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Dreizehntes Kapitel
Besserung

Sonne und Sturm kämpften einen erbitterten Kampf am Ostermorgen. Immer neue Wolkentruppen sandte der Sturm gegen die Sonne ins Feld. Von allen Seiten zogen sie schwarz und geschwollen auf und versuchten, ihre Feindin mit ihren dicken Tüchern zu verdunkeln. Aber die Ostersonne spottete ihrer. Hohn lachte sie ihrer über das ganze Gesicht. Sie schien so frühlingsmäßig, so feiertäglich golden, daß die griesgrämigen grauschwarzen Wolkenburschen vor ihr schleunigst Reißaus nahmen. Daß ein Backfischchen, das mit übernächtigtem Gesicht und besorgten Augen dem Kampf zugeschaut, ebenfalls heller in den Festtagmorgen blickte.

»Es kann ja noch alles gut werden,« flüsterte Mieke Jeserich und krampfte die Hände ineinander.

Die Gartentür knarrte in der Angel. Mieke stürzte, wie sie ging und stand, in Unterrock und Frisierjacke, zur Galerie, da das Zimmerfenster nach der andern Seite herausging. Grenzenlos enttäuscht blickte sie auf den Ankömmling. Irgendein Förster – ein blonder Riese – begleitet von einem krummbeinigen Dackel, nichts von der Hanna! Wahrscheinlich hatte Fräulein Trudel Wild als Feiertagsbraten bestellt. Ach, und sie hatte so bestimmt gehofft, daß Hanna heute morgen wieder zurückkommen würde.

Inzwischen hatte der Förster sich bei Fräulein Huhn melden lassen. Er mußte wohl schon weit herkommen. Seine hohen Schaftstiefel waren bis obenhin vom Straßenschlamm bespritzt. Meta sah denn auch recht ungnädig auf die schwarzen Spuren, die seine großen Füße hinterließen. Ihre sauber gescheuerten Dielen!

Fräulein Huhn saß trotz der frühen Morgenstunde schon an ihrem Schreibtisch. Eine Mitteilung an die Polizei, eine an die Ortszeitung. Und nun das Allerschwerste: Das Telegramm an die Eltern. Dreimal hatte Fräulein Huhn es bereits aufgesetzt – dreimal wieder zerrissen. Jedesmal schien ihr die Abfassung zu brutal. Und wenn sie noch so schonende Worte gebrauchte, der Inhalt war es, nicht die Form, welcher die Ärmsten wie ein Keulenschlag zu Boden strecken mußte. Das einzige Kind! Hatte sie das ihr anvertraute Kleinod schlecht verwahrt? Nein – Fräulein Huhn konnte sich nicht die Schuld an dem Verschwinden Hannas beimessen. Wie oft hatte sie die Strafe »auf dem Zimmer essen« über diese oder jene verhängt. Ohne daß es der Betreffenden eingefallen wäre, gleich auf und davon zu gehen. Das Ungebärdige in Hanna, das sie bereits in dieser einen Woche zu zügeln geglaubt hatte, war jäh wieder emporgebrochen. Das verzogene Kind hatte nur nach seinem plötzlichen Impuls gehandelt, ohne Überlegung, ohne jede Rücksicht.

Fräulein Huhn stieß einen zentnerschweren Seufzer aus und machte sich daran, zum viertenmal ihr Telegramm aufzusetzen.

Oder sollte sie sich telephonisch mit Potsdam verbinden lassen? Dann hatte sie sogleich die sehnlichst erwartete Rückantwort, ob Hanna im Elternhause eingetroffen sei. Nein – sie würde nicht die Kraft finden, den Eltern das Furchtbare zu sagen – kein Wort würde sie herausbringen – – –

»Herr Ferster Dietrich aus Hain mecht' Fräulein Huhn sprechen,« meldete Meta.

»Lassen Sie ihn eintreten.« Fräulein Huhns Herz begann plötzlich im Sechsachteltakt zu hämmern.

Was wollte der Mann? Sie kannte ihn, den Förster aus Hain. Man machte öfters im Sommer Spaziergänge zu dem idyllisch gelegenen Forsthaus, labte sich an der guten Milch und den Butterschnitten der jungen Frau Förster und freute sich mit den Blondköpfen, die wie die Orgelpfeifen umhersprangen. Brachte er ihr eine Kunde? Dann war sie nicht gut – sonst hätte ihn die Vermißte gleich begleitet. Fräulein Huhn preßte die Hände auf das klopfende Herz, das ihr fast die Brust zersprengen wollte.

Schwere Tritte nahten, »Gutten Morgen, Fräulein Huhn, ein gesägnetes Osterfest!« Der blonde Riese sah mitleidig auf das sorgenumschattete Gesicht der Dame. Nicht einmal den Ostergruß vermochte sie zurückzugeben. In banger Frage hingen ihre Augen an seinem Mund.

»Ich bring' Ihnen halt Nachricht von Ihrem verirrten Küchel – – – «

»Lebt sie?« Kaum vermochten die bebenden Lippen die Frage zu formen.

»Nu freilich – aber nu freilich, Fräulein Huhn, nu rägen Se sich auch bloß nicht so auf. Sie läbt, das kleine Fräulein. Der Kleinert Karle hat's halt beim Unwetter im Walde aufgespürt und mit heimgenommen. Aber weil's bei den Kleinert-Leuten nicht so recht kommod ist für solch junges Fräulein, hab' ich's in mein Fremdenstübl mit 'nübertransportiert. Nu ja, 's war auch gutt, denn es hat hohes Fieber, das Mädel – – –«

»Fieber hat sie, die Hanna?« Fräulein Huhn, die nichts weiter hatte hervorbringen können, als »mein Gott und Vater, ich danke dir!« – die kein Wort weiter begriffen hatte, als daß die ihr Anvertraute lebe, fuhr jäh empor.

»Nu ja – nu freilich, der Doktor hat gestern abend und auch heute früh schon nach ihr gesehen. Eine Lungenentzündung hat's halt, das Mädel, doppelseitig. Sie phantasiert Ihnen von Rübezahl und allem möglichen Zeug kunterbunt durcheinander. Meine Frau spricht, ganz angst macht einem dabei werden. Der Doktor wollt halt eine Krankenschwester schicken. Und die Eltern möcht man benachrichtigen, meint er. Von wegen leben und sterben.«

Ganz still saß Fräulein Huhn. Als sei sie aus Stein gemeißelt. Kaum sah man, daß sie atmete. Hatte der Himmel ihr inbrünstiges Flehen erhört und ihr das anvertraute Kind zurückgegeben, nur um es ihr aufs neue zu nehmen? Nein – nein – das durfte nicht sein! Sie wollte um das kostbare Gut kämpfen, sie selbst, sie mußte es dem Tode abringen. Gewaltsam riß sie all ihre Energie zusammen.

»Ich danke Ihnen vielmals, Herr Förster, daß Sie sich meines Zöglings so menschenfreundlich angenommen haben. Und auch für die rasche Benachrichtigung heute am Festtag. Mutter Liebig soll Ihnen heißen Kaffee und Osterkuchen geben. Inzwischen werde ich hier alles erledigen. Ich lasse anspannen und fahre mit Ihnen mit nach Hain. Eine Schwester brauchen wir nicht. Ich pflege mein Pensionskind selbst. Hoffentlich wieder ganz gesund. Sie werden schon noch einen kleinen Raum im Forsthause für mich übrig haben, Herr Dietrich, gelt? Mühe und Kosten sollen Ihnen nicht durch uns erwachsen.«

»Nu aber, Fräulein Huhn – nu natierlich haben wir Platz, die Stuben, wo die Sommergäste wohnen, stehen ja leer. Freilich heizbar sind sie nicht. Aber die Sonne meint's ja schon gutt.« Der Förster folgte Fräulein Huhn in das untere Stockwerk, wo er mit dampfendem Kaffee und Osterkuchen bewirtet wurde, während Waldmann mit Mullerchen Freundschaft schloß.

Mit Windeseile hatte sich die Freudenkunde verbreitet, daß Hanna Wallenberg aufgefunden worden sei. Von Pensionszimmer zu Zimmer eilte sie schnellfüßig, die Nachricht, immer merkwürdigere Gewandung annehmend. Hier erzählte man, daß ein Holzhauer sie ohnmächtig im Chausseegraben gefunden, dort, daß ein Förster sie auf der Jagd angeschossen habe.

Kätchen Kugelmann verkündete sogar, daß die Hanna vom »Plitz kedrowwen« worden sei, trotzdem gar kein Gewitter gewesen war.

Mieke nahm an all diesen aufgeregten Debatten keinen Anteil. Ein inbrünstiges, stummes Dankgebet hatte sie zu dem emporgeschickt, der die Hanna in seinen Schutz genommen hatte. Nun wich der entsetzliche Druck, der ihr die Brust einengte, nun konnte sie jedem wieder frei ins Auge sehen. Hatte sie sich doch ganz allein die Schuld an Hannas Fortlaufen zugeschrieben. Ihr »Verrat« hatte die Freundin in Nacht und Tod getrieben.

Und nun lebte sie! O Gott, war es denn zu fassen! Die Sonne schien plötzlich noch einmal so golden. Die Wolken haschten sich geradezu übermütig. Und selbst der Sturm, der noch immer ums Haus pfiff, war der lustigste Frühlingswind, der je vom Gebirgskamm heruntergejagt kam.

Dann freilich wurde die allgemeine Freude erheblich gedämpft, als Fräulein Gretl erzählte, daß die Hanna an einer Lungenentzündung, die sie sich bei dem bösen Wetter zugezogen habe, schwer erkrankt in Hain daniederliege. Daß Fräulein Trudel bereits die Reisetasche für die Schwester packe, da Fräulein Huhn zur Pflege mit nach Hain übersiedele.

Was – heute am Osterfest wollte Fräulein Huhn fort? Nein, das war unmöglich! Wo man so viele Überraschungen geplant hatte! Ostereiersuchen nach Musik und nach Zitaten. Einen Hasenreigen, seit Wochen einstudiert. Ja, sogar eine allerliebste kleine Aufführung, die Margot verfaßt hatte. Und das sollte alles umsonst sein? Denn ohne Fräulein Huhn machte es gar keinen Spaß. Die Pensionsmutter war nun mal die Seele des Ganzen. Ordentlich böse waren die Mädel der Hanna, jetzt, wo man die Gewißheit hatte, daß sie lebte, daß dieselbe so rücksichtslos war, ihnen am Osterfest ihre Pensionsmutter zu entziehen. Wenn sie sich durch Unvernunft die Suppe eingebrockt hatte, dann mochte sie dieselbe auch allein auslöffeln. Und nicht ihnen, die unschuldig an der ganzen Aufregung waren, noch obendrein das Ostervergnügen zerstören. So murrten die meisten.

Mieke Jeserich beteiligte sich auch hieran nicht. Still für sich packte sie Nachthemd, Morgenschuhe und Toilettenzeug sorgsam in ihre Reisetasche.

»Herrjemersch – tu backst ja teine Siepensachen, willste edfa auch ausgneiwen wie Hänschen Dunichtkud?« verwunderte sich Kätchen.

»Ich habe dich schon mal gebeten, Käte, den Spottnamen, der das ganze Unheil angerichtet hat, nicht mehr zu gebrauchen,« sagte Mieke mit so eindringlichem Ernst, daß selbst Kätchens loses Mäulchen verstummte. »Ich begleite Fräulein Huhn, ich werde Hanna pflegen helfen.«

»Tu pekleidest Fräulein Huhn?« Kätchen blieb der Mund vor Staunen offen. »First tu denn ieperhaupt midkenommen?«

Die Frage war durchaus nicht so unberechtigt. Denn als Mieke mit ihrer Reisetasche und ihren Samariterabsichten anrückte, schüttelte die Vorsteherin, die noch tausenderlei für die Zeit ihres Fernseins anzuordnen und zu besprechen hatte, höchst energisch den Kopf.

»Nein, Kind, du meinst es gewiß gut. Aber du bist völlig überflüssig dort, ja, sogar störend. Hanna braucht unbedingte Ruhe. Für etwaige Handreichungen und Hilfeleistungen steht mir die Frau Förster Dietrich gewiß gern zur Seite. Später, wenn Hanna – was Gott geben möge! – erst auf dem Wege der Besserung ist, darfst du sie besuchen und ihr die Zeit vertreiben helfen.«

Dabei blieb es. Mieke mußte mit ihrer Enttäuschung und ihrer sorgsam gepackten Reisetasche wieder abziehen. Fräulein Huhn bestieg mit dem Förster Dietrich den inzwischen von Vater Liebig mit den »gutten Pfärdel« bespannten »Rumpelkäfig«. Diesen stolzen Namen hatten die Mädel dem alten Landauer beigelegt, der schon in der Knabenzeit von Fräulein Huhns Großvater eine Rolle gespielt hatte. Unter den wärmsten Wünschen der Zurückbleibenden für eine baldige Genesung und glückliche Wiederkehr, mit einem umfangreichen Kober, den Fräulein Trudel und Mutter Liebig mit allem Guten, was Waldheim in Küche und Keller aufzuweisen hatte, zur Pflege vollgestopft hatten, auf dem Kutscherbock, so daß für Vater Liebig kaum noch Platz blieb, so ratterte der »Rumpelkäfig« davon. Von Kirche Wang klangen gerade die Osterglocken herüber. Fräulein Huhn empfand es als ein gutes Omen.

Zu gleicher Zeit flog nach Potsdam auf elektrischem Draht die inhaltsschwere Kunde: »Hanna an Lungenentzündung erkrankt.« Die schlimme Kunde, die ein Mutterherz in Verzweiflung setzte, um so mehr, als Frau Regierungsrat selbst an der Grippe daniederlag und nicht daran denken durfte, zu ihrem kranken Kinde zu eilen.

Hänschen Tunichtgut wußte nichts von all der Aufregung, all den bösen Folgen, die ihr unbedachtes Fortlaufen verursacht hatte. Die lag mit siedeheißem Kopf, mit flackernden Augen und fliegendem Atem in den blütenweißen Kissen der Frau Förster. Die wußte nichts davon, daß ihre Pensionsmutter, der sie so schweres Leid zugefügt hatte, Tag und Nacht an ihrem Lager wachte. Daß am zweiten Osterfeiertag der Vater sich sorgenerfüllt über sein Kind neigte, das ihn nicht erkannte. Sollte ihnen auch noch das letzte, das ihnen geblieben, entrissen werden? Hätte er nicht darauf bestehen sollen, Hanna aus dem Hause zu geben? Ihr ungezügeltes Wesen, das ein Pensionsjahr notwendig erscheinen ließ, trug allein die Schuld an ihrer Erkrankung. Und dennoch, wenn das Kind ihm erhalten blieb, wenn Hanna wieder gesund wurde, dann wollte er ihren Wunsch erfüllen und sie wieder heimholen. Das gelobte sich der Regierungsrat, als er, nicht leichteren Herzens als er gekommen, wieder Abschied nehmen mußte von der Schwerkranken. Würde er sein Kind wiedersehen?

Eins wenigstens konnte er seiner armen Frau, die mit allen ihren Gedanken bei ihrem Hänschen weilte, zur Beruhigung sagen: Eine bessere, aufopferungsvollere Pflege, als sie Hanna von ihrer Pensionsmutter zuteil wurde, konnte ihr auch die eigene Mutter nicht angedeihen lassen. Ein tüchtiger, vertrauenerweckender Arzt, eine verständige, liebevolle Pflegerin – was geschehen konnte, dem beutegierigen Knochenmann sein Opfer zu entreißen, das geschah sicher. Dessen konnten die Eltern gewiß sein.

Es schien, als ob der Unerbittliche, der bereits seine knochige Hand nach der zarten Mädchenknospe ausstreckte, aller ärztlichen Kunst, aller aufopfernden Pflege nicht weichen wollte. Immer ernster wurde die Miene des behandelnden Arztes. Immer umflorter die sonst so klaren Augen der treuen Pflegerin, wenn sie Mieke Jeserich, die beinahe täglich den weiten Weg nach Hain herüberkam, um endlich, endlich ein Hoffnungsfünkchen zu erhaschen, die erschreckende Höhe der Fiebertemperatur mitteilen mußte. Dann kehrte Mieke Jeserich mit tiefgesenktem Kopf wieder zurück und sah es gar nicht, daß an allen Ecken und Enden bereits der Frühling geschäftig am Werk war. So hoffnungsfreudig, im schärfsten Gegensatz zudem jungen Menschenkind, das die schwere Last des immer besorgter klingenden Krankheitsberichtes mit sich heimschleppte.

Die Blondköpfe im Forsthause wagten schon längst nicht mehr, zu Hause zu toben und zu lärmen. Gleich morgens wurden sie von der Mutter nach der Goldenen Aussicht, einem beliebten Ausflugslokal, das den Eltern der Frau Förster gehörte, gesandt. Der Förster dämpfte seinen schweren Tritt, sobald er sich dem Umkreis seines Hauses näherte. Selbst seine drei Hunde, Blitz, Schnupp und Waldmann, merkten, daß sie ihr lebhaftes Temperament jetzt im Forsthause zu zügeln hätten. Nur Waldmann, der jugendliche Dackel, kläffte öfters in Hänschens Fieberträume hinein. Dann begann die Schwerkranke mit matter Stimme in ihrem Bett zu singen:

»Mein Pittewittewitt, mein Hundetier,
Ach, komm doch her und tanz' mit mir,
Meine Pittewittewitt, mein Pittewittewitt,
Das freut den Pitt gar sehr.«

Fräulein Huhn kamen die Tränen in die Augen, wenn sie das arme, dünne Stimmchen der Todkranken so sehnsüchtig singen hörte. Ach, noch so manches hatte die Kranke ihr in ihren Fieberträumen verraten. Nicht nur, daß es Rübezahl in höchsteigener Person gewesen sei, der ihr in Gestalt eines Holzhackers im Wald begegnet sei. Der Herr der Berge spielte überhaupt eine wichtige Rolle in Hänschens Fieberträumen. Himmelhoch bat sie ihn, sie nicht in eine Baumwurzel zu verwandeln. Sie wieder auf die Erde hinauf zu lassen. Sie wolle auch nie wieder Hänschen Tunichtgut sein, sondern stets brav ihre Pflicht tun und auch keine Spottbilder mehr malen. Dann ergriff sie angstgepeitscht die Hand ihrer Pflegerin: »Mutti – Muttichen, hilf mir, rette mich vor Rübezahl!«

»Ruhig, Hanna – ruhig, mein Herzchen! Ich bin ja bei dir.« Fräulein Huhns Stimme übte stets eine besänftigende Wirkung auf das erregte Mädchen aus.

»Warum sagst du Hanna zu mir, Mutti – bin ich nicht mehr dein Hänschen?«

Da nannte Fräulein Huhn sie zärtlich mit dem Kosenamen der Mutter und legte ihr mütterlich die kühlen Finger auf die heiße Stirn.

Dann wieder klang es klagend: »Ich will nicht fortlaufen aus Waldheim. Ich will dableiben. Weißt du, Mutti, ich habe Fräulein Huhn lieb.« Scheu-zärtlich, ganz leise flüsterte es Hänschen.

»Fräulein Huhn hat dich auch lieb, mein Herzchen.« Den ganzen Reichtum ihres liebereichen Herzens legte die Pensionsmutter in diese Worte.

»Das weißt du doch gar nicht, Mutti. Sie will mich ja nicht mehr sehen. Und die Mädels nennen mich Hänschen Tunichtgut. Mieke hat es ihnen verraten. Nein, ich will doch nicht mehr im Waldheim bleiben.«

»Keiner darf dich so nennen, mein Liebling.« Ja, jetzt wurde der Pensionsvorsteherin so manches klar.

Dann kam eine Nacht, in der sich das kranke Mädchen ganz besonders unruhig in den Kissen hin und her warf. Wirres Zeug, untermischt mit Jammerlauten, stießen die trockenen Lippen aus. In den Lüften heulte und ächzte es. War es der Sturm – war es Rübezahl, der sein Bergreich durchflog? Oder war es der schwarze Würgeengel, der immer engere und engere Kreise um sein Opfer zog?

Als der junge Tag rosenbekränzt von den Bergen ins Tal hinabstieg, hatte der Sturm ausgetobt. Auch drinnen im Forsthause, wo Tod und Leben miteinander rangen, war der Sturm der bösen Krankheit gebrochen. Bleich, aber mit klaren Augen, lag die Kranke in den Kissen. Die Genesung bringende Krisis, die Wendung zur Besserung, hatte in der Morgenfrühe eingesetzt. Zum erstenmal erkannte Hanna ihre treue Pflegerin.

Wieder wurde der Telegraphendraht in Bewegung gesetzt.

Nach Potsdam flog das eine jubelnde, glückauslösende Wort: »Gerettet«.

Und nun ging es vorwärts. Langsam zwar, sehr langsam. Für Hänschens wiedererwachende Lebensgeister, die nur das Allegro der Jugend kannten, viel zu wenig bemerkbar. Wochen vergingen noch, bis sie wieder ins Waldheim übersiedeln durfte.

Aber es waren herrliche Wochen. Sie brachten »Tante Klärchen« – so nannte Hänschen seit ihrer Krankheit ihre aufopfernde Pensionsmutter – und ihr Pflegekind innerlich so nahe, daß Hänschen auch manchmal wieder wünschte, die Wochen, in denen sie ihre Tante Klärchen ganz für sich allein hatte, mögen nie ein Ende nehmen. Da fiel manch gutes Samenkorn in das durch den Pflug der Dankbarkeit gelockerte Erdreich von Hänschen Tunichtguts Seele. Und es war eine hohe Genugtuung für Fräulein Huhn, als Hänschen eines Tages zärtlich die Arme um ihren Hals schlang: »Tante Klärchen, ich will werden wie du. Hilf mir dabei.«

Wie gern wollte die Gütige das junge Reis stützen, bis es erstarkt war in dem Willen zum Guten und Schönen. Denn daß Hänschen noch öfters der stützenden Hand bedürfen würde, um bei ihrem impulsiven Temperament auf dem schwierigen Wege nicht zu straucheln und bequemere Seitenpfade einzuschlagen, das war der Erfahrenen klar, Aber der feste Wille zur Besserung war vorhanden. Das war schon viel – sehr viel.

Auch geistig förderte Fräulein Huhn in diesen Genesungswochen ihren Pflegling. Da wurde manches Loch in Hänschens Bildung zugestopft. Und was noch wichtiger war, die selbst so hochgebildete Dame verstand es, die Freude am Lernen Hänschen beizubringen.

Durch das weit geöffnete Fenster spähte der junge Lenz in das Giebelzimmer des Forsthauses. Kosend und lind strich er über die Stirn des bleichen Mädchens. In den Buchen, die mit ihren zartgrünen Zweigen an das Fensterglas klopften, gaben die Vögel für Hänschen allein ihr schönstes Frühlingskonzert. Da kam die blonde Frau Förster mit frischgemolkener Milch und eben gelegten Eiern, da steckten die Försterkinder, nicht mehr scheu, sondern schon ganz vertraut, die Blondköpfe zur Tür hinein. Waldveilchen, Anemonen, Weidenkätzchen und Tausendschönchen trugen sie ihr ans Bett – der ganze Wald kam zu Besuch zu dem kranken Hänschen.

Aber auch lebende Blumen erschienen täglich, die das Waldheim entsandte. Für die Zöglinge wurde es eine besondere Belohnung, wer die kranke Hanna besuchen durfte. Denn mehr als drei wurden nicht zugelassen.

Nur Mieke Jeserich machte eine Ausnahme. Die hatte jederzeit Zutritt auf Hänschens ganz besondere Bitte. Die Fehde, welche die Freundinnen entzweit, hatte beim ersten Wiedersehen ein stummer, aber vielsagender Kuß vergessen gemacht. Das Schönste und Beste schleppte Mieke ihrer Hanna an das Krankenbett. Sie sparte sich die Leckerbissen ab, um sie der Freundin mitbringen zu können. Bücher und Spiele wanderten ins Forsthaus, das Waldheim wetteiferte darin, der kranken Pensionsschwester die schwere Zeit des Bettliegens zu erleichtern. Aus Potsdam kamen Genesungspakete. Was Mutterliebe nur ersinnen konnte, ihr Hänschen zu erfreuen.

Von so viel Liebe umgeben, blühte Hänschen allmählich wieder auf. Die bleichen Wangen bekamen zartrosa Schimmer. Die Hände waren nicht mehr so durchsichtig und die dunklen Augen verloren das Matte und strahlten wieder wie zwei Sterne.

Ein Maitag war es, so golden und sonnendurchleuchtet wie noch keiner zuvor. Da hielt wieder der »Rumpelkäfig« vor dem Forsthause in Hain. Der alte Liebig knallte so unternehmungslustig mit der Peitsche, und die »gutten Pfärdel« scharrten so ungeduldig den Boden, als wüßten sie, daß sie Hänschen heute wieder ins Waldheim zurückzubringen hätten. – Da kam sie, mindestens um einen halben Kopf emporgeschossen während der langen Krankheit. Noch etwas blaß, aber mit glückseligen Augen. Auf einer Seite von Tante Klärchen geführt, auf der andern von der treuen Mieke, die es sich nicht hatte nehmen lassen, Hänschen persönlich zurückzuholen. Sämtliche Försterkinder, Vergißmeinnicht in den Händen, gaben ihr das Geleit. Der Förster schleppte das Gepäck zum Wagen, seine Frau schnitt noch schnell einen Busch von dem roten Flieder, den Hänschen besonders liebte.

So viel Hände streckten sich ihr abschiednehmend entgegen, daß Hänschen gar nicht wußte, welche sie zuerst drücken sollte, welche von den Kinderärmchen sich zuerst zärtlich um ihren Hals legen sollten. Wem sie zuerst danken sollte für die treue Fürsorge und aufopfernde Menschenliebe, welche die guten Leute dem fremden Mädchen hatten angedeihen lassen. Und da zeigte Hänschen, daß sie ihre lebhafte Empfindung trotz der Krankheit, trotzdem sie Schritt für Schritt wie ein altes Mütterchen am Arm ihrer Führerinnen machen mußte, nicht eingebüßt hatte. Ehe sie in den »Rumpelkäfig« stieg, fiel sie der blonden Försterfrau um den Hals und dankte ihr mit einem Kuß für all die Güte.

Blitz, Schnupp und Waldmann, die drei Getreuen des Försters, gaben dem Wagen kläffend durch das ganze Dorf das Geleit. Überall stürzten die Bewohner an das Fenster, um das »todkranke Mädel«, welches Ortsgespräch geworden war, jetzt leibhaftig gesund zu sehen.

Da war das »Rübezahl-Häuschen«, in dem Hänschen zuerst Unterkunft gefunden. Wirklich, es stand noch immer auf demselben Fleck. Und der »Kleinert Karl« lehnte mit seiner Pfeife in der Tür und schmunzelte, als Hänschen vorüberfuhr. Denn er maß sich genau soviel Anteil an ihrer Genesung zu wie dem Doktor.

Dann nahm der Frühlingswald die dem Leben Zurückgegebene auf. Maiglöckchen läuteten zart, ganz zart, den Willkomm. Der Frühlingswind blies dazu auf seidenweicher Harfe. Wie unter einem grünen Dom fuhr Hänschen unter der sonnendurchflirrten Wipfelkuppel der Buchen dahin. Bis der Wald sich auftat, und die ganze leuchtendblaue Kette des Riesengebirges grüßte. Nur auf der Schneekoppe lag ein leichtes Wölkchen. Fast sah es aus wie ein Gesicht mit langem Bart. War das Rübezahl, welcher der Heimfahrt des davongelaufenen Hänschens zuschaute?


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