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8. Kapitel. Zur Erntearbeit.

»Mädel, du bist ja eine junge Dame geworden in den vier Jahren, wo ich dich nicht gesehen habe. Eine richtige junge Dame. Aber die lustigen Blauaugen sind noch dieselben.« Onkel Heinrich packte sein hübsches Nichtchen mit derben Landmannsfäusten an beiden Ohren.

»Hoffentlich bist du kein Berliner Zierpüppchen geworden,« ließ sich Vetter Peter, der auf dem Bock des Jagdwagens thronte und die Zügel hielt, liebenswürdig vernehmen.

»Nee, Obersekundaner sind keine Zierpuppen.« Das konnte Annemarie mit gutem Gewissen behaupten.

Sie und ihr Gepäck wurden aufgeladen. Peter schnalzte und die Gäule zogen an.

»Du, Peter, laß mich kutschieren.« Annemarie war natürlich auf den Bock neben ihn geklettert.

»Kannst du nicht, das will alles gelernt sein. Latein ist nicht die Hauptsache im Leben.« Peter selbst hatte nämlich nicht viel mit Lernen im Sinn. Er wollte Landmann werden wie sein Vater und meinte, dazu brauche man nur praktisch tüchtig zu sein. Außerdem hegten die beiden Vettern Peter und Herbert die heimliche Besorgnis, daß aus dem netten Cousinchen ein verziertes Ding oder gar ein Blaustrumpf im Laufe der Jahre geworden sei. Denn so stellten sie sich alle Berliner Mädel, besonders Gymnasiastinnen, vor.

»Gib nur her, das ist doch ganz einfach!« Energisch nahm Annemarie dem nicht viel älteren Vetter die Zügel aus der Hand. Wirklich, es ging. Auf der schnurgeraden Pappelallee, die vom Bahnhof nach Gut Arnsdorf führte, lief der Wagen von ganz allein. Die Gäule kannten den Weg. Man brauchte gar nicht besonders aufzupassen. Die junge Wagenlenkerin hatte noch Zeit, den leuchtenden Mohn, der aus goldenen Halmen nickte, zu bewundern.

»Kostet bei uns in Berlin zwei Mark, ein ganz kleiner Strauß; darf ich nicht für Tante Käthchen einen pflücken?« Es wurde dem Großstadtkind schwer, an all der verlockenden Blumenpracht vorüberzufahren.

»Haben genug von dem Unkraut zu Hause, Mädel. Nur vorwärts!«

Felder, Wiesen, Buchenwald und darüber ein blauer Himmel, so strahlend, daß Annemaries blaue Augen ihn zurückstrahlten. Weit wurde dem Großstadtkind das Herz.

Der Dorfweiher – da wateten Barfüßchen. Am liebsten hätte das Backfischchen auch gleich Schuh und Strümpfe ausgezogen.

»Soll ich nicht lieber durch das Dorf fahren, Annemie?« Peter sah etwas mißtrauisch auf Annemaries kleine Fäuste.

»Nee, ausgeschließt! Im Dorf macht's gerade Spaß.« Das junge Mädchen wollte sich vor den Bewohnern, die mit Abendpfeifchen oder Strickstrumpf aus buntem Hausgärtchen die Gutsherrschaft grüßte, mit ihren neuen Künsten zeigen.

Zuerst ging auch alles tadellos. Wenn nur der liebe Gott keine Kühe erschaffen hätte. Die hatten mit einemmal die Unverfrorenheit, von der Weide heimkehrend, sich mitten auf der Dorfstraße aufzupflanzen. Aus ihren großen Glotzaugen sahen sie verächtlich auf das kutschierende Stadtdämchen.

»Zügel fester fassen – durch!« kommandierte Peter.

Was – mitten durch die Kuhherde sollte sie fahren? Nee, das konnte kein Mensch von ihr verlangen. Die Kühe kannten sie noch nicht, wie leicht konnte eine mit den großen Hörnern ihr in die Beine pieken.

Die Gäule fühlten die Unsicherheit des neuen Kutschers. Auch sie wurden unruhig, begannen sich zu bäumen und vor der Herde zu scheuen.

Die Kühe brüllten vor Schreck: lauter aber noch brüllte Doktors Nesthäkchen. »Onkel Heinrich – die Kühe fressen unsere Pferde auf!« Da hatte Peter schon in die Zügel gegriffen und mit Fachkenntnis die Braunen zum Stehen gebracht.

»Dämelsack – wie kann man bloß vor Kühen Angst haben!« Der galante Vetter sah noch verächtlicher drein als die Kühe.

Hinter ihnen aber erschallte dröhnendes Gelächter. »Bist ja ein Mordsmädel, daß du vor 'ner Kuhherde umwirfst.« Und mit Onkel Heinrich lachte der Herr Pastor, daß sein schwarzes Samtkäppchen in dem offenen Fenster des Predigerhauses auf und nieder wippte. Da lachten und tuschelten die Mädel, die an der Dorflinde die Köpfe zusammensteckten. Die Hühner gackerten und lachten. Das goldene Kreuz auf dem Kirchturm blitzte und lachte im Abendschein. Und sie selbst, die Abendsonne, grinste über das ganze breite Strahlengesicht und übergoß Annemarie mit Purpurröte.

So hielt Doktors Nesthäkchen seinen Einzug in Arnsdorf.

Als Tante Käthchen, Mutters Schwester, dann ihren jungen Gast so herzlich in die Arme schloß, und Annemarie feststellen konnte, daß sie nicht mehr kleiner war als die Tante, ward das kleine Mißgeschick schnell vergessen. Da stand Cousine Elli, und ihr allerliebstes Bübchen streckte Annemarie zum Willkomm die Ärmchen entgegen. Da war Herbert, der zwanzigjährige Vetter, der das kleine Cousinchen früher immer geneckt hatte.

»Junge, du hast ja inzwischen einen Schnurrbart gekriegt!«

»Deiner wächst auch noch, Annemie, wenn du nur erst Student bist.« Gleich zog er sie mit ihrer Gelehrsamkeit auf.

Da reichte ihr der alte August, der schon zu Lebzeiten von Onkel Heinrichs Vater auf dem Hofe gewesen, treuherzig die schwielige Hand, da klapperte Mine immer noch mit buntgeringelten Strümpfen in ihren Holzpantinen herum. Pluto war da, der große Neufundländer, vor dem Nesthäkchen einst den größten Respekt gehabt. Und Waldmann, Onkels Dackel, watschelnd und krummbeinig, von dessen Klugheit man Wunderdinge berichtete. Alles vertraut, und doch wieder neu und verwandelt.

Der Abendbrottisch auf der mit Kletterrosen umsponnenen Veranda erregte des Großstadtkindes helle Begeisterung.

»Haach – saure Milch! Die ist in Berlin während des Krieges ganz unmodern geworden. Und Schinken! Den kenne ich nur noch vom Erzählen her, wie aus einem Märchen. Soviel Schnitten könnt ihr essen? Kommt ihr denn da mit eurer Brotration aus?« Annemarie erregte die größte Heiterkeit mit ihren Fragen.

»Na, wie eine verhungerte Berlinerin siehst du nicht aus, Mädel.« Onkel Heinrich kniff sie in die rosigen Wangen.

»Weil ihr für uns und Großmama immer so feine Futterpakete schickt,« gab Annemarie lachend zurück.

»Damit wird es bald geschnappt haben, wenn wir erst polnisch sind,« warf Peter gemütlich kauend ein.

»Was – hier in Oberschlesien werdet ihr auch polnisch? Na, ich habe die Polen sehr gern. Die Mutter meiner besten Freundin war auch eine Polin. Veras Vater ist in der Karpathenschlacht gefallen und ihren Bruder hat sie seit Jahren nicht gesehen, der ist bei polnischen Verwandten.« Annemaries Mündchen schwabberte lustig drauf los, so daß sie gar nicht merkte, wie des Hausherrn blonde Augenbrauen sich zornig zu einem kleinen Borstenwald zusammengezogen. Daß Tante Käthchen dem unentwegt kauenden Peter vorwurfsvoll zuwinkte, und daß Elli und Herbert verlegene Gesichter machten.

Die Familienmitglieder vermieden es, von der bevorstehenden möglichen Besetzung des an der Grenze gelegenen Landstriches durch die Polen zu sprechen. Geriet der Vater doch jedesmal in helle Wut, daß deutsches Land in polnische Hände geraten sollte.

Annemarie in ihrer glücklichen Unbefangenheit merkte die schwüle Pause nicht, die eingetreten war.

»Beinahe hätte ich nicht kommen können,« plauderte sie munter. »Vorgestern wußte man noch nicht, ob die Eisenbahner nicht mehr streiken würden. Margot Thielen, das ist auch meine beste Freundin, war schon selig, daß ich zu Hause bleiben mußte. Ja, Kuchen! Jetzt sitze ich hier unter Ochsen und Gänsen – – –«

»Sehr schmeichelhaft, in welcher Gesellschaft du dich hier befindest.« Da war die Wolke von Onkel Heinrichs Stirn vor Annemaries unbefangener Fröhlichkeit zerstoben.

»Wir wollen dich hier schon rausfuttern, mein Mädchen. Unterernährt seid ihr alle in der Großstadt.« Tante Käthchen hatte ihre helle Freude an dem munteren Ding.

»Dazu bin ich nicht hergekommen, Tante Käthchen,« versicherte Annemarie. »Ich soll doch bei der Ernte helfen.«

»Hahaha.« Die Vettern lachten wie aus einem Munde.

»Da kommt so was aus Berlin, kann Virgil und Cicero übersetzen, aber nicht Gerste von Weizen unterscheiden, und will bei der Ernte helfen. Na, die muß gut werden!«

»Du brauchst dich gar nicht so aufzuspielen, Herbert.« Zwanzigjährige junge Herren imponierten dem Backfisch noch lange nicht. »Wollen es erst mal abwarten, wer mehr hilft, du oder ich.«

»Na, dazu gehört nicht viel, den Herbert auszustechen,« belustigte sich Elli an dem Wortstreit. Denn der Älteste, der jetzt nur auf Ferien zu Hause eine Gastrolle gab, war ein mächtiges Faultier und zeigte wenig Interesse für die Landwirtschaft. Darum wollte er auch später das Gut nicht übernehmen, sondern studierte Maschinenbaufach.

»Nimm dich nur vor Kühen in acht, wenn du bei der Ernte helfen willst, Annemie.« Peter kniff in infamer Weise das linke Auge zu. »Die sollen manchmal wild werden und stoßen.«

Vorläufig stieß Annemarie, und zwar knuffte sie heimlich unter dem Tisch den abscheulichen Vetter, ganz, als wenn sie es mit Klaus zu tun gehabt hätte.

Das Glas Milch, das Tante Käthchen ihr schon zum zweitenmal gefüllt, flog von der Erschütterung um.

O weh – war Tante Käthchen sehr böse? Sie drohte nur lächelnd: »Gut, daß wir eine Wachstuchdecke haben und kein Tischzeug.«

»Na, Hanne würde anders schimpfen, wenn ich die schöne Milch umgieße. Soviel kriegen wir alle zusammen nur jeden Übertag.« Annemie sah bedauernd auf den weißen See. Wenn sie den doch im Brief hätte nach Hause schicken können!

»Ich habe Annemarie zur Erntearbeit herbeordert,« ließ sich Onkel Heinrich, große Rauchwolken aus seiner Pfeife herausstoßend, vernehmen. »Morgen früh um vier geht's aufs Feld, verstanden?«

»Um vier schon?« Entsetzte Blauaugen starrten Onkel Heinrich an. »Da lohnt's ja gar nicht erst ins Bett zu gehen.«

»Du denkst wohl, hier wird dem gnädigen Fräulein die Schokolade um neun Uhr ans Bett gebracht?« zog sie Peter auf.

»Nee, das ist in Berlin auch nicht der Fall. Da muß ich um acht schon im Gymnasium sein. Und überhaupt, ich bin erst neulich um halb fünf aufgestanden, wie wir auf Hamsterfahrt gingen,« verteidigte sich das Backfischchen.

»Laßt mir das Kind in Ruhe, das soll sich hier erholen,« nahm sich Tante Käthchen ihres Nichtchens an. »Schlaf dich ruhig aus, Annemie, und wenn du später mir im Garten, beim Geflügel und in der Milchkammer helfen willst, werde ich mich freuen.«

»Ja, hilf nur im Haushalt, daß du kein Blaustrumpf wirst.« Der Peter war beinahe noch ekliger als der Klaus.

»Ein Kindermädel könnte ich auch für Bübchen gebrauchen,« begann nun auch Elli sich an den Neckereien zu beteiligen. Sie war kriegsgetraut, ihr Mann als Amtsrichter vor kurzem nach Kiel versetzt. Doch konnte er bei der Wohnungsknappheit, die überall herrschte, keine passende Wohnung finden. Darum war Elli mit ihrem Kleinen inzwischen bei den Eltern.

»Ach ja, das gefällt mir am besten, ich weiß schon, wie ich's mache, damit jeder was von meiner Hilfe hat. Morgens arbeite ich bei der Ernte: vormittags gehe ich Tante Käthchen zur Hand, und nachmittags kommt zur Belohnung Bübchen heran.«

»Das will ich mir auch ausgebeten haben, daß du mich jetzt nicht im Stich läßt, wo die Arbeiter so knapp sind, und man mit den polnischen ewig seinen Ärger hat.« Onkel machte ein möglichst ernstes Gesicht. »Wer essen will, muß auch arbeiten.«

»Also morgen früh um vier Uhr!« Annemarie gähnte verstohlen. Sie war reichlich müde von der Reise. »Habt ihr nicht eine Weckuhr?«

»Bei uns weckt der Hahn. Gute Nacht, Annemie.«

Nun stand Doktors Nesthäkchen oben am Fenster des netten Giebelstübchens und blickte über den Hof und die Scheunen, über die Wiesen, die sich in der matten Lichtflut des Mondes badeten, weit, weit hinaus. In langen Zügen atmete Annemarie die würzige Heuluft, die der Nachtwind hereinfächelte. Irgendwo blökte ein Kalb. Horch – die Nachtigall, zart und süß, Lange stand das Großstadtkind und lauschte dem Atem der Natur. War das ein Gottesfrieden hier!

Als der Gutsherr am andern Morgen bald nach vier Uhr aufs Feld hinausritt, warf er einen verschmitzten Blick zu den Fenstern des Giebelstübchens hinauf. Da waren die grünen Fensterläden noch fest geschlossen.

Zwei Stunden später begann auch Tante Käthchen ihren Rundgang durch den Geflügelhof, in die Kälberkinderstube und in den Obstgarten. Auch sie lugte zum Fremdenzimmer hinauf. War ja kein Wunder, daß das Mädelchen nach der langen Reise müde war.

Bübchen erschien um halb acht, frisch gewaschen und ausgeschlafen. Aber die neue Tante, die mit ihm spielen wollte, war noch nicht sichtbar.

Peter, der in aller Herrgottsfrühe schon mit dem Vater hinausgeritten war, trat mit wahrem Bärenhunger bereits zum zweiten Frühstück an, während Herbert gerade seinen Kaffee trank.

»Ist unser holdes Cousinchen noch nicht aus den Federn gekrochen?«

»Die schläft noch wie 'ne Ratze – macht mir selbst Konkurrenz an Faulheit.«

»Na, dann wollen wir sie mal ein bißchen aus dem Traumland in die Wirklichkeit zurückholen.« Peter begann kleine grüne Äpfel, die der Wind heruntergeschlagen hatte, zu sammeln und die grünen Fensterläden des Giebelstübchens geschickt zu bombardieren.

Drinnen fuhr Annemie erschreckt hoch. »Himmel – sie schießen!« Das war bestimmt eine Bombe. Die Fensterläden schlitterten ja nur so, und die Scheiben klirrten.

War denn wieder Revolution – Spartakistenunruhen?

Annemarie war ein beherztes Mädel. Mit beiden Beinen sprang sie zugleich aus dem Bett, um zu sehen, was denn eigentlich los sei.

Verschlafen blickte sie um sich in der fremden Umgebung.

Herrgott, sie war ja gar nicht in Berlin in ihrem Mädchenzimmer. Sie war ja auf Gut Arnsdorf. Sollten das am Ende die Polen sein, von denen gestern abend die Rede gewesen war, die den Gutshof beschossen? Annemarie wagte sich ein paar Schritte weiter zum Fenster hin.

Da aber sprang sie mit einem entsetzten Schrei zurück.

Die Fensterläden waren plötzlich aufgeflogen – »eine Bombe – eine Bombe!« Annemarie hielt sich ihre blutende Nase, gegen welche die Bombe gesaust war.

Unten hörte man lautes Lachen. Das war doch der Peter ...

Ein blonder Struwwelkopf mit angstvoll aufgerissenen Blauaugen und blutender Nase wurde einen Augenblick am Fenster des Giebelstübchens sichtbar. »Peter – Peterchen – sie schießen – die Polen bombardieren das Haus!« Zweistimmiges Gelächter übertönte jeden weiteren Hilferuf des Backfisches. Die Vettern hielten sich unten den Bauch vor Lachen.

»Laß dich nur nicht von den Polen totschießen, Annemie.« Das klang doch gar nicht so gefährlich, Annemarie nahm das furchtbare Geschoß, das ihre Nase verwundet hatte, näher in Augenschein: Ein harmloses grasgrünes Apfelchen war's.

»Verflixte Bengel!« Im Nu hatte es Annemarie jetzt erfaßt, daß die Vettern sie zum besten gehabt hatten. Na, wartet nur! Die Wasserkaraffe ergreifen und ihren Inhalt über die noch immer unten Lachenden in kaltem Strahl herabbrausen lassen, das war eins.

»Kleine Kröte!« Die beiden lachten jetzt nicht mehr. Wie begossene Pudel schlichen sie davon. Jetzt war es Annemarie, die hinter ihnen herlachte: »Für den Fall, daß die Polen das Gut anzünden, wollte ich gleich löschen.«

Die Sonne brannte bereits heiß auf den Gutshof, als ein allerliebstes Bauernmädel, im schwarzgeblümten Kleid und rosenroten Brusttuch am Frühstückstisch erschien. Vier Uhr war sicher schon längst vorbei. Aber daß es bereits auf zehn ging, ahnte Annemarie zum Glück nicht. Denn sie hatte in ihrer gestrigen Reisemüdigkeit vergessen, ihre Uhr aufzuziehen.

Herbert lag mit einem Buch in dem Liegestuhl unter dem Nußbaum. Er war inzwischen wieder getrocknet.

»Gesegnete Mahlzeit, Annemie,« begrüßte er sie. »Willst du wirklich noch Kaffee trinken? Wir essen gleich Mittagbrot.«

»Wie – was? Wie spät ist es denn?«

»Dreiviertel zwölf. Schade, daß die polnische Bombe dich aus deinem Dornröschenschlaf geweckt hat. Du wärst am Ende erst bei deiner Abreise wieder aufgewacht.«

»Dann hättet ihr ja auf eure Morgendusche verzichten müssen.« Annemarie ließ sich die fette Milch, goldgelbe Butter und Honig zu dem kräftigen Landbrot schmecken. Mit den Herren Vettern wollte sie's schon aufnehmen.

Etwas beschämend war es immerhin, daß sie als Stadtmädel so in den Tag hineingeschlafen hatte. Denn wenn auch Herbert sicher schwindelte, früh war es keineswegs mehr. Mittagsdunst begann bereits die Klarheit des Hochsommermorgens abzulösen.

Tante Käthchen in ihrem Wirtschaftsreich aufzustöbern, war nicht so einfach. Annemarie lugte in den warmen Kuhstall. Da brummte es satt und zufrieden, schlug mit der Schwanzquaste nach surrenden Fliegen und glotzte erstaunt auf das allerliebste Bauernmädel. Die Stalluft war nichts weniger als erquickend. »Komisch, daß die Leute immer behaupten, Kuhstalluft sei gesund,« dachte Annemarie, die Nase rümpfend. »Ich finde sie ähnlich, wie bei unserer Landpartie mit der Berliner Abfuhrgesellschaft.«

Tante Käthchen war jedenfalls nicht hier im Stall. Denn wenn die junge Großstädterin sich auch nicht allzu weit hineinwagte – solche Kuh war unzurechnungsfähig, die konnte plötzlich mit einem der vier Beine ausschlagen – so ließ sich der Stall auch vom Eingang her ziemlich übersehen. Hoffentlich brauchte sie hier nicht etwa beim Melken zu helfen – das überlebte sie nicht.

Auch nebenan in der Kälberkinderstube fand sich Tante Käthchen nicht. Hier gefiel es Annemarie schon besser. Die unbeholfenen Sprünge der weichen, zarten Tierchen machten ihr Spaß. Die Hofleute schienen alle auf dem Felde bei der Ernte zu sein. Nirgends ließ sich jemand blicken. Erst bei den Schafställen tauchte der grausträhnige Kopf des alten August auf.

Annemarie war ordentlich froh, ein menschliches Wesen wieder zu erblicken.

»Guten Morgen, August, haben Sie nicht meine Tante irgendwo gesehen?«

»Nu jo, jo, nee, nee – nu jo, jo, nee, nee,« begann August in seiner schönsten schlesischen Mundart. »De Frau mecht woll halt im Obstgarten stecken tun, und Bären klauben.«

»Bären haben Sie jetzt hier auf dem Gut?« Der jungen Berlinerin begann es ungemütlich zu werden.

»Nu halt die Johannisbären, die sein jetzt gerade reif.«

Annemarie biß sich auf die Lippen, um nicht laut loszuplatzen. Gut, daß die Vettern das nicht gehört hatten.

»Au, da muß ich dabei sein, Johannisbären esse ich für mein Leben gern.« Annemarie war noch rangenhaft genug, dem biederen Alten seine Bären nachzumachen.

»Nu, do gähen Se halt dortenum durch das Gittertürdl und dortenaus und denn mechten Se gleich do sein.« Bereitwillig wies der alte Mann ihr den Weg.

Annemarie ging dortenum und dortenaus durch das Gittertürdl, und dann war sie nicht gleich da, sondern stand statt im Obstgarten auf frischem Weideland. Meckernde Ziegen sprangen hier durcheinander.

Mitten in dem betrübten Mä–ä–äh–mä–ä–ä–äh, das so gar nicht zu den ausgelassenen Sprüngen paßte, jauchzte plötzlich ein Kinderstimmchen hell auf.

»Bübchen!« – das war der Kleine. Annemarie ging dem Jauchzen nach.

Am Waldrand saß Elli mit einer Handarbeit beschäftigt. Vor ihr versuchte Bübchen mit seinen kurzen, dicken Beinchen die gelenkigen Sprünge der Vierfüßler täppisch nachzuahmen. Elli hielt sich die Seiten vor Lachen. Und der Kleine jauchzte mit, weil die Mutter lachte. Da mischte sich glockenhelles Backfischlachen mit dem der zwei.

»Na, Annemie, hast du tatsächlich aus den Federn gefunden?« empfing sie die Cousine lustig. »So'n Kindermädel kann ich brauchen, das erst um zehn Uhr aufsteht.«

»Ach, Elli, ist es denn wirklich schon so spät?«

»Ja, warst du am Ende gar mit Vater heute früh auf dem Felde und bist schon wieder zurück?« Elli machte ein scheinheiliges Gesicht.

»Freilich, einen Weizenschlag habe ich bereits geschnitten,« ging Annemarie auf den Scherz ein.

»Nur schade, daß wir jetzt gerade bei der Roggenernte sind.« lachte sie Elli aus. »Wärst du eher gekommen, hätte ich der Mutter beim Safteinkochen helfen können.«

»Ich werde es statt deiner tun,« versprach Annemarie großartig. »Tante Käthchen muß doch wissen, daß ich überhaupt schon aufgestanden bin.« Schnell noch das jauchzende Bübchen ein paarmal auf dem grünen Samtteppich herumgekugelt, dann trabte Annemarie der Wirtschaftsküche zu. Im respektvollen Bogen um das Weideland; denn so viele durcheinanderspringende Ziegenbeine sind nicht gerade vertrauenerweckend.

An dem Riesenherd, der die Mitte der im Kellergeschoß gelegenen Küche einnahm, stand Tante Käthchen mit erhitztem Gesicht, das nicht weniger rot war, als der rote Saft, den sie im kupfernen Kessel rührte. Mamsell war mit Durchpressen der »Bären« beschäftigt.

»Morgen, Tante Käthchen. Kann ich helfen?«

»Freilich, mein Mädel, bist du auch ausgeschlafen?«

»Ach, Tante Käthchen, morgen werde ich euch schon beweisen, daß nur meine stehengebliebene Uhr an meinem späten Aufstehen schuld war.«

Annemarie kam geschäftig Tante Käthchens Weisung, das Seihtuch über ein breites, niedriges Holzfaß zu breiten, nach.

»Halte fest, Annemie, ganz fest halten!« Tante Käthchen und Mamsell ergriffen Schöpfkellen und begannen den purpurnen Beerensaft durch das Tuch durchlaufen zu lassen.

Das Tuch wurde heiß. Es wurde schwer und klebrig. Annemarie begannen die Arme zu erlahmen. Und noch war der Riesenkessel über die Hälfte voll. Immer mehr – immer mehr – endlos, ohne Pause rann der heiße, rote Saft durch das ausgebreitete Tuch. Annemarie ertappte sich bei der Überlegung, daß Virgil übersetzen noch lange nicht das schlimmste im Leben sei. Dabei wurden einem doch nur die Gedanken lahm und nicht die Arme.

Durch das offene Küchenfenster surrte eine große, schwarze Hummel herein. Mit lautem, tiefem Brummen umkreiste sie die neue Köchin; die hatte sie hier doch noch nie gesehen. Oder lockte sie etwa der süße, rote Saft an? Jedenfalls wurden die Kreise um Annemaries Blondkopf immer kleiner – »ein Ungetüm – ein schwarzes Ungetüm –« Annemarie ließ Saft Saft sein und fuhr mit der Hand gegen die rosige Wange, auf welche das schwarze Ungetüm gerade heimtückisch seinen Angriff unternommen.

Plumps – da lagen Tuch, Saft, Beeren und Kerne im trauten Beieinander im Faß.

»Aber Mädel, du solltest doch ganz fest halten. Nun ist die ganze Arbeit umsonst.« Tante Käthchen unterdrückte mit Mühe ihren Unmut.

»Schimpfe bloß nicht, Tante Käthchen, aber das schwarze Biest wollte mich bestimmt stechen.« Eigentlich war Annemarie ganz froh, daß sie auf diese Weise von der ermüdenden Arbeit loskam. Denn jetzt war es zum Glück zu spät, um noch mal von vorn zu beginnen. Vom Dorf her läutete es bereits Mittag. Es wurde in Arnsdorf pünktlich um zwölf Uhr gespeist.

In dem kühlen Eßzimmer mit den schweren Humpen rings an den Wänden auf dunkelgetäfeltem Holzgesims fanden sich die Familienmitglieder wieder zusammen.

Vater und Sohn brachten rechtschaffenen Hunger vom Felde mit heim.

»Guten Morgen, Annemie – na, ist dir der nächtliche Überfall der Polen gut bekommen?« erkundigte sich Peter mit besonderer Freundlichkeit

Ehe Annemarie noch den Hieb mit einer schlagfertigen Antwort parieren konnte, hatte der Hausherr wütend mit der Faust auf den Tisch geschlagen, daß der volle Suppenteller auf die Wachstuchdecke überschwippte.

»Bei den Mahlzeiten will ich wenigstens meine Ruhe haben. Den ganzen Vormittag muß man sich mit den polnischen Arbeitern herumärgern – tun jetzt schon, als ob sie die Herren hier auf dem Gut wären und verweigern allenthalben den Gehorsam – und kaum ißt man den ersten Löffel Suppe, geht's wieder mit den Polen los.« Annemarie hätte niemals gedacht, daß der nette Onkel Heinrich so böse werden könnte!

»Es war ja nur ein Scherz, Onkel Heinrich. Der Peter wollte mich doch nur necken,« nahm sie sich des Vetters an, trotzdem der das eigentlich nicht um sie verdient hatte.

Onkel Heinrichs helle Blauaugen blickten wieder freundlich auf den jungen Gast. Es kam ihm wohl erst jetzt zum Bewußtsein, daß er sich zu sehr durch unliebsame Gerüchte, die wieder im Dorfe über das Anrücken polnischer Truppen im Umlauf waren, hatte fortreißen lassen.

»Ja, siehst du, Kleines, wenn du mich mit der Ernte im Stich läßt, bin ich auf die Polacken angewiesen,« lenkte er ein.

»Ich kann ja vielleicht heute nachmittag zur Erntearbeit antreten,« schlug Annemarie vor. »Da bin ich wenigstens ganz sicher, daß ich nicht verschlafe.«

»Wer weiß auch,« äußerte Herbert seine Bedenken. »Hinten im Garten zwischen den Fichten ist die Hängematte angebracht, da kann man sehr schön bis zum Abend durchschlafen.«

»Ich will dir den Platz nicht streitig machen,« gab Annemarie lustig zurück.

Punkt drei Uhr stand Doktors Nesthäkchen, wie verabredet, am Hoftor, um den Onkel, der sein Mittagsschläfchen gemacht, zu erwarten. Auch Peter und Waldmann stellten sich ein.

»Hättest dir was auf den Kopf setzen sollen, Mädel, die Sonne meint es noch gut,« gab Onkel Heinrich zu bedenken.

»Hole dir doch einen Sonnenschirm herunter statt der Sense. Das wäre doch mal was Neues bei der Ernte.« Eigentlich wäre es netter gewesen, wenn Peter nicht mitgekommen wäre. Am Ende blamiert sie sich vor ihm.

»Ich möchte gern doll braun brennen. Wir haben alle sechs im Kränzchen gewettet, wer nach den Ferien am knusperigsten sein wird. Die an der See haben's ja leichter. Ich glaube, Margot Thielen, die zu Hause bleiben mußte, reibt sich jeden Tag das Gesicht mit Salzwasser ein und setzt sich dann auf den Balkon in die Prallsonne, um nicht zurückzustehen.«

Ein Karrenweg, blendend weiß in der grellen Mittagssonne, zog sich durch insektendurchsummte Wiesen. Purpurne Steinnelken, Glockenblumen, leuchtend blau, weiße Margueriten und goldener Löwenzahn blühten und glühten im Sonnenglanz. Das Stadtkind brachte es nicht über sich, daran vorüberzugehen. Es begann hier und da zu pflücken und die Blumen zum Strauß zu ordnen.

»Nennst du das vielleicht Erntearbeit? Die Heumahd ist schon vorbei,« zog sie der Vetter auf.

»Annemie, wenn wir in diesem Schneckentempo weiterkriechen,« Onkel wandte sich zu der Zurückbleibenden um, »sind wir morgen bestimmt an Ort und Stelle.« Da steckte Annemie schnell den bunten Strauß an ihr Mieder und eilte den beiden nach.

An der Fohlenkoppel vorüber, an üppigem, von kleinen Bächlein umrieseltem Weideland vorbei. Eine Herde Kühe lag hier faul und wiederkäuend im Grünen. Ihre Glocken klangen melodisch durcheinander. Unweit vom Wege stand ein prächtiges buntscheckiges Tier. Den Kopf gegen den leuchtenden Himmel gehoben, stieß es vor Lebensfreude lautes Gebrüll aus.

Doktors Nesthäkchen fuhr zusammen. »Ist das ein Stier?«

»Ja, aber er tut nichts, wenn er nicht gereizt wird. Ach Gott, du hast ja ein rotes Tuch um, Annemie; da wird er bestimmt wild.« Peter grinste vor Freude über den neuen Schabernack.

Aber Annemarie bemerkte das nicht in ihrer Aufregung. Die sah nur den Stier. Das Tuch abreißen, unter dem grünen Schürzchen verstecken und mit einem kühnen Satz den am Weg entlang plätschernden Bach überqueren, um die jenseitige Wiese zu gewinnen und dadurch der Wut des Stieres zu entgehen, war das Werk einer Sekunde.

Pardauz – die Beine waren nicht lang genug. Hochauf spritzte das Wasser. Doktors Nesthäkchen lag im Bach und konnte sich von der Hitze des Weges abkühlen.

Am mit Vergißmeinnicht besäumten Bachrand standen die beiden Herren und lachten – lachten – – –

»Annemie – der Stier – der Stier ist ja eine Kuh! Du bist vor einer Kuh ausgekniffen!« Peter johlte vor Vergnügen.

»Das kann ich doch nicht wissen, du Affenschwanz! Hilf mir lieber aus dem Wasser heraus, anstatt so zu blöken.« Kein Mensch konnte das Annemarie verdenken, daß sie aufgebracht war.

Eine triefende Wassernixe tauchte aus dem Silbernaß auf, mit kläglichen Augen, die ebenso blau waren, wie die Vergißmeinnicht am Bach.

»Stell' dich nur in die Prallsonne, Annemie. Wenn wir zurückkommen, holen wir dich hier wieder ab, bis dahin wirst du wohl trocken sein.« Ja, wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen.

»Nichts da – linksum kehrt, Mädel! Und schleunigst in trockene Sachen, daß es keinen Schnupfen gibt,« kommandierte Onkel Heinrich.

»Was – ich soll nicht mit zur Erntearbeit?« Annemarie war grenzenlos enttäuscht.

»Vogelscheuchen hat's schon genug im Roggenschlag.« Nein, so ungalant war der Klaus nicht mal wie der Peter!

Es half nichts, Annemarie mußte zurück.

»Soll ich dir vielleicht das Geleit geben und dich als Ritter ohne Furcht und Tadel vor Stieren und ähnlichen Bestien beschützen?« erkundigte sich der Jüngling noch mit tiefer Verbeugung.

Doktors Nesthäkchen würdigte ihn keiner Antwort mehr. Beschleunigten Schrittes, den Kopf zur entgegengesetzten Seite gewandt, schielte es beklommen zu den gemütlich wiederkäuenden Vierfüßlern hinüber.

Am Ende war doch ein Stier darunter!


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