»Wollt ihr wohl artig sein, ihr naseweise kleine Gesellschaft,« schalt die Mutter lächelnd. »So, nun geht mit Gott. Zeigt der Annemarie den Stadtpark und das Eichenwäldchen, in dem ihr immer seid. Um Viertel eins müssen Sie zum Tischdecken zurück sein, Annemarie. Sie hören um zwölf die Fabriken pfeifen.«

Das neue Kindermädel zog mit seiner Karawane los. Den Kinderwagen mit Kätherle vor sich, Edith an dem einen Arm eingehängt, Rudi am andern, so ging es durch die Straßen von Sagan. Bald waren sie gut Freund alle miteinander. Die kleine Verstimmung, daß sie mit dem Häubchen gehen mußte, hatte Annemarie schnell überwunden. Wenn sie nur nicht Reisegefährten von gestern traf! Das Backfischchen wagte die Augen nicht zu heben.

Im Eichenwäldchen wurde »geballt«. So nannten die schlesischen Kinder das Ballspiel. Annemarie war ein fröhliches Kind mit den anderen Kindern. Es tat ihr fast am meisten leid, als der schrille Mittagspfiff von verschiedenen Fabriken die Luft durchschnitt.

»Brauchen wir denn eine Viertelstunde bis nach Haus?« erkundigte sie sich bei Rudi.

»A bissel können wir halt noch bleiben. Die Muttel sagt immer a bissel eher, als der Vatel kommt.« Rudi machte das Spiel mit Annemarie heute auch Vergnügen.

Aber aus dem »bissel« wurde eine Viertelstunde und noch eine. Denn Pünktlichkeit war niemals die stärkste Seite von Doktors Nesthäkchen gewesen. Als Annemarie mit ihren Pflichtbefohlenen endlich den Marktplatz erreichte, war es bereits halb eins geworden. Nun aber im Trab die Parkstraße hinunter. Puterrot kam sie sowohl wie die Kinder zu Hause an. Frau Doktor stand ausschauend vor dem Gartentor.

»Aber Annemarie, wie unvernünftig! Der Spaziergang soll eine Erholung für die Kinder sein. Und nun sind sie bei der Mittagshitze wie aus dem Wasser. Sie müssen sie erst umkleiden und waschen. Den Tisch hat Auguste bereits gedeckt. Morgen aber bitte ich mir aus, daß ihr pünktlich zur festgesetzten Zeit zu Hause seid. Ihr wißt doch, Kinder, wie ärgerlich Vater ist, wenn er aus der Praxis nach Hause kommt, und es kann nicht gleich gegessen werden.« Frau Doktor mochte die Neue nicht bereits am ersten Tage mit ihren Vorwürfen einschüchtern. Darum wandte sie sich an die Kinder. Aber sie war unzufrieden. Die Neue schien nicht zuverlässig zu sein.

Annemarie hatte zu Hause öfters mal einen Tadel wegen Unpünktlichkeit bekommen. Aber den hatte sie abgeschüttelt wie ein Pudel das Wasser. Hier bei Fremden war das anders. Da machte der Tadel Eindruck und kränkte. Morgen wollte sie aber bestimmt pünktlich daheim sein.

Endlich konnten die Kinder sauber gewaschen bei Tisch erscheinen. Der Hausherr wies strafend auf die Kuckucksuhr. Gerade steckte der Kuckuck einmal den Kopf heraus. Sonst wurde um halb eins bei Doktor Langes gespeist.

»Es war halt so schön mit der neuen Annemarie, Vatel,« entschuldigte sich Rudi als Ältester. »Sie versteht so fein zu ballen. Und Latein versteht sie auch.«

»Was – Latein versteht sie?« Wie aus einem Munde fragten es die Eltern.

»Ja, ich soll doch immer jeden Tag eine Seite aus meiner lateinischen Grammatik wiederholen, weil ich nur genügend in Latein hatte. Da hat die neue Annemarie mich abgehört und mir verschiedenes verbessert. Nicht wahr, Annemarie, Sie können doch Latein?« wandte er sich an das die Suppe auftragende Mädchen.

Das hätte vor Verlegenheit fast die Suppenterrine zu Boden fallen lassen.

»Aber nein – nein, Rudi,« wehrte Annemarie ab. »Zu Hause waren auch Jungen, denen ich öfters ihre Lektion abhören mußte,« wandte sie sich, bis an das weiße Tollhäubchen rot, erklärend an die gnädige Frau. Dabei achtete sie nicht auf die Suppenteller, die sie herumreichen sollte. Schwapp – da hatte der Herr Doktor seine Suppe zwischen Kragen und Nacken.

»Himmelmohrenelement!« Wütend sprang er auf. Und das konnte man ihm nicht verdenken. Denn es ist nicht sehr angenehm bei einer Julihitze von sechsundzwanzig Grad Celsius, heiße Suppe den Rücken lang laufen zu fühlen. Wieder wurde die Tischzeit verschoben, denn Herr Doktor mußte sich umziehen.

Annemarie wollte nach ihrem Meisterstück möglichst schnell wieder entwischen. Da aber sagte die gnädige Frau: »Sie müssen das Kätherle füttern, Annemarie. Die Kleine kann noch nicht allein suppen. Aber seien Sie jetzt vorsichtig, daß nicht wieder was passiert.« Das neue Mädchen lachte hell heraus, trotzdem es soeben noch recht bedrückt gewesen. Der schlesische Ausdruck »suppen« hatte auch in Arnsdorf stets die Lachmuskeln des Backfischchens gereizt. Verwundert sah der zurückkehrende Doktor die ungehörige Lustigkeit.

»Du scheinst dir ein viertes Kind ins Haus genommen zu haben, Martha«, meinte er, als Annemarie mit den leeren Suppentellern wieder verschwunden war. »Wo hast du das ebenso hübsche, wie ungeschickte Mädel her?«

»Sie hat sich auf meine Annonce gemeldet. Ich weiß nicht, ob ich recht getan habe, sie ohne Zeugnisse und Empfehlungen zu nehmen. Mir kommt manches etwas abenteuerlich bei ihr vor. Aber die Augen machen solchen ehrlichen Eindruck.«

»Wie eine Hochstaplerin sieht das Mädel nicht aus«, entschied auch der Doktor.

Annemarie brachte den Spinat. Dem Kätherle mußte wieder geholfen werden, da es sonst zu viel grüne Beete auf das Tischtuch säte. Herr und Frau Doktor unterhielten sich über ein neues Bild, das ein Bekannter gekauft hatte. Es war eine Schwarzweißzeichnung. Sie waren sich nicht darüber einig, ob dieselbe von Thoma oder von Spitzweg sei.

»Das Bild ist von Thoma«, entschied da plötzlich zu ihrer größten Verwunderung das neue Kindermädel die Meinungsverschiedenheit. »Ich kenne es genau – – –« Annemarie brach plötzlich jäh ab, und ein großer grüner Klecks zierte Kätherles Lätzchen. Sie biß sich auf die Lippen. Herrgott, da war ihr der Mund mal wieder davongelaufen, wie schon so oft. Hing doch das Bild daheim in Vaters Zimmer.

»Nanu?« sagten die Herrschaften. Und dann brachen sie in ein belustigtes Lachen aus.

»Was haben wir denn da für ein gebildetes Kindermädel bekommen?« rief der Herr Doktor.

»Woher kennen Sie das Bild, Annemarie?« examinierte die gnädige Frau, wieder argwöhnisch werdend.

»Es – es hängt in dem Sprechzimmer von – von dem Herrn Doktor, wo ich früher war.« Wenn sie nur nicht weiter fragen wollten. Dann kam am Ende alles heraus.

»Sie waren schon mal bei einem Arzt, das ist mir lieb. Wie hieß er?« erkundigte sich der Herr freundlich.

»Doktor – Doktor Wohlgemuth.« Das war irgendein befreundeter Kollege des Vaters. Aber es war Annemarie durchaus nicht wohlgemut dabei.

»Wo war das?«

»In – in – in – – – ich habe den Namen des Ortes vergessen,« stieß Annemarie in plötzlichem Entschluß hervor. Nein, Doktors Nesthäkchen vermochte nicht derart zu schwindeln. Es ließ das verdutzte Kätherle mit seinem Spinatteller sitzen und lief aus dem Zimmer, nur um den unbequemen Fragen des Herrn, den forschenden Augen der Frau Doktor zu entgehen.

Trotzdem Annemarie vorher tüchtigen Hunger gehabt, vermochte sie jetzt nichts zu essen. Daran war nicht etwa die mürrische Gesellschaft von Auguste, noch der ungedeckte Küchentisch schuld. Die Aufregung über die schwierige, verwickelte Lage, in die sie sich begeben, nahm Annemarie völlig den Appetit.

Als die Kinder das Zimmer verlassen hatten, wandte sich Frau Doktor an ihren Mann. »Nun, habe ich recht, Waldemar, stimmt die Sache mit dem neuen Kindermädel?«

»Nein, da ist was nicht in Ordnung. Mir fiel gleich der Anstand auf, mit dem sie mich begrüßte, und die gepflegten weißen Hände. Daß sie eben im Begriff war, zu lügen, stand ihr auf der Stirn geschrieben. Jedenfalls noch ein unverdorbenes Ding, dem die Unwahrheit nicht über die Lippen will. Was hat sie für Sachen mitgebracht?«

»Gar keine. Sie trug ein geblümtes Bauernkleid. Außerdem hatte sie nur noch einen Rucksack bei sich. Ihr Korb sei unterwegs, hat sie mir gesagt.«

»Ich würde jedenfalls mal ihren Rucksack untersuchen, Martha.«

»Ach, Waldemar, es widerstrebt mir, heimlich an anderer Leute Sachen zu gehen.«

»In diesem Fall ist es aber notwendig, Kind. Man muß in heutiger Zeit vorsichtig sein, einen Fremden ins Haus zu nehmen. Vielleicht hat sie irgend etwas bei sich, was Aufschluß über ihre Persönlichkeit gibt.«

Während Annemarie unten in der Küche Glas und Silber abtrocknete, wurde ihr Rucksack von Herrn und Frau Doktor einer eingehenden Prüfung unterzogen. Da kamen allerdings merkwürdige Dinge zutage.

Zuerst zog Frau Doktor ein elegantes Reiseetuis heraus. »Sieh nur, Elfenbeinbürsten, Waldemar. Entweder sie hat das Ding gestohlen oder – – –« Sie vollendete den Satz nicht. Denn schon hatte sie Florstrümpfe, schwarze Lackschuhe und ein Nachthemd mit eleganter Stickerei, A. B. gezeichnet, in Händen. »Das ist kein einfaches Mädchen vom Lande.« Frau Doktor kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus. »Hier ein Buch von der Lagerlöf – – –«

»Etwas merkwürdige Lektüre für ein Bauernmädchen«, warf Doktor Lange trocken ein. »Da ist ja noch ein Buch. Was ist denn das?«

»Cicero in lateinischer Ausgabe. Annemarie Braun, Obersekunda, steht darin. Begreifst du das?« Der armen Frau Doktor schwirrte der Kopf.

»Mir scheint, daß du eine Obersekundanerin als Kindermädel engagiert hast, Martha. Rudi hat ja auch schon herausgefunden, daß sie Lateinkenntnisse hat. Nähere Aufschlüsse muß sie uns selbst geben. Rufe sie doch mal.«

Annemarie erschien auf das doppelte Klingelzeichen. Sie erblaßte, als sie den Inhalt ihres Rucksacks auf dem Kinderstubentisch ausgebreitet sah.

»Möchten Sie uns erklären, wie Sie zu dem Rucksack hier kommen?« fragte der Herr mit strenger Miene.

»Es ist mein Rucksack,« war die leise Antwort.

»Das kann unmöglich stimmen. Diese Dinge gehören aller Wahrscheinlichkeit nach einer Obersekundanerin Braun. Sie haben sich nicht nur die Sachen, sondern auch den Namen derselben unrechtmäßig angeeignet. Ich werde Sie der Polizei übergeben. Die mag feststellen, wer Sie sind und wie Sie zu diesen Sachen hier kommen.«

Es wurde Annemarie schwarz vor den Augen. Ediths Puppenwagen, auf den sie gerade blickte, begann vor ihren Augen zu tanzen. Die Polizei – um Gottes willen nicht! Sie mußte die Wahrheit bekennen. Es war ja jetzt doch alles aus – alles!

»Nun?« drängte der erfahrene Arzt, der den inneren Kampf in den sprechenden Zügen des Mädchens gewahrte.

Annemarie gab sich einen Ruck.

»Ich bin Annemarie Braun aus Charlottenburg. Diese Sachen sind wirklich mein Eigentum. Ich bin auf der Fahrt nach Hause zu meinen Eltern durch den Eisenbahnerstreik hier in Sagan liegen geblieben. Da ich meine Handtasche, die mein ganzes Geld enthielt, verloren habe, war ich gezwungen, irgendeine Stellung anzunehmen, um Unterkunft zu haben und nicht zu verhungern. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich Sie getäuscht habe. Aber ich wußte mir keinen anderen Rat.« Annemaries zuerst stockender Bericht wurde nach und nach freier. Es war ihr eine ordentliche Wohltat, sich alles vom Herzen reden zu können. So – rausgeworfen wurde sie ja nun auf jeden Fall.

Da fühlte sie zu ihrem Erstaunen eine gütige Frauenhand nach der ihren greifen. »Armes Kind,« sagte Frau Doktor mit Tränen in den Augen, »was haben Sie Schweres durchgemacht. Hätten Sie nur gleich Vertrauen zu mir gehabt.«

»Ich mußte mir doch das Reisegeld verdienen, und ich glaubte, ich werde nicht genommen, wenn ich sage, daß es nur für kurze Zeit ist,« erklärte Annemarie erleichterten Herzens.

»Haben Sie die Eltern benachrichtigt, wo Sie geblieben sind?« erkundigte sich der Doktor.

»Es war unmöglich – der Telegraphendienst war ebenfalls gesperrt. Die Eltern werden in großer Sorge um mein Ausbleiben sein.«

»Das will ich meinen. Der Fernsprechverkehr ist aber bereits wieder aufgenommen. Haben die Eltern Telephon?«

»Freilich – ach, wenn ich doch anläuten könnte!«

»Wie ist Nummer und Name?«

Annemarie nannte beides.

»Braun – Doktor Ernst Braun, Charlottenburg – mit dem habe ich ja in Heidelberg zusammen studiert,« rief Doktor Lange lebhaft. »Und jetzt bekomme ich die Tochter des alten Studienfreundes als Kindermädel ins Haus. Der Lauf der Welt ist schnurrig.« Er eilte sofort ans Telephon, um das Ferngespräch anzumelden.

Bald wußten Doktor Brauns, die sich mit Recht große Sorge um den Verbleib ihres Nesthäkchens gemacht, daß dieses sich wohlbehalten in Sagan bei dem ehemaligen Gefährten aus fröhlicher Studentenzeit befand. Weshalb Doktor Lange Annemarie aber sein neues Kindermädel nannte, das verstand Doktor Braun nicht. Die Hauptsache, das Kind war in guter Obhut, bis der Eisenbahnverkehr wieder aufgenommen wurde.

Ja, Annemarie war wirklich bei Doktor Lange in Sagan gut aufgehoben. Nicht mehr als Kindermädel, sondern als liebes Pflegetöchterchen, das Frau Doktor gerne zur Hand ging. Latzschürzchen und Tollhäubchen wurden wieder abgelegt. Doch die Kinder, die mit Liebe an ihr hingen, versorgte Annemarie trotzdem mit Freuden. Eierkisten und Arnsdorfer Küken hielten durch Fürsprache des Arztes ebenfalls ihren Einzug bei Doktor Langes.

Aber nur für kurze Zeit. Als nach acht Tagen der Eisenbahnerstreik zu Ende war, und Annemarie, mit Reisegeld von Doktor Lange versehen, dankbar Abschied von den Gastfreunden nahm, bedauerten diese aufrichtig, sich sobald von dem lieben Mädel wieder trennen zu müssen. Auch Doktors Nesthäkchen wäre gern noch bei den guten Menschen geblieben, wenn – ja, wenn es nicht heimgegangen wäre zu Vater und Mutter.


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