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2. Kapitel. Die Untersekunda schippt Schnee.

Es schneite – schneite – was nur vom Himmel herunter wollte. Große dicke Watteflocken, kleine zierliche Silbersterne – jetzt eine große weiße Puderwolke, ein lustiger Schneewirbel – und nun wieder still und stetig, gleichmäßig und sacht.

Ein dicker weißer Samtteppich breitete sich über die Plätze und Straßen Berlins. Die Häuser schauten ganz merkwürdig aus hohen weißen Zipfelmützen heraus.

Auf dem Blumenbrett vor Nesthäkchens Fenster türmten sich die Schneemassen. Kaum vermochte Annemarie am Morgen über den hohen Schneeberg zu ihrer Freundin Margot hinüberzuspähen.

»Eine Gottesmauer – eine weiße Gottesmauer! Ach, wenn sie doch unser ganzes Haus umschlösse, dann könnte ich nicht in die Schule gehen!« Das Backfischchen blickte von seinem Morgenfrühstück zweifelnd in das Schneegestöber hinaus, ob es wohl so weit kommen könnte.

»Aber Lotte, du bist doch sonst nicht so faul,« meinte die Mutter erstaunt, während sie dem Töchterchen die Schulbrote zurecht machte.

»Na, erstens ist heute Montag, da ist's immer eklig, in die Schule zu gehen. So dunkel und kalt ist's an keinem anderen Tage in der Woche! Und dann das lateinische Versetzungsextemporale heute – ach, wenn uns doch die Gottesmauer davor bewahren möchte!«

Frau Doktor mußte lachen.

»Bist du ein Kindskopf, Lotte! Lerne doch lieber vorher fleißig zum Extemporale, dann brauchst du keine Angst zu haben.«

»Bammel heißt es bei uns auf dem Gymnasium,« unterbrach Annemarie sachgemäß die Mutter. »Aber wo ist denn Vater und Klaus?« Sie wies verwundert auf die noch unberührten Gedecke. Der Vater, der in seinem ärztlichen Beruf sehr angestrengt war, hielt darauf, die Mahlzeiten mit seiner Familie gemeinsam einzunehmen. Waren dies doch die einzigen Ruhestunden, die der vielbeschäftigte Arzt sich gönnte.

»Wenn du wüßtest, wo die beiden stecken.« Die Mutter machte ein verschmitztes Gesicht. »Sie sorgen dafür, daß keine Gottesmauer um unser Haus wächst, damit du heute dein Extemporale schreiben kannst.«

»Was – wieso denn?« Nesthäkchens rundes Gesicht sah so verständnislos drein, daß die Mutter laut lachen mußte.

»Ja, da staunst du! In aller Herrgottsfrühe hat der Hausmeister heute schon die Mieter zum Schneeschippen auffordern lassen. Jeder gesunde Mensch ist dazu verpflichtet, weil der Magistrat sonst nicht dieser unaufhörlich sich erneuernden Schneemengen Herr werden kann, und der ganze Verkehr dadurch stockt. Da ist Vater noch vor seiner Sprechstunde zum Schneeschippen hinuntergegangen, und den Klaus hat er mitgenommen.«

»Vater schippt Schnee?« Hellauf lachte ihr Nesthäkchen. »Das muß ich sehen« – und spornstreichs wollte es hinaus nach dem Balkon, wo der Schnee schon die halbe Tür bedeckte.

»Hiergeblieben, Lotte!« rief die Mutter hinter ihr her. »Ich kriege ja das nasse Zeug ins Wohnzimmer herein. Wenn du nachher zur Schule gehst, kannst du den Vater unten bewundern.«

»Ich gehe nicht in die Schule,« erklärte plötzlich das Töchterchen mit Bestimmtheit. »Ich bin ebenso zum Schneeschippen verpflichtet wie Klaus. Ich bin auch ein gesunder Mensch – Hurra, das lateinische Extemporale können sie ohne mich schreiben!«

»Jawohl, daraus wird nichts, Fräulein Faulpelz,« tönte es von der Tür her, und herein trat der Vater mit kältegerötetem Gesicht. »Eine Pflicht darf nicht um einer andern willen vernachlässigt werden. Ich gehe jetzt auch in meine Sprechstunde und der Klaus in die Schule. Aber wir haben tüchtig geschafft. Nun soll der heiße Kaffee noch mal so gut munden.«

»Och«, machte Nesthäkchen enttäuscht, und das runde Gesichtchen wurde lang. »Ich habe mich schon so auf das Schneeschippen gefreut.«

»Ich fürchte, wenn das draußen so weiter geht, werdet ihr nachmittags noch antreten müssen und Hanne auch«, scherzte der Vater, auf die gerade mit heißem Kaffee eintretende rundliche Küchenfee weisend.

»Ja, Kuchen – nischt zu machen! Mit mir soll Kulicke unten« – das war der Hausmeister – »man ja nich anfangen. Wenn andere Leute so varrickt sind und ihm seinen Schnee vor'n Haus wechschippen, ich hab' Jott sei Dank noch meine jesunden Sinne. Und ieberhaupt weiß ich, was ich mich als herrschaftliche Köchin schuldig sein tu.« Hanne war nämlich empört darüber, daß »ihr Doktor« so wenig Standesbewußtsein hatte und sich zum Schneeschippen zur Verfügung gestellt hatte. Was sollten denn bloß die Patienten davon denken!

»Also Hanne, heute nachmittag treten wir zusammen zum Schneeschippen an«, neckte nun auch Annemarie.

»Du, mach, daß de in de Schule kommst und ieberhaupt hab' ich das Reißen in alle Knochens!« Damit schmetterte Hanne aufgebracht die Tür zu.

»Komische alte Kruke!« lachte Klaus hinter ihr her.

Annemarie aber warf einen besorgten Blick auf die Standuhr in der Ecke.

Himmel – zehn Minuten zu acht! Nun hieß es aber dalli – dalli! Die pflichteifrige Margot, mit der sie meistens den Schulweg zurücklegte, würde sicher heute nicht mehr unten warten. Die Pelzmütze auf das Blondhaar gestülpt, Mantel angezogen – Schultasche – waren auch alle Bücher drin? Na hoffentlich! Jetzt war keine Zeit mehr nachzusehen. Was fehlte noch? Richtig, die Hauptsache: Das Frühstück!

»Lotte, die hohen Überschuhe! Daß du mir bei dem Schneewetter nicht ohne Überschuhe gehst«, rief die Mutter besorgt.

»Jetzt habe ich aber wirklich keine Zeit mehr dazu, es ist wahnsinnig spät.« Annemarie wollte auf und davon.

»Du ziehst die Überschuhe an, Annemarie!« Das war Vaters bestimmter Ton, gegen den es keine Einwendung gab. Und überhaupt, wenn er Annemarie und nicht Lotte zu ihr sagte, dann war er ärgerlich. »Du hattest Zeit genug, früher anzufangen.«

Annemarie zerrte bereits ihre sämtlichen Schuhe aus dem Stiefelschrank. Himmlischer Vater, wo waren die Überschuhe bloß? »Minna – Minna – haben Sie nicht meine Überschuhe gesehen?«

»Nein, Fräulein Annemarie, sie müssen doch im Schrank stehen.«

»Da sind sie aber nicht – ach Gott, ach Gott, was fange ich bloß an!« Nesthäkchen raste vom Zimmer zum Korridor und vom Korridor ins Zimmer zurück. Puck, ihr Liebling, der ihr gerade in die Quere kam, bekam in der Eile einen Tritt, daß er sich aufheulend in eine sichere Ecke verkroch. Annemarie kümmerte es heute nicht. »Meine Schuhe sind sicher gestohlen worden, ein Patient wird sie mitgenommen haben« – jammerte sie. »Ich muß aber wirklich jetzt fort! Klaus geht auch schon.« Letzteres war allerdings ein Beweis dafür, daß die Schule bereits begonnen hatte.

»Annemiechen, hier sind se ja. Du hast se jestern bei mich in der Küche jelassen.« Hanne brachte Fräulein Liederlich, die gerade entwischen wollte, die vermißten Überschuhe hinterher. »Ich muß se aber noch'n bißchen sauber machen, se sind zu dreckrig.«

»Schadet nichts – ich muß zur Schule.« Annemarie war bereits in einem drin.

»Reg' dir nich so auf, Kind, du lernst doch noch mehr als jenuch. Renn dir auch nich so ab, Annemiechen, du rennst dir sonst die Schwindsucht an'n Hals – – –« Annemarie hörte die treue Hanne längst nicht mehr.

Die war bereits die Treppe hinab, hinaus aus dem Hause – pardauz – da flog sie die drei Stufen, die von der Haustür zur Straße hinabführten, hinunter, anstatt sie zu gehen. Fräulein Backfisch lag der Länge nach im tiefen Schnee. Gut, daß der wenigstens weich war. Annemarie hatte nicht mal Zeit, sich zu schämen. Denn Herr Thielen, Margots Vater, der mit einigen anderen Mietern beim Schneeschaufeln war, rief ihr zu: »Was, jetzt gehst du erst zur Schule, Annemarie? Meine Margot wird bald wieder nach Hause kommen.« Und Mäxchen Kulicke, der kleine Pflegesohn des Hausmeisters, eine echte Berliner Range, schmetterte sogar hinter ihr her:

»Fräulein Annemarie – Fräulein Annemarie,
Sie machen ja eine Rutschpartie.«

»Verflixter Bengel!« wütete Annemarie in sich hinein, während sie sich nicht mal Zeit nahm, den Schnee von den Sachen zu klopfen. »So ein Bengel – na warte man, mein Söhnchen, deine Dresche kriegst du ein andermal dafür.« Annemarie fühlte sich nämlich noch immer an der Erziehung des kleinen Mäxchens beteiligt. Hatte sie ihn doch als kleinen elternlosen Ostpreußensäugling vor Jahren in ihrem Puppenwagen beherbergt.

Nein, war das heute ulkig auf der Straße. Man konnte in dem tollen Schneegetriebe kaum die Augen aufhalten. Keine Elektrische fuhr, weil die Gleise alle verschneit waren. Die Schneeböschung längs des Fußsteiges war so hoch, daß Annemarie nur mit Mühe darüber hinwegsehen konnte. Ach, der alte Geheimrat von nebenan war ja auch beim Schneeschippen dabei. Und die junge Frau Assessor, der Student von Nummer neunzehn und der dicke Schlächtermeister, alles durcheinander. Doktor Brauns Nesthäkchen kannte die meisten von ihnen von ihrem Balkonaufenthalt im Sommer her.

Das Vorwärtskommen in dem hohen Schnee war nicht so einfach. Einen Schritt ging man, einen rutschte man. Und nun noch mit den hohen Überschuhen, die so unbequem und lästig waren. Sollte sie dieselben flink ausziehen und in die Mappe stecken? Annemarie überlegte. Nein, es ging nicht. Die Eltern verließen sich darauf, daß sie die Gummischuhe trug, es war unehrlich, wenn sie sie damit hinterging. Trotz mancher kleinen Fehler war Annemarie Braun ein durch und durch wahrheitsliebendes Mädchen. Den Schulbüchern und Heften würde es auch nicht gerade zur größeren Sauberkeit gereichen, wenn sie die nassen Gummischuhe dazu packte. Und überhaupt – zu spät kam sie ja auf alle Fälle. Wenn wenigstens noch in der ersten Stunde lateinisches Extemporale geschrieben worden wäre. Dann wäre ihr die Verspätung höchst angenehm gewesen. Aber die erste Stunde war Deutsch bei Fräulein Neubert, einer strengen und wenig beliebten Lehrerin.

Heiliges Kanonenrohr – dieser Kraftausdruck stammte natürlich von Klaus – die Schuluhr wies ja fast schon auf halb neun. Tiefe, beklemmende Stille auf den Treppen und in den Gängen. Aus den unteren Klassen des Lyzeums klangen die lauten plärrenden Stimmen der kleinen Abcschützen zusammen im Chor.

Dort hinter jener Tür, der ersten Klasse des Lyzeums, saß jetzt Margot Thielen. Ob die wohl ahnte, daß sich ihre Freundin Annemarie hier so scheu vorbeischlich?

Das Mädchengymnasium lag im anderen Flügel des ausgedehnten roten Backsteingebäudes. Herzklopfend stand Annemarie endlich vor der Tür, die ein Schild »Untersekunda« trug. Sie war zu schnell gelaufen – sicherlich – daher das dumme Herzklopfen. Denn Angst oder vielmehr »Bammel« vor Fräulein Neubert hatte sie doch nicht etwa! Ih, keine Spur!

»Nanu?« Fräulein Neubert richtete die Augen hinter den großen runden Hornbrillengläsern – »Eulenaugen« nannten sie die bösen Mädel, – auf den mit glühenden Wangen plötzlich austauchenden Backfisch. »Nanu?« sagte sie noch einmal und nichts weiter. Aber in diesem Schweigen lag eine sprechendere Strafpredigt, als wenn die Oberlehrerin eine lange Rede gehalten hätte.

»Ach, entschuldigen Sie, bitte, Fräulein Neubert,« begann Annemarie möglichst unbefangen, »es schneit nämlich draußen so sehr.«

»Ach nee!« machte die Lehrerin. »Hast du noch mehr solcher interessanten Neuigkeiten?«

Die Klasse, die sonst gern jeden Witz der Lehrer belachte, wagte es diesmal nicht. Die Eulengläser funkelten gar zu ärgerlich.

»Mein Vater und mein Bruder haben heute morgen Schnee geschippt,« begann Annemarie von neuem, »und – – –« sie kam nicht weiter.

»Möchtest du uns nicht verraten, was du damit zu tun gehabt hast? Sogar wenn du dich persönlich daran beteiligt hättest, verlange ich von einer Sekundanerin soviel Pflichtbewußtsein, daß sie die Schulstunde pünktlich innehält. Ich wünsche keine Entschuldigung mehr, Annemarie Braun – gehe auf deinen Platz.«

Annemarie machte ein höchst zufriedenes Gesicht, so leichten Kaufes davongekommen zu sein. »Gott sei's gepfiffen und getrommelt, daß sie mich nicht ins Klassenbuch eingeschrieben hat,« flüsterte sie der vor ihr sitzenden Ilse Hermann zu.

Es lag heute wie ein Druck auf der Untersekunda. Das lateinische Versetzungsextemporale, das in der nächsten Stunde drohte, warf bereits seine beängstigenden Schatten voraus. Selbst die muntere Annemarie wurde von dieser Stimmung gefangen genommen. Fräulein Neubert aber schien wenig Verständnis für die beklemmende Atmosphäre zu haben. Sie war heute durchaus unzufrieden mit der Aufmerksamkeit und Teilnahme am Unterricht. Beide Teile, sowohl der lehrende wie der lernende, atmeten befreit auf, als die Schulglocke laut den Stundenschluß verkündete.

Ach, für die Untersekunda war es nur eine Galgenfrist. Keine mochte ihr Frühstücksbrot, das sonst meist schon in der ersten Pause vertilgt wurde, in Angriff nehmen. Jeder war die Kehle vor angstvoller Erwartung wie zugeschnürt. Marlene und Ilse hatten den dunklen und blonden Kopf zusammengesteckt und lernten noch auf Mord die ganze Schulweisheit der lateinischen Grammatik auswendig. Vera Burkhard sagte mit in den Ohren gestopften Zeigefingern die Konjugationen der unregelmäßigen Verben auf. Marianne Davis aber schrieb bereits in das lateinische Heft mit ihrer schönsten Schrift: »6. Klassenarbeit« als Überschrift.

Annemarie Braun tat nicht mit. Ach was, jetzt lernte man doch nichts mehr. Wozu sich noch die Zwischenpause verderben! Aber auch sie war lange nicht so lebhaft wie sonst. Mit einer an ihr fremden Schweigsamkeit starrte sie in das dichte Flockengetriebe hinaus. Plötzlich aber rief sie mitten in die umherschwirrenden lateinischen Vokabeln, Verben und Deklinationen: »Kinder – Kinder, ich hab's! Ich hab' einen famosen Gedanken!«

»Was denn« – »sag' doch« – »so rede doch!« – – – Man umdrängte sie.

»Herwig wird sicher im Schnee stecken geblieben sein, er wohnt doch in Lichterfelde. Oder vielleicht ist er auch ausgerutscht, es ist mächtig glatt draußen. Himmlisch, wenn uns der Schnee vom Extemporale befreien würde!«

»Den Gefallen tut er Ihnen aber leider nicht,« klang da in das Geschwirr von hellen Mädchenstimmen eine heisere alte Männerstimme. In ihrer Aufregung hatten die Schülerinnen das Zeichen zur Stunde überhört. »Ihr menschenfreundlicher Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen, Braun. Weder ist die Bahn, noch ich selbst im Schnee stecken geblieben. Hä – hä – hä – hä!« – – – Der alte Herr lachte hüstelnd. »Und nun Extemporalehefte vor« – er schlug plötzlich einen anderen Ton an.

Die Hefte flogen auf die schwarzen Schultische – die Feder gezückt und die Ohren gespitzt. Jede glaubte, die Nachbarin müßte den lauten Schlag ihres Herzens vernehmen.

»Erster Satz: Ich hoffe, daß Karthago in Kürze besiegt sein wird,« begann Professor Herwig, zwischen den Bankreihen auf und ab schreitend, zu diktieren.

Frohlockende Mädchengesichter ringsum. Der Satz war nicht schwer, die Federn kritzelten.

»Heißen es victum?« vergewisserte sich Vera jedenfalls noch hinter dem vor den Mund gehaltenen Taschentuch bei ihrer Freundin Annemarie.

Diese nickte. Ach, wenn es doch weiter so leicht bliebe!

»Zweiter Satz: Als Cäsar den Rubikon überschritt, sprach er die denkwürdigen Worte: – – –«

»Es klopft!« – – – rief die Klasse.

»Es klopft?« – – – Der alte Herr blickte verständnislos über seinen Kneifer hinweg. »Nein, er sprach die denkwürdigen Worte: Der Würfel ist gefallen.«

»Es klopft, Herr Professor – an der Tür klopft es!« Keine Feder setzte sich in Bewegung. Alles blickte voll Erwartung nach der Tür, als müßte von dort die Erlösung kommen.

»Öffnen Sie,« gebot der Lehrer der Zunächstsitzenden.

Herein trat Schuldiener Piefke, die graue Schirmmütze in der Hand.

»Herr Professor, ich soll melden, daß die Klassen von Untertertia bis Obersekunda von zehn bis zwölf Uhr zum Schneeschippen antreten sollen, und daß – – –«

»Juchhu« – »Piefke soll leben« – »nein, der Schnee!« – – Alle Disziplin war gelöst. Die Mädels waren ganz aus dem Häuschen vor Seligkeit.

»Ruhe im Lande – man versteht ja sein eigenes Wort nicht. Was haben Sie uns sonst noch mitzuteilen, Piefke?«

»Daß die Schülerinnen jleich in den Hof runterkommen möchten.« Piefke lächelte verschmitzt. Er gönnte den jungen Dingern die Freiheit.

»Also dann müssen wir uns fügen – wenn auch schweren Herzens – hä – hä – hä – hä – hä!« So alt Professor Herwig war, er konnte der Jugend den Jubel nachfühlen. »Aber in der nächsten lateinischen Stunde wird weiter Extemporale geschrieben.«

»Ach, das ist ja noch so lange hin« – »erst nächsten Donnerstag« – »vielleicht schneit's dann noch immer.« Glückstrahlende Mädchenaugen – flinke Hände, die nicht schnell genug die gefürchteten Extemporalehefte zuschlagen konnten.

»Mäntel angezogen!« rief der bedächtige alte Herr der jungen Gesellschaft, die, wie sie da ging und stand, aus der Klasse stürmen wollte, nach.

Im Hof waren schon die anderen Klassen versammelt. Fräulein Hering und Fräulein Neubert verteilten Schaufeln und hölzerne Schneebesen.

»Ach, wenn doch mein geliebtes Heringchen mit uns gehen würde!« Annemarie hatte sich ihre Vorliebe für ihre allererste Lehrerin noch immer bewahrt.

Jede Schülerin erhielt eines der Geräte.

»Ihr sollt am Lützowplatz die Bahngleise freischaufeln – lauft doch nicht wie eine Herde Gänse durcheinander – in Riegen antreten!« kommandierte Fräulein Neubert.

»Ach, du meine Güte – die Neubert macht ja 'ne Turnstunde aus dem Schneeschippen. Wenn die sich an die Spitze unserer Kolonne setzt, dann ist das Vergnügen recht zweifelhaft,« murrte Annemarie ihrer Vera zu.

»Besserr – viel mehrr besserr als schrreiben das lateinische Arrbeit.«

»Da hast du ein wahres Wort gesprochen – also denn los, ganze Kompagnie!«

»Annemarie Braun, ich brauche euch, große Mädchen, wohl nicht erst darauf aufmerksam zu machen, daß ihr euch auf der Straße wohlerzogen und gesittet zu benehmen habt.«

Fräulein Neubert schritt neben der Untersekunda her, während Fräulein Hering die Aufsicht über die Tertia übernahm. So'n Pech!

Annemarie schnitt eine nicht gerade wohlerzogene Grimasse, die man aber in dem dichten Flockengewirbel zum Glück nicht wahrnehmen konnte.

»Wollen wir auskneifen, Vera? Ich glaube, bei dem Schneetreiben merkt es kein Mensch, wenn wir verduften,« schlug die unverbesserliche Annemarie vor.

»Au ja, das ganze Kränzchen!« – Ilse, die Annemaries Worte gehört, war gleich dabei.

»Nein, wir wollen doch helfen, den Verkehr aufrecht zu erhalten,« wandte Marlene verständig ein.

»Das können wir auch allein auf eigene Faust. Mit Fräulein Neubert zusammen macht es gar keinen Spaß.«

»Pst – Annemie – sie hört ja alles – sie hat sich schon nach dir umgedreht,« wisperte ihr Marianne zu.

»Ist mir wurscht ohne Fleischmarke. Heute hat sie mich sowieso noch vom Zuspätkommen auf den Strich.«

In den Straßen, welche die Untersekunda durchschritt, herrschte reges Leben. Allenthalben war man eifrig beim Fortschaffen des Schnees. Scherzworte erklangen, jubelnde Kinderstimmen, wenn der Rodelschlitten umkippte.

»Heute müßte man nach dem Grunewald rausfahren mit dem Rodelschlitten,« rief Ilse.

»Jawoll, mit Cäsar über den Rubikon müßten wir jetzt eigentlich im lateinischen Extemporale rodeln,« lachte Marianne ausgelassen.

»Annemarie sieht aus wie der Alte Fritz mit der weißen Zopfperrücke,« neckte Ilse.

»Und du wie Professor Herwig, bloß der Kneifer fehlt!« – – – Doktor Brauns Nesthäkchen blieb keine Antwort schuldig.

Inzwischen hatte man den Lützowplatz, das Feld der künftigen Tätigkeit, erreicht. Die Schülerinnen wurden verteilt.

»Wir bleiben beieinander!« Das Kränzchen scharte sich wie ein Volk Hühner zusammen. In der Tat gelang es ihnen, an derselben Ecke ihre Arbeit zugewiesen zu bekommen.

Lachend machten sich die jungen Straßenkehrerinnen ans Werk. Hei – da wurde einem bald warm, so scharf auch der Wind vom Kanal her blies. Die Augen blitzten, die Wangen glühten, und die jungen Arme arbeiteten mit Anspannung aller Muskeln. Das schaffte.

»Ilse, rück' mir nicht so auf die Pelle, sonst streichle ich dich am Ende mit meiner Schneeschaufel,« rief Annemarie durch das Schneegestöber.

»Annemarie, wo bist du? Ich nicht kann machen auf die Augens bei das Schneesturm,« hörte man Veras Stimme.

»Kinder, meine Hände sind ganz klamm!« Marianne hauchte ihre roten Finger an.

»Und meine Füße sind schon Eisbein mit Sauerkraut,« lachte Marlene.

»Hier, nimm meine Überschuhe, ich habe ganz warme Füße.« Nun war es doch gut, daß Annemarie den Wunsch der Mutter befolgt hatte.

»Nein – auf keinen Fall, dann erkältest du dich – – –«

»Quatsch keine Opern – Doktorblut hält warm!« Annemarie hatte bereits die Schuhe abgestreift und sie selbstlos der Kränzchenschwester hingesetzt.

Ein Weilchen hörte man nichts weiter als das Hacken der Schaufeln, das Schurren der Schneebesen und das Heulen des Windes. Das Bahngleis wäre unter den gemeinsamen Anstrengungen fast schon freigeschaufelt gewesen, wenn – ja, wenn nicht immer neue Schneeflocken aus schweren grauen Wolkensäcken herabgewirbelt wären.

»Kinder, das ist ja die reine Sisyphusarbeit!« Herzklopfend machte Marlene eine Pause. »Einen Felsblock den steilen Berg hinaufschleppen, ist dagegen Kinderspiel.«

»Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor!« zitierten die Mädels ihren Homer.

»Ich denke, wir machen mal eine kleine Pause. Arbeit macht zwar das Leben süß, aber die Baisertorte hier im Fenster beim Konditor würde es entschieden noch süßer machen. Wie sind eure Taschengeldverhältnisse?« Marianne, ein Naschkätzchen, schaute begehrlich auf die verlockende Torte hinter der Glasscheibe der großen Konditorei, vor der sie gerade schaufelten.

»Ist ja bloß Eierschaum-Schlagsahnenersatz« – machte Annemarie verächtlich.

»Hierr, du haben eine süßes weiße Baiser, da du können lecken.« Vera warf ausgelassen Marianne einen Schneeball an das halbgeöffnete Mäulchen.

»Na warte, du bekommst von mir sogar einen Eisbaiser.« Marianne erwiderte das Geschoß, die andern blieben natürlich auch nicht untätig dabei. Bald entwickelte sich eine lebhafte Schneeballschlacht unter den Kränzchenschwestern. Hüben und drüben sausten die Kugeln. Mit Lachen, Kreischen und Johlen wurden sie in Empfang genommen.

»Ja, was soll denn das heißen – schämt ihr euch nicht, euch so unerzogen zu betragen? Wer hat eben den Schneeball geworfen?« Aus dichtem Flockengeriesel tauchte ein Schneemann mit empörter Miene auf. Er entpuppte sich beim Näherkommen als Fräulein Neubert mit schiefgerutschtem Pelzbarett. Das Schneegeschoß war gegen dasselbe geflogen.

Die Mädchen in ihrer Ausgelassenheit kicherten verstohlen. Keine antwortete.

»Natürlich Annemarie Braun mitten darunter. Da kann ich mir schon denken, wer der Anstifter gewesen ist.«

»Wieso denn gerade ich?« Annemaries Gerechtigkeitsgefühl lehnte sich auf.

Der aufgebrachte Schneemann überhörte die Frage. »Ihr seid zum Schneeschippen beordert worden, und nicht, um hier Dummheiten zu treiben. Geht an die Arbeit und laßt euch nicht einfallen, euch wieder mit solchem kindischen Unfug zu befassen.« Das schiefgerutschte Pelzbarett nickte ärgerlich zu Fräulein Neuberts tadelnden Worten.

Vor seine Tür, unbemerkt von den jungen Mädchen, war der dicke Konditor getreten. Schlohweiß wie seine Umgebung stand er da und schaute sich das muntere Treiben vor seinem Laden schmunzelnd an. Auch die Strafpredigt der Lehrerin hatte er vernommen. Die frischen jungen Dinger, die eben noch so übermütig gejubelt hatten, und nun wie begossene Pudel die Köpfe senkten, taten dem guten Mann leid.

»Na, junge Fräuleinchens, weil ihr vor meinem Geschäft so schön den Schnee fortgekehrt habt, lade ich euch zu einer Tasse heißer Schokolade ein, damit ihr euch 'n bißchen inwendig aufwärmt.« Er hatte die Worte an Annemarie Braun gerichtet, um sie für den Tadel der Lehrerin zu trösten.

»Famos!« Das reizende Gesichtchen strahlte vor Begeisterung.

»Bringen Sie man noch zwei Freundinnen mit.« Der biedere Mann weidete sich an dem unverhohlenen Glück des Backfischchens.

»Ach, Herr Konditor, wir sind fünf Kränzchenschwestern hier. Bitte, bitte, erlauben Sie doch, daß die andern beiden auch mitkommen. Wir geben ihnen von unserer Schokolade was ab.« So freimütig klang's, und die blauen Vergißmeinnichtaugen schauten so bittend drein, daß der Konditor wohlwollend nickte.

»Aber jewiß doch, jewiß doch. Das Kränzchen muß beisammen bleiben. Immer rein in de jute Stube, meine Damens.«

»Du, Annemarie, aber was wird Fräulein Neubert dazu sagen! Wollen wir nicht erst um Erlaubnis bitten?« warf Marlene halblaut ein. Trotzdem die Schokolade sehr verlockend war, das Pflichtbewußtsein meldete sich.

»Ehrpusseliges Ding!« schalt Annemarie. »Das könnte uns fehlen. Die Neubert ist ja jetzt drüben auf der anderen Seite.«

»Und wenn sie uns Schokolade trinken sieht, wird sie höchstens neidisch,« meinte auch Marianne und leckte sich schon den Mund im Vorgefühl des kommenden Genusses.

Marlene wurde überstimmt. Sie folgte den Kränzchenschwestern in den Konditorladen. Aber ganz wollte sich ihr Gewissen nicht zum Schweigen bringen lassen. Die anderen nahmen inzwischen seelenvergnügt in dem Damensalon an dem kleinen Marmortischchen, das der Konditor ihnen anwies, Platz. Nicht lange dauerte es, da standen fünf Tassen duftende Schokolade vor den Backfischchen. Denn das brachte der freundliche Konditor doch nicht fertig, zwei von ihnen leer ausgehen zu lassen.

»So, nun laßt es euch schmecken, junge Herrschaften!« sagte er und stellte die große Baisertorte aus dem Fenster mitten aus den Tisch vor die fünf.

»Was – die soll auch für uns sein?« Annemarie riß die Augen noch weiter auf als sonst.

»Na, janz werdet ihr sie wohl nicht schaffen.« Der Konditor begann mit breitem Lachen die Torte in Stücke zu schneiden. »Das schmeckt nach der Anstrengung, was?«

Und ob es schmeckte! Der gute Mann brauchte wirklich nicht zu fragen. Das sah er den eifrig Schmausenden an, den schleckenden Mäulchen und den dankbaren jungen Augen. Selbst Marlenes Gewissen mußte solchen Herrlichkeiten gegenüber sich verkriechen.

Doch ach! – »Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil.« Es nahte das Verderben.

Keine der fröhlich Schmausenden hatte acht auf die Türschelle. Erst als eine weibliche Stimme draußen am Ladentisch ein Viertel Hustenbonbons verlangte, hoben sich jäh die Mädchenköpfe. Erschreckte Augen sahen sich an. Marlene blieb der Bissen im Halse stecken. O Gott – Fräulein Neubert in höchsteigener Person. Warum gab es denn keine Tarnkappe, um sich unsichtbar zu machen! Wenn das Verhängnis doch bloß an ihnen vorübergehen wollte!

Nein – Fräulein Neuberts Augen entging nichts, sie sahen alles, auch wenn sie nicht die Eulengläser trugen. Beim Verlassen des Ladens warfen sie durch die offene Tür einen Blick in den Nebenraum und – blieben starr an dem Marmortischchen der fünf haften.

Marlene hatte sich trotz ihres Schreckes höflich erhoben. Die anderen folgten herzklopfend ihrem Beispiel. Nur Doktor Brauns Nesthäkchen blieb ruhig sitzen und steckte das Näschen in die Schokoladentasse. Aber diese Vogel-Strauß-Politik half ihr wenig. Schon stand Fräulein Neubert vor den Erschreckten.

»Möchtet ihr mir vielleicht erklären, was das bedeuten soll, daß ihr, anstatt eure Pflicht zu erfüllen, hier heimlich euer Taschengeld vernascht?« begann sie mit gedämpfter, aber gewitterschwüler Stimme.

Keine Antwort. Jede dachte, die andere würde sprechen. Annemarie gab sich einen Ruck.

»Wir vernaschen nicht unser Taschengeld – wir sind eingeladen worden,« sagte sie so dreist wie möglich.

»Eingeladen – von wem?« Die Lehrerin schien ihren Worten nicht recht Glauben zu schenken.

»Von mir,« mischte sich der Konditor da plötzlich in das Verhör. »Was ich bin, Karl Aujust Hirsekorn, ich habe die jungen Damens mit Verlaub zu einem Täßchen Schokolade einjeladen, weil sie mir den Schnee so brav vor meiner Tür fortjeschaufelt haben. Und wenn das Fräulein vielleicht auch ein Täßchen genehmigen möchte, es soll mir nicht darauf ankommen.« Der weltkluge Mann glaubte auf diese Weise am schnellsten die Wogen des Zornes zu glätten, und seine jungen Freundinnen vor einer weiteren Standpauke zu bewahren.

Aber da kannte er Fräulein Neubert nicht. Die schüttelte hoheitsvoll das Haupt, auf dem die Pelzmütze noch immer schief thronte, und sprach mit gebieterischer Handbewegung: »Ihr verlaßt augenblicklich die Konditorei und begebt euch unverzüglich nach Hause. Alles andere wird sich morgen in der Schule finden.«

Das klang so unheilverkündend, daß Marlene sofort mit scheuem Gruß davonschlich. Ilse, ihr getreuer Schatten, natürlich hinterher. Vera und Marianne warfen schmerzliche Abschiedsblicke auf die noch recht umfangreiche Baisertorte. Nur Annemarie hatte so viel Geistesgegenwart, das halbe Stück Torte, das sie noch auf ihrem Teller hatte, trotz des flüssigen Eierschaums in der Manteltasche verschwinden zu lassen. Dann wandte sie sich höflich an den Konditor.

»Herr Hirsekorn, ich danke Ihnen noch vielmals, auch im Namen meiner Freundinnen, für Ihre feine Bewirtung.«

»Is jern jeschehen – recht jern jeschehen, Fräuleinchen. Und wenn 's morjen wieder schneit, könnt ihr euch wieder eine Tasse Schokolade mit Schippen verdienen!«

Ach, Doktors Nesthäkchen sowohl wie den Kränzchenschwestern sollte der Appetit aus Konditor Hirsekorns Schokolade gründlich vergehen.


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