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Achtzehntes Kapitel
Hänschen Tunichtguts letzter Pensionsstreich

Ein Jahr ist, trotzdem es stets die gleiche Anzahl von Wochen aufweist, bald lang, bald kurz. Hat man es vor sich, so erscheint es einem wie eine endlose Weite, die es zu durchmessen gilt; eine Wüste ohne Berg und Tal, ohne Baum und Wasser. Nimmt man aber den Wanderstab zur Hand, um die Wüste zu durchschreiten, so beginnt es am Wege zu grünen. Quellen murmeln. Berge schieben sich vor den Blick, müssen erklommen werden. Täler breiten sich zu friedlicher Rast. Bald durchfliegt man eine Strecke, bald kriecht man im Schneckentempo die Jahresstraße entlang. Und doch hat jeder Tag vierundzwanzig Stunden, jede Stunde sechzig Minuten. Nur du selbst gibst der Zeit ihr Tempo an.

Als Hänschen damals von Potsdam und dem Elternhause Abschied genommen, da lag das Pensionsjahr vor ihr, als sollte es nie zu Ende gehen. Grau und freudlos schien es sich ins Unermeßliche zu dehnen. Und heute? Wo waren die Tage, die Wochen und Monate geblieben?

Entrollt, dahingeglitten, einer nach dem andern. Und die letzten immer schneller, in immer rasenderem Tempo der Vollendung zujagend. Ein Winter, erfüllt von fleißigem Streben, von fröhlicher Jugendgemeinschaft. Wenn Hänschen auf die drei letzten Monate zurückblickte, so waren es nur wenige Marksteine, die herausragten aus dem Gleichmaß der Tage.

Da war ein Tag gewesen, an dem sie klopfenden Herzens in Agnetendorf die Türglocke an der Gerhart Hauptmannschen Villa gezogen hatte, um sich persönlich für die große Liebenswürdigkeit des berühmten Dichters zu bedanken. Wo sie, trotz aller sonstigen Keckheit, am liebsten davongelaufen wäre, als Schritte nahten. Und als das Mädchen dann, ihrer Weisung nach, mitteilte, daß der Herr für keinen zu sprechen wäre, da er bei der Arbeit sei, da hatte Hänschen ungeheure Erleichterung empfunden. Und gleich darauf eine noch größere Enttäuschung, denn der Besuch bei Gerhart Hauptmann war seit Tagen die Sensation von ganz Waldheim. Sämtliche Pensionsschwestern hatten Hänschen das Geleit nach Agnetendorf gegeben. Drunten im Wirtshaus warteten sie voller Aufregung, ob sie eingelassen würde in das Dichterheiligtum oder ob man ihr die Tür vor der Vase zuschlug. Mieke war sogar bis zum vorletzten Bauernhause mit ihrer Intima gegangen. Im Schutze eines Misthaufens harrte sie der Entwicklung der Dinge.

Und nun sollte sie so leichten Kaufes den vielbesprochenen Besuch aufgeben? Nein, sie mußte alles daran setzen, sich den Einlaß zu erzwingen.

»Bitte, sagen Sie Herrn Hauptmann, das Hannele wäre da, um sich zu bedanken,« versuchte sie noch einmal ihr Heil.

Und wirklich, der Name öffnete ihr wie eine Zauberwurzel die verschlossene Tür.

»Das Hannele darf herein,« hörte Hänschen drin jemand sagen, und dann stand sie in einem Arbeitszimmer mit schrecklich viel Büchern, sah den scharf geschnittenen Goethekopf, den sie seit Weihnachten so oft gezeichnet und als Silhouette ausgeschnitten hatte, wieder und hörte eine aufmunternde Stimme: »Nur näher, Hannele, wie geht's dem Nashorn?«

Da wich der Druck, den Hänschen kaum jemals vorher empfunden, von ihrer Brust. Sie vermochte hell in das Lachen des Dichters einzustimmen, und dieses Lachen verwandelte das scheue Pensionsgänschen wieder in das kecke Zigeunermädel, das damals das Gefallen des berühmten Mannes erregt hatte. Als Hänschen nach einer munter durchschwatzten Viertelstunde, ein Stück Schokolade im Mund, wieder draußen stand, war das erste, was sie tat, daß sie die kostbare Schokolade ausspuckte und, trotz brauner Flecke, sorgsam in ihr Taschentuch wickelte, zum Wahrzeichen, daß sie wirklich eingelassen worden war. Und außerdem – Gerhart Hauptmannsche Schokolade futtert man nicht auf, die verwahrt man sich zum ewigen Angedenken.

Ja, das war der eine große Tag in diesem Brückenberger Pensionswinter gewesen. Dann gab es einen, der das Waldheim noch mehr auf den Kopf gestellt hatte als der Besuch in Agnetendorf. Wo man Tannengirlanden gewunden hatte und Polterabendgedichte gelernt. Wo Mutter Liebig drunten in der Küche kochte, briet und buk, daß Mullerchen die schwarze Nase platzte und sämtliche Hunde der Nachbarschaft schnuppernd um das Waldheim strichen. Wo Vater Liebig den »gutten« schwarzen Rock, den er vom Herrn Huhn selig geerbt hatte, vorholte und mit weißen Baumwollhandschuhen die Schüsseln präsentierte. Wo die kleine Clemence mit seligem Aufleuchten ihrer haselnußbraunen Augen Hänschen an den Hals gesprungen war: »Oh, 'änsken, jetzt ick 'aben ein neues Mutti aussi

Ja, Clemence hatte wieder eine Mutti. Fräulein Trudel, die stets gütige, hilfsbereite, hatte eingewilligt, die Frau von Monsieur Lecoq zu werden und seinem Kinde eine Mutter.

Da gab es ein Polterabendfestspiel, »Im Hühnerstall« betitelt, zu dem Hänschen die Idee und die silhouettenartigen Hühner und Hahnköpfe gestiftet hatte, die über eine gespannte Leinwand herübernickten und die Ereignisse des Hühnerstalls humoristisch besangen oder vielmehr in die Welt hinaus krähten. Reime konnte Hänschen nicht zusammenschmieden, diese Gabe war ihr, trotz ihrer Freundschaft mit Gerhart Hauptmann, versagt. Aber sie sorgte dafür, daß die Verse, welche die andern verfaßten, stets mit dem Refrain »Kickeriki« schlossen.

»Kinder, hört die Märe an,
Fräulein Huhn wird heut Frau Hahn,
In der Wirtschaft ein Genie,
Fräulein Trudel – kickeriki.«

Sehr geistvoll waren die Verse gerade nicht, aber sie erfüllten vollständig ihren Zweck und lösten allgemeine Heiterkeit aus. Noch lange nach dem Hochzeitstage hörte man das Kickeriki-Lied zu allen Tageszeiten von sämtlichen Zöglingen durch den Hühnerstall klingen:

»Schmiert die Kehlen wie noch nie:
Hoch das Brautpaar – kickeriki.«

Und dann war alles wieder wie vorher.

Ruhige Tage waren dem Hochzeitstrubel gefolgt. Drüben im Liebig-Häusel hatte die Hahnfamilie das obere Stockwerk bezogen. Frau Trudel schaltete nach wie vor im Waldheim. Monsieur echauffierte sich genau so wie früher über die barbarenhafte französische Aussprache der Zöglinge. Besonders »Jeanne« war sein Schmerzenskind. Wenn Hänschen Französisch sprach, machte Monsieur ein Gesicht, als ob er Ohrenreißen habe, und stieß dazu ein qualvolles »Oh – oh!« aus. Das Monokel aber hatte seine Frau ihm zur Freude der Mädel abgewöhnt.

Noch einen Tag gab es im Winter, an den Hänschen oft und gern zurückdachte. Ein Tag wie alle andern, äußerlich gar nicht von seinen Nachbarn unterschieden. Und doch, eine tiefe, innere Befriedigung hatte er Hänschen gebracht. Da hatte Marga, die scheue, brummige Marga, Hänschen einen Kuß gegeben und sie gebeten, ihr eine Freundin zu sein, wenn sie auch ein Scheusal wäre, wie sie es selbst am besten wisse. Und Hänschen hatte dies auch ehrlich bestätigt, aber gleich hinzugefügt, sie werde sich schon Mühe geben, Marga den Brummteufel auszutreiben. Das hatte Hänschen auch redlich getan. Ihrem Koboldübermut war es gelungen, den jugendlichen Frohsinn, der in jedem jungen Menschen liegt, bei Marga zu wecken. Auch Mieke mit ihrem warmen Herzen hatte das ihrige dazu beigetragen, Marga liebenswürdiger und zutraulicher zu machen.

Und nun sollte das alles vorüber sein? Alles! Morgen schrieb man den 1. April. Morgen war ihr Pensionsjahr in Waldheim abgelaufen. Morgen ging es heim. Warum vermochte sie sich gar nicht darauf zu freuen?

Hänschen starrte auf ihren bereits gepackten Koffer. Da standen noch zwei daneben, einer nach Breslau, einer nach Dresden. Das ganze Jahr über hatten sie gute Nachbarschaft in dem Stübchen gehalten, die drei Koffer. Nun wurden sie nach verschiedenen Himmelsrichtungen versandt wie ihre Besitzerinnen. Hänschen legte den Kopf in die Hände, und durch ihre Finger rieselte es naß.

Schwere Tritte ließen Hänschen aus ihrem Abschiedsschmerz emporfahren. Vater Liebig – der heute schon das Gepäck zur Bahn beförderte. Denn morgen mit dem Frühesten ging es fort.

»Nu machen Se asu ooch fort, Fräul'n Hannele. Nu äben, – äben, 's gäht halt alles amal zu Ende. Erscht weenen se, wenn se und se kummen, und denn weenen se, wenn se und se gähen. Jojo – nunä – su ist halt das Läben.« Nach dieser philosophischen Betrachtung, wobei Vater Liebig mitleidig auf das sonst stets kreuzfidele Hänschen blickte, nahm er mit einem energischen Ruck Hänschens Koffer auf die Schulter.

Drunten aber meinte der brave Alte zu der Pensionsmutter: »Fräul'n Klärchen, wenn und Se mechten halt mal nach dem Hannele sähen, 's tutt halt oben sitzen und weenen, 's Mädel. Jo jo, nee nee.«

Hänschen fühlte eine zärtliche Hand über ihre Locken streichen. Ohne daß sie den Kopf hob, wußte sie, wessen Hand das nur sein konnte.

»Tante Klärchen, warum gibst du mich fort, warum behältst du mich nicht hier?« Das war ein ebenso tiefer Schmerzensausbruch, wie ihn das Backfischchen vor einem Jahr beim Abschied vom Vater gezeigt hatte. Und doch nicht so ungestüm wie damals, gemäßigter.

»Weil du zu deinen Eltern gehörst, mein Herzchen. Weil sie jetzt, nach der langen Trennung, ein Anrecht auf ihre große Tochter haben. Deine Mutter ist leidend, Hänschen. Dein heiteres Temperament wird Sonnenschein für sie sein. Meinst du, es wird mir leicht, mein Pflegekind fortzugeben?«

Hänschen schlang den Arm um die Gütige.

»Geliebte Pensionsklucke,« – diese Anrede wurde nur in ganz zärtlichen Stunden gebraucht – »du sollst sehen, wenn dein Küken aus dem Hühnerstall raus ist, wird es wieder ein Hänschen Tunichtgut,« klagte sie leise.

»Das will ich nicht hoffen, Hänschen,« meinte Fräulein Huhn lächelnd. »Dann hätte ich ja recht wenig Erfolg zu verzeichnen. Wenn du mich lieb hast, so wirst du draußen im Leben zeigen, daß es kein Hänschen Tunichtgut mehr gibt. Sieh, Kind, dir ist dein Lebensweg so klar vorgezeichnet wie selten einem jungen Menschenkind. Dein schönes Talent führt dich zur Kunst. Du hast als einzige Tochter Pflichten daheim. Ein reiches Leben liegt vor dir. Ich hoffe, du wirst mir keine Enttäuschung bereiten, mein Mädel, gelt?«

Das junge Mädchen schüttelte stumm den Kopf.

»Hänschen – Hänschen – hat tich ter Erdpoten verschlugt? Die Miege und ich, wir kähen jetzt Apschiet von Prüggenperch nähmen. Härste tenn karnich, wir kähen ohne tich!« erschallte Kätchens Stimme von unten.

»Lauf, mein Mädel, nimm Abschied von all den dir lieb gewordenen Orten und Menschen. Und wenn es dir da draußen im Leben mal zu wild hergeht, im Waldheim findest du immer ein stilles Plätzchen zum Verschnaufen. Hier wirst du stets mit offenen Armen empfangen.« Noch einmal zog Tante Klärchen Hänschen an ihr Herz.

Gedankenvoll blickte sie der Davoneilenden nach. Merkwürdig, es waren doch schon so viele junge Mädchen im Laufe der Jahre gekommen und gegangen. Alle hatte sie mütterlich an ihr Herz genommen, allen war Waldheim ein Wegweiser für die Lebensreise geworden. Aber so war ihr noch nie eins ans Herz gewachsen wie das warmherzige, ungebärdige Ding, dessen Erziehung schwerer gewesen als die aller anderen. Mag sich der Most auch noch so wild gebärden, es gibt zuletzt doch noch 'nen Wein! dachte Fräulein Huhn mit stillem Lächeln.

Inzwischen war Hänschen Arm in Arm mit Mieke, Kätchen und Marga, die zwar noch in Waldheim blieb, aber Hänschen heute wie ihr Schatten folgte, die Dorfstraße hinuntergeschlendert.

Da war Sanssouci, wo die Eltern im vorigen Sommer gewohnt. Dort stand die Waschfrau im Hausflur über der dampfenden Seifenlauge. Den Kaufmann kannte man, wo man sich heimlich Lackritzenstangen, Bonbons und saure Gurken gekauft – allen wurde ein Lebewohl zugenickt.

»Nu adfes ooch, adfes ooch, läben Se ooch wohl, lassen Se sich's gutt gähen, beähren Se mich wieder,« so klang es hinter den Abschiednehmenden her.

Das Milchhäusel – die Konditorei – – – »au, Kinder, ich hab' eine famose Idee. Heute muß ich noch einmal Hänschen Tunichtgut sein. Später darf ich es nicht mehr, ich habe es unserer süßen Henne versprochen und – ein Mann, ein Wort!« rief Hänschen lebhaft.

»Fees Knebbchen, tu gannst so pleipen, Hänschen. Ei höre, du spannst einen ja kratezu uff de Wolder, fas haste tenn fieter Pesonteres auskegnopelt?« Kätchen brannte vor Neugierde.

»Schieß los!« Auch die andern spitzten die Ohren.

»Also hört und – schweigt!« Hänschen machte ein höchst geheimnisvolles Gesicht. »Heute feiern wir in unserm Zimmer noch ein Nachtfest – ein Abschiedsfest, wenn alles schläft. Wir kaufen jetzt in der Konditorei Torte – – –«

»O jemersch, und wär pezohlt's?« fragte Kätchen ängstlich.

»Tu nicht alleene, prauchst keene Angst nicht zu haben, tu Keizgroken. Alle schmeißen wir unsere Moneten zusammen. Was nicht als Reisegeld gebraucht wird, legen wir in Torten an. Das soll heute noch ein quietschfideler Abend werden!« Das war wieder ganz Hänschen Tunichtgut, welcher die übermütige Freude an dem heimlichen Streich aus den dunklen Augen blitzte.

»Die Miß schläft dicht neben uns, sie wird uns hören und verpetzen,« gab Mieke zu bedenken.

»Das laßt meine Sorge sein. Die Miß ist furchtsam wie ein Hase. Es soll mir nicht darauf ankommen, ihr als Mitternachtsgespenst zu erscheinen.«

Es war gut, daß Vater Liebig bereits das Geld für die Fahrkarten eingehändigt bekommen hatte. Wer weiß, ob die drei sonst nach Hause gekommen wären. Wenigstens Hänschen sicher nicht. Kätchen und Mieke hatten beim Torteneinkauf noch vorsorglich einen Reserveschatz zurückbehalten. Erstere aus Sparsamkeit, letztere aus Überlegung. Hänschen aber kaufte munter drauflos, bis nur noch ein einsamer Groschen in ihrem Geldtäschchen zurückgeblieben. Wozu brauchte sie Geld? Reiseproviant gab man ihnen mit, und daheim wurde sie auf dem Bahnhof erwartet.

Kuchenbeladen stieg man zur Kirche Wang empor, um noch einmal den Blick über die Bergkette, über das Brückenberger Tal schweifen zu lassen. Wolken jagten sich um die verdämmernden Gipfel. Aber jetzt wurde für einen Augenblick die Koppe frei.

»Die Schneegobbe krießt uns noch zum lätzten Mole,« rief Kätchen.

Mieke nahm den Abschiedsblick schweigend in sich auf. Hänschen aber begann mit lauter Stimme zu deklamieren:

»Lebt wohl, ihr Berge,
Ihr geliebten Triften,
Ihr traulich stillen Täler, lebet wohl!
Johanna kann nun nicht mehr auf euch weiden,
Johanna sagt euch ewig Lebewohl.«

Die Rührung übermannte sie, denn es war doch gerade so, als ob Schiller das eigens auf sie gedichtet hätte.

»Ei, tenn feite nur feider, tu Schaf, mer gähen jetzt heeme – – –« Kätchen zerriß prosaisch die poetische Stimmung.

Der letzte Abend im Waldheim! Hänschen hatte ihn sich eigentlich viel trübseliger vorgestellt. Er war so heiter und gemütlich wie alle andern Abende, nur daß die Pensionsklucke ihre Küchel früher als sonst ins Bett jagte, da sie morgen vor Tau und Tag aufstehen mußten.

Tiefe Stille herrschte alsbald im ganzen Hause. Die Uhr drunten in der Diele schlug elf. Da begann es sich allenthalben zu regen. Mitternächtiger Spuk, der sich um eine Stunde verfrüht hatte. Weiße, gespenstische Gestalten entstiegen kichernd den Betten, schlichen sich auf geisterhaft leichten Sohlen alle zu demselben Zimmer. Im bläulichen Mondschein hockten sie dort, die weißen Gestalten, Torten futternd. Gedämpftes Lachen und Flüstern, bis schließlich Hänschen als Übermütigste das Kickeriki-Lied von der Hahnschen Hochzeit anstimmte, denn das gehörte zum Abschiedsfest im Hühnerstall.

»Stst – – die Miß wacht auf – nicht doch so laut!« dämpfte Mieke den ausgelassenen Chor.

»Ach was, der Pinscher schnarcht die Begleitung dazu, der schläft wie ein Murmeltier.« – – – Nur um so lauter und ausgelassener klang das Kickeriki-Lied. Als es aber mit kraftvollem »Kickeriki« schloß, hatte Hänschen doch den Murmeltierschlaf der Miß überschätzt.

Miß Pinshes rieb sich die Augen. Krähte da nicht schon der Hahn? Es war noch ganz dunkel. Die Miß legte sich beruhigt wieder auf die andere Seite.

Plötzlich fuhr sie wieder empor. Hatte es da nicht eben laut gelacht? Aus dem Nebenzimmer schien es zu kommen, jetzt helles Quieken – – – kerzengerade richtete sich die Miß empor und lauschte mit angehaltenem Atem ...

Kein Zweifel, nebenan war etwas nicht geheuer. Unerhört, daß die girls noch nicht schliefen, wo sie morgen in aller Frühe abreisen mußten. Sicher war Hänschen Tunichtgut wieder mal daran schuld.

Die Miß liebte ihr warmes Bett sehr. Auch war sie durchaus keine Heldin. Nächtliche Korridore waren ihr unheimlich. Trotzdem hielt sie es für ihre Pflicht, aufzustehen und nach dem Rechten zu sehen.

Den schwarzweißkarierten Morgenrock übergeworfen, öffnete sie die Tür und schlürfte hinaus. Huh – wie dunkel.

Die Tür war so einsichtsvoll gewesen, zu knarren.

»Die Miß – die Miß kommt – in die Betten!« In höchster Aufregung kommandierte es Hänschen.

»Oh jemersch, jetzt käht's uns an ten Graken!«

Zu vieren, zu fünfen sprangen sie in die Betten, sich stoßend, überpurzelnd und unter den Federbetten vergrabend. Hänschen aber hatte einen Besen ergriffen, der bereits für einen derartigen Überfall, mit einem weißen Bettlaken angetan, bereitstand. Denselben hoch über ihr Haupt haltend, erwartete sie im Schutze des herabfließenden Lakens als Riesengespenst die arme Miß.

Die klopfte mit spitzem Knöchel an die Tür. Keine Antwort. Alles schien fest zu schlafen. Hänschen schnarchte sogar unter ihrem Laken.

Leise öffnete die Miß die Tür, um ihrer Pflicht voll zu genügen. Da stand es im bleichen Mondlicht riesengroß, weiß gespenstisch – – – einen schrillen Schrei stieß die Miß hervor und jagte in ihr Zimmer zurück.

Drunten in der Diele schlug es Mitternacht.

Die Geister aber, die übermütigen, kamen prustend aus den Betten herausgekrabbelt, bejubelten Hänschen Tunichtguts letzten Streich im Hühnerstall und machten pflichtgetreu der Torte den Garaus. Dann huschten auch sie wieder ins Nest.

Ohne Vater Liebig hätten die drei jungen Reisenden unbedingt die Abfahrt des Zuges verschlafen. Aber Vater Liebig ruhte nicht, der bumberte unausgesetzt gegen die Tür: »Nu stähen Se ooch uff – 's ist halt allerheechste Zeit. Nu seien ooch gebäten, nu seien Se ooch so gutt und wachen Se uff – 's gäht doch nu mal nischte anderscher. Nu jojo – nänä – da mecht man doch sprechen, de Jugend, wenn und se schläft, da is reene nischte nich zu machen.« Aber schließlich gelang es Vater Liebigs Faust doch, die Verschlafenen aus dem totenähnlichen Schlummer zu reißen. Den Bemühungen von sämtlichen Hühnern, nebst Mutter Liebig, gelang es ferner, die Saumseligen, mit Reiseproviant versehen, noch im letzten Augenblick in den Zug zu schieben. Nicht einmal einen Abschiedskuß konnte Hänschen mehr ihrer geliebten Pensionsklucke geben. Der Zug pfiff – und wäre Hänschen nicht noch so verschlafen gewesen, hätte sie deutlich Rübezahls Lachen aus dem schrillen Tü – ü – ü – üü der Lokomotive vernommen. Ohne Abschied mußte Hänschen Tunichtgut aus Rübezahls Reich.

*

Potsdam sieht heute merkwürdig lustig drein. Die alte Heilige-Geist-Kirche trägt ihre grünliche Patinamütze keck wie ein junger Bursch. Die Nikolaikirche erscheint mit ihrer runden Kuppel wohlbeleibt wie ein Bierphilister. Und das Glockenspiel der Garnisonkirche schmettert wie eine Lerche ihr Lied in die blaue Frühlingsluft. Und nun erst all die Häuser aus der Zopfzeit und aus dem Rokoko. Der warme Regen, der über Nacht herniedergegangen, hat sie blitzblank gewaschen. Die steinernen Putten, die ihre Fassaden schmücken, lachen pauspäckig hernieder. Die Havel, die schwarzgrau und träge während des Winters dahingeschlichen, springt in übermütigen kleinen Wellen und wetteifert an Bläue mit dem Frühlingshimmel. Was es in den Vorgärten der Häuser, im Lustgarten und in Sanssouci nur an Magnolien, Mandelbäumchen, Pfirsich- und Aprikosenspalieren gibt, hat sich heute rosenrot herausgeputzt und steht im funkelnagelneuen Frühlingskleid.

Ist das alles nur zu Ehren des ersten Aprils, der heute seinen Einzug gehalten?

Ih wo! Die Spatzen, die von den Dächern lärmen und schreien, wissen es besser.

Keiner achtet auf ihr Gepiepse. Nur die Frau Regierungsrat Wallenberg, die am Arm ihres Gatten mit erwartungsvollen Augen, gefolgt von einem weißen Pudel, dem Bahnhof zuschreitet, versteht ihre Sprache: »Unser Hänschen kommt heute heim! Ihr zu Ehren hat Potsdam sich geschmückt.«

Den schwarzen Schienenstrang entlang fliegt das Mutterauge dem heimkehrenden Kinde entgegen. Bis irgendwo, ganz hinten am Horizont, ein winziges Dampfwölkchen aufkommt, anschwillt, größer und grösser wird und schließlich als schwarzer Rauchwald die Halle erfüllt. Und aus diesem Rauchwald klingt es jubelnd: »Mutti – mein Muttichen!« – Irgend etwas fliegt, unter wildem Freudengeheul des sich wie toll gebärdenden Köters, an den Hals der Wartenden, erdrückt die zarte Frau fast mit ihren Liebkosungen, schmiegt sich fest an die Brust des Vaters und umarmt schließlich mit jubelndem »Mein Pittewittewitt, geliebtes Hundeviech, haben wir uns endlich wieder!« zum Gaudium der Umstehenden den blaffenden Pitt.

Von der Garnisonkirche singt es mit eherner Stimme: »Lobe den Herrn, meine Seele.« Ein großes Glücksgefühl durchflutet Hänschen: Wieder daheim!

Die Steinputten an den Häusern reißen die runden Augen, soweit sie nur können, auf – ist das nicht Hänschen Tunichtgut, die da zwischen den Eltern springt, hopst, schwatzt und lacht? Hinter blankgeputzten Fensterscheiben werden Köpfe sichtbar: Nanu – ist das nicht ... Nein, ist das Mädel in dem Jahr gewachsen, sie ist ja fast so groß wie der Vater. Und ein Rattenschwänzchen mit grosser, breiter Nackenschleife trägt sie jetzt. Aber sonst – man rümpft die Nase – sonst scheint sie in der Pension nicht viel Anstand gelernt zu haben. So auffallend benimmt man sich doch nicht hier auf der Straße.

Schon pfeifen es die Spatzen von den Dächern in Potsdam: »Hänschen Tunichtgut ist wieder da!«


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