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3. Kapitel. Doktors Nesthäkchen gründet einen Schülerrat.

»Wenn doch bloß die Literaturstunde bei Fräulein Neubert erst vorüber wäre,« rief Ilse Hermann am nächsten Tage aufgeregt.

Marlene Ulrich, an welche ihre Worte gerichtet waren, nickte nur stumm. Sprechen konnte sie vor Beklommenheit nicht. Ganz blaß sah das arme Mädchen aus. Sie hatte in der Nacht nur wenig geschlafen in banger Erwartung, was wohl nach dem gestrigen Konditoreibesuch noch erfolgen würde. Allgütiger – wenn Fräulein Neubert ihnen ihre Versetzungszensuren nach Obersekunda verdarb!

Marianne, Vera und Annemarie hatten ebenfalls die Köpfe zusammengesteckt.

»Seid doch nicht solche Banghasen, Kinder!« Unbekümmert biß Annemarie Braun in ihr Frühstücksbrot. »Was soll denn nachkommen? Höchstens noch eine erneute Auflage des gestrigen Donnerwetters. Na meinetwegen – ich habe ein Elefantenfell.«

Der Eintritt der gefürchteten Lehrerin machte dem halblauten Gespräch, dem die Klasse voll Interesse gelauscht, ein Ende.

Marlene konnte sich kaum von ihrem Sitz erheben, so zitterten ihr die Knie. Vera rückte unbehaglich auf ihrem Platz hin und her.

Fräulein Neubert schritt gravitätisch mit gemessenen Schritten zum Katheder. Dort oben blieb sie stehen und blickte durch die Eulenbrille stumm auf die Mädchenschar, von der sich hier und da eine hinter der Vorihrsitzenden verkroch.

»Lieber Gott, laß sie doch zum Literaturbuch greifen! Ich kann zwar sehr wenig von den mittelalterlichen Dichtern, aber immerhin besser, als wenn sie noch einmal die Soße von gestern aufwärmt,« betete Marianne Davis im innersten Herzen.

»Ich habe der Untersekunda eine Mitteilung zu machen, eine recht betrübende,« begann da Fräulein Neubert. Das hörte sich ganz und gar nicht nach Literatur des Mittelalters an. Wo sollte das hinaus? Fünf bange Seelen fragten es sich bedrückt.

»Mehrere Schülerinnen der Untersekunda,« fuhr Fräulein Neubert fort, »sind gestern ungehorsam gewesen.« Die Eulenaugen schienen die fünf jungen Missetäterinnen zu durchbohren. Besonders auf dem rosigen Gesicht Annemaries blieben sie haften. »Trotz meines Gebotes, ihre Pflicht beim Fortschaffen des Schnees zu erfüllen und keine Allotria zu treiben, habe ich sie schlemmend in einer Konditorei ertappt. Ich will hier gar nicht von der Unschicklichkeit reden, daß Schülerinnen ohne Begleitung eines Erwachsenen eine Konditorei aufsuchen. Lediglich von dem Ungehorsam, der verdient eine exemplarische Strafe –« Marlene Ulrich wurde so weiß wie der Batistkragen an ihrem Kleide.

Wieder eine sekundenlange Pause. Den armen Dingern schien sie Stunden zu dauern.

»Ich sehe mich also genötigt, die betreffenden fünf Schülerinnen wegen Ungehorsam unter Tadel zu schreiben und ihnen auf dem Zeugnis im Betragen Nummer drei zu geben – – –« Lautes Weinen unterbrach die Rede.

»Ach, Fräulein Neubert, liebes Fräulein Neubert!« Das war Marianne Davis.

»Es soll nicht wieder vorkommen – ganz gewiß nicht.« Ilse Hermann schluchzte zum Gotterbarmen.

Marlene Ulrich sprach kein Wort. Sie biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten, aber kein Laut kam darüber.

Vera hatte die ganze Tragweite der Worte Fräulein Neuberts noch nicht recht begriffen. Sie weinte mit, weil die anderen weinten.

Zwei Mädchenhände aber hatten sich zornig zu Fäusten geballt, und ein roter Mund hatte empört die Worte herausgestoßen: »Na, das ist aber stark!«

»Hat hier eine noch etwas zu sagen?« Die Eulenbrillengläser durchbohrten den vorlauten Backfisch.

Die strahlenden Blauaugen Annemaries senkten sich nicht. Sie hielten der Eulenbrille stand.

Auch jetzt schwieg Doktors Nesthäkchen nicht, trotzdem die neben ihm sitzende Vera es beschwörend zupfte, doch bloß den Mund zu halten. Heulen, nein, das tat Annemarie nicht. Aber mit ihrer Meinung hielt sie nicht zurück.

»Wir haben den Tadel nicht verdient, Fräulein Neubert,« sagte sie mit lauter Stimme, die nur vor Entrüstung zitterte. »Wir waren weder ungehorsam, da Sie uns ja nicht verboten hatten, in die Konditorei zu gehen, noch haben wir etwas Unschickliches getan. Der Konditor wollte sich uns für das Schneeschippen erkenntlich zeigen und uns bei der Kälte etwas Warmes zukommen lassen. Meine Eltern haben sich darüber gefreut und durchaus nichts Ungehöriges dabei gefunden.« Doktors Nesthäkchen atmete tief auf. So – nun wußte Fräulein Neubert wenigstens Bescheid.

Die Klasse sah halb mit Bewunderung, halb mit Besorgnis auf die kühne Sprecherin. Au weh – was würde jetzt kommen? Alles hielt den Atem an.

»Na, das ist wirklich stark!« Fräulein Neubert brauchte, ohne es zu wissen, Annemaries Ausdruck von vorhin. »Du willst deiner Lehrerin Vorschriften machen? Kein Wort mehr! Was die Eltern zu Hause für richtig befinden, geht mich nichts an. Ich habe dafür zu sorgen, daß die Schuldisziplin nicht verletzt wird. Und das tue ich! Erledigt! Wo waren wir voriges Mal stehen geblieben?«

»Bei Johann Fischart,« rief es hier und dort. O weh, heute mußte sich jede zusammennehmen. Heute war mit Fräulein Neubert nicht gut Kirschen essen.

Erledigt? Für Annemarie war die Angelegenheit noch lange nicht erledigt. Trotzig warf sie den Blondkopf zurück. So 'ne Ungerechtigkeit – so 'ne haarsträubende Ungerechtigkeit! Aber das ließ sie nicht stecken. Ganz gewiß nicht. Sie ging zum Direktor und beschwerte sich. Oder – – – Annemarie zog die Stirn kraus, ein Zeichen, daß sie angestrengt nachdachte. Aber nicht Johann Fischart und seinem glückhaften Schiff von Zürich, das die Lehrerin mit der Klasse durchnahm, galten ihre Gedanken. Die wanderten ganz wo anders hin.

Hatte Klaus nicht erzählt, daß in seinem Gymnasium von den Jungen Schülerräte gebildet worden waren? Annemarie hatte eigentlich nicht viel davon begriffen. Nur soviel war ihr klar geworden, daß die Schüler durch ihren Schülerrat Beschwerde über Lehrer erheben konnten. »Jetzt lassen wir uns nichts mehr gefallen,« hatte Klaus großsprecherisch verkündet. Vater allerdings war durchaus nicht mit den Worten seines Sprößlings einverstanden gewesen. »Das fehlte noch, daß ihr, dummen Jungs, über eure Lehrer zu Gericht sitzt. Hat denn die Revolution euch allen die Köpfe verdreht? Nächstens werden noch Säuglingsräte gebildet, die über ihre Eltern aburteilen,« so hatte er ärgerlich geäußert. Laut auf hatte sein Nesthäkchen über die Säuglingsräte gelacht, und Klaus' Schülerräte waren ihr recht dumm vorgekommen.

Jetzt aber in ihrer Empörung erschienen Annemarie die Schülerräte durchaus nicht mehr dumm. Im Gegenteil, dringend notwendig kamen sie ihr vor, um der bisher unumschränkten Gewalt des Lehrers eine Grenze zu setzen. Was an Klaus' Gymnasium möglich war, ging auch bei ihnen. Sie waren ja auch im Gymnasium, sie waren auch nicht dümmer als die Gymnasiasten. Sie ließen sich auch nicht alles gefallen, wenn sie auch Mädels waren. Nein, ganz gewiß nicht!

»Du, Vera –« die neben ihr sitzende Freundin erhielt einen kleinen Rippenstoß – »du, ich gründe einen Schülerrat. Dann kann sich Fräulein Neubert aber in acht nehmen.«

»Wie? –« Vera sah verdutzt drein. Sie hatte keine Ahnung, was Annemarie eigentlich wollte.

»Einen Schülerrat gründe ich, der über Fräulein Neubert Gericht abhält und – – –«

»Vera Burkhard, gib den Inhalt des eben besprochenen Gedichtes an!« Der Lehrerin war die Unaufmerksamkeit der beiden nicht entgangen.

Vera schnellte empor und stand stumm da.

»Einst fuhren Büchsenschützen zu Schiff von Zürich nach Straßburg.« So laut auch Annemarie vorsagte, Vera verstand in ihrer Aufregung nur die Hälfte.

»Büchsen sind gefuhren nach – nach die Züricher Strraße.« Der Klang haftete nur im Ohr der Freundin.

Schallendes Gelächter erhob sich in der Klasse. Die junge Deutschpolin mit ihrem mangelhaften Deutsch lieferte oft Lachstoff. Sie hatte dann eine reizende Art, mitzulachen. Heute aber lachte Vera nicht mit den anderen. Ängstlich blickte sie zu Fräulein Neubert hin, die ein gar zu böses Gesicht machte.

»Ich denke doch, Vera Burkhard, du hättest allen Grund, mich jetzt durch doppelte Aufmerksamkeit zufriedenzustellen. Abgesehen davon, daß du jeden Augenblick dazu benutzen solltest, dein fehlerhaftes Deutsch zu verbessern. Ich kann dir in der Konferenz unmöglich die Reife für Obersekunda zusprechen.«

Die Tränen der Gescholtenen begannen zu fließen. Aber tröstend wisperte es von nebenan: »Heule nicht. Verachen, du bleibst nicht sitzen. Dafür wird schon mein Schülerrat sorgen.«

Wirklich versiegten die Tränen. Vera stellte sich unter Schülerrat etwas Ähnliches wie den Herrn Schulrat vor. Ja, wenn der dafür sorgen würde!

»Marlene Ulrich, gib du den Inhalt des Gedichtes an.«

Die Aufgerufene schien aus einer anderen Welt zu kommen, so versunken war sie noch immer in ihren Schmerz. Aber sie nahm sich zusammen.

»Im 16. Jahrhundert fuhren Büchsenschützen zu Schiff von Zürich nach – nach – – –« Sie stockte, wurde rot und senkte verlegen den Kopf.

»Nach Straßburg,« half Annemarie, trotzdem sie mehrere Plätze entfernt saß, kränzchenschwesterlich aus, während die Eulengläser ihr einen vernichtenden Blick zuwarfen.

»Nach Straßburg.« Marlene atmete erleichtert auf. »Und zum Zeichen, daß sie die Reise in einem Tage zurücklegten, brachten sie einen Kessel mit Hirsebrei, der in Zürich gekocht war, noch warm nach Straßburg,« vollendete sie fließend.

»Setzen!« Fräulein Neubert machte sich eine Notiz in ihrem Büchlein. »Zu welcher Gattung Gedichte gehört das glückhafte Schiff von Zürich?«

Die Untersekunda machte gerade keine schlauen Gesichter.

Nur ein Zeigefinger erhob sich. Er gehörte zu Annemarie Braun, die für deutsche Literatur besonderes Interesse hatte. Die Lehrerin schien es nicht zu bemerken.

»Weiß es keine?«

»Ich – ja, ich – – –« Zu überhören war Annemaries laute Stimme wirklich nicht. Aber Fräulein Neubert brachte das Kunststück fertig.

»Ist es ein lyrisches Gedicht?« fragte sie wieder.

»Nein« – »nee.« – Annemaries Stimme rief am lautesten von allen: ihr Zeigefinger fuhr wild im Kreise durch die Luft.

»Also was für eins?«

»Ein erzählendes.« – – Annemarie schrie es einfach, ohne gefragt zu sein, in ihrer Lebhaftigkeit.

»Hier hat nur diejenige zu sprechen, die ich aufrufe.« Fräulein Neubert runzelte die Stirn.

»Na, wenn ich nicht ausgerufen werde, mehr als melden kann ich mich nicht,« gab Annemarie ungezogen zur Antwort.

»Annemarie Braun, ich glaube, du willst heute zum zweitenmal nähere Bekanntschaft mit dem Klassenbuch machen.« Die Lehrerin griff nach dem gefährlichen Buch.

»Durchaus nicht – aber Luft bin ich nicht – und wenn ich mich am Unterricht beteilige – – –« Das junge Mädchen wurde bald blaß, bald rot vor Aufregung.

»Schülerinnen, welche sich ungehörig benehmen, existieren für mich nicht. Und nun wünsche ich kein Wort mehr über die Angelegenheit zu hören.« Fräulein Neubert schrieb mit schönen großen Buchstaben Annemarie Braun unter Tadel.

»Das lasse ich mir nicht gefallen – ich gehe zum Direktor. Wir bilden Schülerräte, wie das bei Klaus am Gymnasium schon eingeführt ist. Solche Behandlung brauchen wir uns nach der Revolution nicht mehr gefallen zu lassen. Die Jugend hat auch ihre Rechte, wir sind freie Menschen und keine Sklavenseelen!« wütete Annemarie vor sich hin, während Vera sie vergeblich zu besänftigen suchte:

»Nicht sprrechen so laut – du fliegen herraus!«

Annemarie war in ihrer Erregung alles gleich – keine Träne kam ihr über den Tadel. Nur Empörung, grenzenlose Empörung zeigten die jungen, ausdrucksvollen Mienen. Ohne sich um den Fortgang der Stunde noch zu kümmern, nahm sie ein Buch aus der Mappe und schlug es auf. Wenn Fräulein Neubert sie vom Unterricht ausschloß – schön, ihr sollte es recht sein.

Die Kameradinnen sahen mit erstaunt mißbilligenden Blicken auf die dreiste Annemarie. Da hatte das kecke Ding doch tatsächlich ganz offensichtlich auf dem Schultisch das französische Buch aufgeschlagen und präparierte Athalie. Marianne Davis drehte sich beinahe den Hals aus, um diese Sehenswürdigkeit eingehend zu betrachten, während Vera ihr ängstlich zuflüsterte: »Buch machen zu – Frräulein Neubert sehen herr mit grroße Eulenaugens.«

Annemarie ließ sich nicht stören. Sie hörte den Vortrag der Lehrerin über Johann Fischart, den Verfasser des vorhin besprochenen Gedichtes nicht, denn sie hatte sich absichtlich beide Zeigefinger in die Ohren gestopft. Erst als Ilse Hermann, die vor ihr saß, aufgerufen wurde und ängstlich den Kopf mit dem glattgescheitelten Blondhaar nach allen Seiten wandte, ob sich nicht eine mitleidige Seele ihrer Unwissenheit erbarmte, wurde sie aufmerksam.

»Kannst du uns wirklich kein anderes Werk dieses erzählenden Dichters nennen, Ilse Hermann?«

Ilse stand ratlos und nahm aus Verlegenheit einen ihrer langen Blondzöpfe in den Mund.

»Flöhhatz,« trompetete es da plötzlich durch die Stille. Einen Augenblick saßen die Mädels starr über Annemaries Unverfrorenheit. Dann aber brach die Klasse in ein lautes, nicht zu bändigendes Gelächter aus.

»Ruhe – ich verlange augenblickliche Ruhe!« Die Stimme der Oberlehrerin legte sich eisig auf das helle Mädchenlachen. »Annemarie Braun, du verläßt unverzüglich die Klasse.«

»Ich habe nichts weiter getan, als ein Werk von Fischart genannt.« Annemarie schlug ihren Racine mit lautem Knall zu und verließ erhobenen Hauptes den Schauplatz ihrer Heldentaten.

Aber so gleichgültig, wie sie sich äußerlich den Anschein gab, war ihr innerlich ganz und gar nicht zumute. Grenzenlos gedemütigt fühlte sie sich in ihrer Sekundanerwürde. Rausgeflogen war sie aus der Klasse – an die Luft gesetzt worden – die ganze Untersekunda war Zeuge ihrer Schmach gewesen – – Annemarie stieß wütend mit dem Fuß gegen den steinernen Flurboden, daß es laut durch die Stille hallte. Tränen der Auflehnung schossen ihr heiß in die Augen.

So ließ sie sich nicht behandeln. O nein! Fräulein Neubert hatte kein Recht, sie vom Unterricht auszuschließen. Heute noch gründete sie einen Schülerrat, der beim Direktor vorstellig werden mußte. Das ließ sie sich nicht gefallen!

Am liebsten wäre Fräulein Heißsporn sofort auf frischer Tat zum Direktor gelaufen und hätte sich über die ihr zugefügte Behandlung beschwert. Aber alles muß seine Ordnung haben. Gemeinsam mußten sie vorgehen, nur Einigkeit macht stark. Und wenn sie allein Beschwerde erhob, war es nichts weiter als ganz gemeines Petzen. Das hatte Annemarie Braun von klein auf verachtet.

Piefkes Glocke erlöste Annemarie aus ihrer Verbannung. Möglichst unauffällig mischte sie sich unter die anderen Schülerinnen. Die hatten sofort, nachdem Fräulein Neubert die Klasse verlassen, das Katheder gestürmt.

»Ihr seid alle fünf unter Tadel geschrieben, und Annemarie Braun hat einen Doppeltadel,« rief eine, die als erste das Klassenbuch erwischt hatte.

Jämmerliches Schluchzen übertönte sie.

»Ruhig, Kinder! Heule doch nicht wie ein mondsüchtiger Mops, Marianne. Der Tadel wird ja wieder gestrichen.« Vergeblich versuchte Annemarie Braun sich Gehör zu schaffen. Da sprang sie kurz entschlossen auf den Lehrerstuhl.

»Ruhe!« schrie sie mit ihrer ganzen Lungenkraft in den Tumult hinein. Und nochmals: »Ruhe!«

Wirklich, die Wogen der Erregung glätteten sich. Neugierig schaute alles zu der jungen Sprecherin hoch oben auf dem Kathederstuhl.

»Schließt die Tür,« befahl Doktors Nesthäkchen. »Ich habe euch Wichtiges zu sagen.« Selbst Marianne Davis hielt im Jammern inne und spitzte neugierig die Ohren. »So geht das nicht weiter,« verkündete Annemarie den aufhorchenden Mädeln. »Wir dürfen uns eine derartige unwürdige Behandlung nicht länger gefallen lassen. Wißt ihr, was wir tun werden?«

Keine wußte es.

»Wir gründen einen Schülerrat!« Wie eine Offenbarung klang es.

»Einen – was – – –?« Die Untersekunda wußte jetzt nicht mehr als zuvor.

»Einen Schülerrat – habt ihr denn noch nie was davon gehört?« Doktors Nesthäkchen kam sich ungeheuer überlegen vor, trotzdem es selbst noch nicht allzulange das Wort in seinem Sprachschatz aufgenommen hatte.

»Was ist denn das für ein Ding, so ein Schülerrat?« Dichter umdrängte man das Katheder.

»Ein Schülerrat, das ist eben – na, wie kann man so was bloß nicht wissen! Ein Schülerrat ist eben ein – ein Schülerrat,« setzte die junge Rednerin höchst klar auseinander.

Verdutzt sahen sich die Schulkameradinnen an.

»Versteh' ich nicht,« sagte Marlene Ulrich ehrlich.

»Na, Schülerräte werden jetzt gegründet, damit wir uns nicht alles mehr von den Lehrern gefallen lassen müssen. Wir Schülerinnen haben auch unser Recht, seitdem wir eine Republik sind. Habt ihr in der Zeitung noch nichts von Arbeiterrat und Soldatenrat gelesen? Na also. Schülerrat ist so was Ähnliches.« Annemarie war ungeheuer stolz auf ihre Kenntnisse.

»Ja, wie machen wir das denn, wenn wir solchen Schülerrat gründen wollen?« fragte eine zweifelnd.

Annemarie zog die Stirn kraus und dachte angestrengt nach. Eine derartige Gründung war eine feierliche Handlung, die würdig begangen werden mußte. »Wir heben die rechte Hand hoch und sprechen alle zusammen die Worte der Eidgenossen auf dem Rütli: ›Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern – ach nee, Schwestern, in keiner Not uns trennen und Gefahr‹.«

Das fanden sie alle sehr schön und feierlich. Nur Marlene gab zögernd zu bedenken: »Wenn uns Fräulein Neubert nur nicht wieder einen Tadel deswegen einschreibt.«

»Kann sie ja gar nicht mehr, wenn wir erst unseren Schülerrat haben,« triumphierte Annemarie. »Also hebt die Hand hoch – die rechte, Vera – sprecht nach: ›Wir wollen sein ein einig Volk von Schwestern, in keiner Not uns trennen und Gefahr‹.« Laut und feierlich erschallte es durch die Untersekunda. Dreißig Hände hoben sich empor.

»Nanu – führen Sie Wilhelm Tell hier auf?« erklang es da verwundert von der Tür her in den Schwur hinein. Professor Möbus betrat die Klasse zur französischen Stunde.

Hui – war der Schwarm auseinandergestoben und auf den Plätzen. Keine dachte mehr an den soeben geleisteten Eid, in keiner Not sich zu trennen und Gefahr. Einsam thronte Doktors Nesthäkchen aus seiner Höhe. Annemarie war so verblüfft durch den plötzlichen Eintritt des Lehrers, daß sie das Heruntersteigen vergaß.

»Nanu?« Kopfschüttelnd besah sich der Herr Professor die zu einer Statue erstarrte junge Dame. »Wollen Sie die Berolina vom Alexanderplatz darstellen, Braun?«

Da kam wieder Leben in Annemarie. »Nee,« machte sie und war mit einem Satz herunter auf ihren Platz.

Sehr viel Aufmerksamkeit war heute nicht in der französischen Stunde. Der Schülerrat spukte in den blonden und braunen Mädchenköpfen.

»Um Mitternacht müssen wir zusammenkommen und den Eid ablegen, bei Mondschein, sonst ist es nicht ein bißchen poetisch,« flüsterte Ilse Hermann.

»I wo, Bonbons müssen wir morgen alle mitbringen zur würdigen Feier,« schlug Marianne vor. Da war es wohl kein Wunder, daß die Übersetzung der »Athalie« nicht sehr flott ging, und die Nummern, die sich der französische Lehrer in sein Büchlein schrieb, nicht besonders ausfielen.

Nach Beendigung der Stunde scharte man sich wieder um die Gründerin des Schülerrates.

»Wir müssen einen Vorstand wählen,« schlug eine vor, deren Vater in vielen Vereinen tätig war.

»Ja, natürlich« – »Annemarie Braun muß in den Vorstand« – »sie soll sich selbst die übrigen wählen.« Eine überschrie die andere.

»Schön.« Annemarie nahm gnädig die Wahl an. »Ich wähle Marlene, Ilse, Vera und Marianne in den Vorstand.« Denn das war doch ganz selbstverständlich, daß sie vor allem erst ihre Kränzchenschwestern berücksichtigte.

»Nee, lauter Freundinnen, das geht nicht,« erhob eine Widerspruch.

»Und ich möchte auch gar nicht in den Vorstand,« wandte Marlene ein. »Erst muß ich sehen, wie die Sache mit dem Tadel verläuft. Muttchen wird schrecklich böse sein.«

»Wir wollen gleich zum Direktor gehen und Beschwerde wegen der ungerechten Tadel erheben,« versuchte Annemarie sie zu überreden. Aber auch Ilse und Marianne hatten plötzlich die Lust verloren, in den Vorstand einzutreten. Zum Direktor gehen und Beschwerde gegen eine Lehrerin erheben – nein, das war doch zu riskant.

Nur Vera, die Intima, blieb ihrem Schwur treu, in keiner Not sich zu trennen und Gefahr.

»Drei müssen wir mindestens sein, sonst hat unsere Abordnung kein ordentliches Ansehen,« stellte Annemarie vor. »Wer tritt noch in den Vorstand ein?«

Verlegene Mädchengesichter – beredtes Schweigen. Keine hatte Lust, den gefährlichen Gang zum Direktor zu wagen.

»Ihr habt ja keinen Schneid im Leib, seid nicht wert, Gymnasiasten zu sein, die Jungs sind aus ganz anderem Holz,« machte die junge Vorsitzende des neuen Schülerrates ihre Genossinnen herunter.

Schließlich meldete sich noch eine, die nicht sehr angesehen in der Klasse war und auch bei den Lehrern nicht besonders angeschrieben. Annemarie hätte lieber noch eine von den Fleißigen dabei gehabt, aber – »in der Not frißt der Deibel Fliegen«, dachte sie.

»Wollt ihr denn wirklich zum Direktor gehen?« Die Kränzchenfreundinnen versuchten noch einmal die unternehmungslustige Annemarie umzustimmen.

»Annemie, wirr fliegen bei Dirrektor alle drrei an derr Luft,« stellte auch Vera leise vor.

»Wer Angst hat, kann ja hierbleiben.« Selbst der Busenfreundin gegenüber wurde Annemarie jetzt ärgerlich. »Der Schülerrat der Untersekunda hat seine Abordnung hier zu erwarten,« sagte sie großartig und verließ die Klasse stolzen Hauptes und nur wenig pochenden Herzens. Vera und die dritte im Bunde spazierten beklommen hinterdrein.

Je näher man der Tür des Direktorzimmers kam, um so langsamer wurden die Schritte und um so schneller das Pochen der drei Mädchenherzen. Einen Augenblick zauderte selbst die kecke Annemarie, ehe sie an der Respekt einflößenden Tür mit den matten Glasscheiben anzuklopfen wagte. Nur einen Augenblick. »Herein,« rief es von drinnen.

»Wollen wirr laufen nicht lieberr forrt?« Vera zog sie ängstlich rückwärts.

»Hasenfuß!« Trotzdem auch Doktors Nesthäkchen durchaus nicht zum besten zumute war, öffnete sie jetzt erst recht keck die gefährliche Tür.

Der Herr Direktor saß an seinem Arbeitstisch und blickte über die Brille hinweg auf die an der Tür bescheiden Stehenbleibenden.

»Ei, sieh da, drei Grazien. Was bringen Sie Schönes?« fragte er wohlwollend.

Den gütigen alten Augen gegenüber ging Annemarie ihre empörte Anklage nicht so recht über die Lippen. Wollte sie nicht Fräulein Neubert verpetzen? Pfui! Wenn sie es auch noch so beschönigte, im Grunde genommen blieb es doch ganz gemeines Klatschen.

»Nun?« Der Herr Direktor wartete immer noch auf Antwort.

Es half nichts, sie mußte reden.

»Fräulein Neubert hat mir und meinen Freundinnen ungerecht einen Tadel gegeben.« – – – Flammendrot wurde Annemarie. Zum erstenmal in ihrem Leben petzte sie.

»Ungerecht?« – Das freundliche Lächeln des Herrn Direktors schwand.

»Ja, wir sind beim Schneeschippen von einem Konditor, vor dessen Tür wir geschaufelt haben, mit einer Tasse Schokolade für unsere Arbeit belohnt worden. Und dafür hat uns Fräulein Neubert unter Tadel geschrieben,« sprudelte sie heraus, wieder ganz aufsässige Entrüstung.

»Hm – scheint mir nicht ganz wahrscheinlich, wird wohl noch anders zusammenhängen. Und was wollen Sie und die beiden andern nun bei mir?« Durchdringend blickten die Augen über die Brille hinweg.

Annemarie drehte an ihren Fingern. Petzen – das Wort dröhnte ihr in den Ohren, trotzdem tiefe Stille in dem kleinen Raum herrschte. Aber wer A gesagt hat, muß auch B sagen.

»Fräulein Neubert hat mich ferner vom Unterricht ausgeschlossen, und als ich mich trotzdem beteiligte, hat sie mich – da hat sie mich aus der Klasse gewiesen und mir einen zweiten Tadel eingeschrieben.« Ganz leise kam es diesmal über die roten Lippen. Annemarie schämte sich grenzenlos.

»Das sind ja recht nette Sachen, die ich da zu hören bekomme. Diese unerfreulichen Dinge, die in der Sekunda nicht mehr vorkommen dürften, erfahre ich noch früh genug in der Konferenz. Was wollen Sie also hier?« Nichts Wohlwollendes hatten die sonst gütig blickenden Augen mehr. Kurz und streng klang die Frage.

Annemaries sich verkriechender Mut richtete sich wieder trotzig empor.

»Beschweren wollen wir uns über die ungerechte Behandlung. Wir lassen uns so was nicht mehr gefallen. Wir Schülerinnen haben auch unsere Rechte. Wir haben einen Schülerrat gebildet und erheben Einspruch gegen jede Ungerechtigkeit.« Annemarie wußte selbst nicht, woher sie den Mut zu diesen energischen Worten nahm, während Vera sie ängstlich zupfte, doch bloß zu schweigen.

Auf der Stirn des gestrengen Oberhauptes hatten sich unheilverkündend gewitterschwere Wolken geballt. Jetzt brach das Donnerwetter herein.

»Also Revolution – Revolution in meiner Schule! Das ist ja nett! Schülerrat – ja, schämen Sie sich denn gar nicht, mir altem Mann mit derartig aufsässigen Ideen zu kommen? Haben wir noch nicht genug an der Revolution draußen im Lande? Und wissen Sie, törichtes Kind, denn überhaupt, was solche Schülerräte bezwecken?« So ärgerlich hatte Annemarie den Herrn Direktor noch nie gesehen.

»Gerechtigkeit,« stieß sie mit dem letzten Rest ihres arg zusammengeschmolzenen Selbstbewußtseins hervor. »Die Schülerräte sollen bei Ungerechtigkeiten der Lehrer zu Gericht sitzen und – – –«

»So, also über eure Lehrer wollt ihr aburteilen, ihr jungen Grünschnäbel, ihr! Vielleicht auch über die Eltern zu Hause, falls euch an ihrer Erziehung irgend etwas nicht paßt? Da seid ihr ja mal wieder recht gründlich auf dem Holzweg in eurer Neunmalklugheit. Schülerräte sollen zu dem Zweck gebildet werden, um das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern zu bessern, zu einem freundschaftlicheren zu gestalten. Die Schülerräte sollen die Kameraden zum Guten beeinflussen, damit die Lehrer gar nicht erst notwendig haben, zu strafen. Sagen Sie mal, Annemarie Braun, sind Sie denn davon überzeugt, daß Ihr heutiges Verhalten, Fräulein Neubert gegenüber, vor einem derartigen Schülerrat hätte bestehen können?«

Annemarie stand stumm. Es kam nicht oft vor, daß sie eine Antwort schuldig blieb. Nein, höflich und bescheiden hatte sie sich heute ganz gewiß nicht benommen.

»Sie sprechen sich selbst durch Ihr Schweigen das Urteil. Und nun gehen Sie und schämen Sie sich Ihrer kindischen Unvernunft.« Eine kurze Handbewegung scheuchte das Kleeblatt im Nu aus dem Zimmer.

Ja, Doktors Nesthäkchen schämte sich grenzenlos. So sehr, daß es all den neugierigen Fragen der in der Klasse auf sie Harrenden kaum standzuhalten vermochte. »Der Direktor ist nicht für Schülerräte – er ist schon zu alt für moderne Bestrebungen.« Das war alles, was man aus Annemarie herausbekam.

Nie mehr in ihrem ganzen Leben gründete sie wieder irgendeinen Verein!


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