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Zehntes Kapitel
Ein Unglückstag

Die übrigen Pensionsschwestern waren nicht wenig erstaunt über die plötzliche Freundschaft zwischen Mieke Jeserich und der Neuen. Hatte man seit der Schneeballschlacht doch gerade das Gegenteil vermutet. Kätchen Kugelmann war sogar aufrichtig betrübt, oder wie sie sagte, »pedriept«. Kätchen hatte nämlich die Eigenschaft, jede Neue mit ihrer Freundschaft zu beglücken, bis zu dem Augenblick – der allerdings nie sehr fern lag –, wo sie ihr »Schuß fier alle Äffiggeit« ansagte. Und gerade die Hanna Wallenberg hätte Kätchen Kugelmann für ihr Leben gern zur Freundin gehabt. Ein ulkigeres und übermütigeres Mädel war niemals im Huhnschen Pensionat gewesen. Darin waren sich alle einig. Nicht nur die Zöglinge, sondern auch die Lehrer. Sogar Vater und Mutter Liebig, Meta, Mullerchen und Putzerle, alle mochten sie Hänschen gern. So munter und fidel war es vordem in den Stunden nicht zugegangen. Hänschen sorgte stets für Belustigung. Besonders bei Monsieur Lecoq, den das lose Mädchen in Monsieur »Sockel« umgetauft hatte, und bei Miß »Pinscher« gab es immer Stoff zum Lachen. Hänschen malträtierte die französische Sprache in einer Weise, daß Monsieur Lecoq mit seinem gespreizten Gang auf sie zu stolziert kam und mit wehleidigem Gesicht stöhnte: »Oh, Jeanne, vous parlez français, wie man 'ackt 'olz.«

Die Engländerin dagegen wurde von »Jane« zur Verzweiflung gebracht, weil Hänschen alles, was sie bei Monsieur Lecoq gelernt hatte, in der englischen Stunde anbrachte. Das war ein Kauderwelsch von Englisch, Französisch und Deutsch, daß die Mädels nicht aus dem Lachen heraus kamen. Besonders, da Hanna Wallenberg grundsätzlich nicht verstand, was Miß Pinshes zu ihr sagte und sich stets der verkehrteste Sinn ergab. Dann lachte Hänschen so hell und ausgelassen, daß selbst Miß Pinshes einstimmen mußte. Wenn diese auch dabei ein Gesicht machte, als ob sie Zahnschmerzen hätte.

Fräulein Huhn bemerkte mit Genugtuung, daß Hanna Wallenberg in ihren Stunden sich redlich bemühte, sie zufriedenzustellen; daß die neue Pensionärin, trotz der großen Lücken im Wissen, einen offenen Kopf habe, hatte die bewährte Pädagogin alsbald heraus. Nun hieß es, den Ehrgeiz, das Streben und das Pflichtgefühl des jungen Mädchens zu wecken. Mit einem Lob oder einem Tadel, wie bei den übrigen, war das nicht geschehen. Hänschen war dickfellig wie ein Elefant. Nur wenn Fräulein Huhns liebes Gesicht ernst oder gar traurig wurde, bemühte sie sich, ihre Mängel zu verbessern. Nein, Fräulein Huhn sollte nicht traurig aussehen. Trotz allen Übermutes hatte Hänschen ein so warmes, tiefes Empfinden wie nur eine der vielen jungen Mädchen im Pensionat. Wenn sie jemand in ihr Herz geschlossen hatte, war das nicht so wie bei Kätchen Kugelmann, die heute diese und morgen jene Freundin hatte. Hänschen war in ihrer Zuneigung sowohl wie in ihrer Abneigung treu.

Die Vorsteherin hatte es gleich in der ersten Unterredung verstanden, bei Hänschen eine Sympathie zu erwecken, durch welche es der Schülerin zur Freude wird, die Lehrerin zufriedenzustellen. Es war fabelhaft, welche Fortschritte Hänschen in allen Fächern, in denen Fräulein Huhn persönlich unterrichtete, in dieser einen Woche gemacht hatte.

Ja, beinahe eine Woche war es her, daß Hänschen Tunichtgut ihren Einzug im Hühnerstall gehalten. Sie hatte zwar immer noch nicht ihre ursprüngliche Absicht, alles daran zu setzen, um wieder heimgeschickt zu werden, aufgegeben. Nur betrieb sie diesen Plan nicht mehr so energisch. Wozu? Es war ja, wenn sie es sich ehrlich zugestehen wollte, eigentlich wunderhübsch bei den »Hühnern«. Hänschen fühlte sich ungemein wohl im Waldheim. Jederzeit mit jungen, lustigen Gefährtinnen zusammen, die ein dankbares Publikum für alle ihre Dummheiten bildeten, das war so recht was für sie. Auch die Freundschaft mit Mieke wirkte sehr günstig auf Hänschen Tunichtgut.

Mieke war ein liebes Mädel. Gefällig und nett, fleißig, pflichttreu und sauber in ihren Arbeiten – also gerade das Gegenteil von ihrer neuen Intima. Die Lore Schwarz in Potsdam war auch eine brave, fleißige Schülerin gewesen. Aber sie konnte ihren Einfluß auf Hänschen nicht so geltend machen wie Mieke. Mit letzterer war sie jetzt Tag und Nacht zusammen. Jede Tätigkeit, für den Unterricht sowohl als häuslicher Art, ward gemeinsam vollführt. Mieke hatte auch eine energischere, in sich selbst gefestigtere Art der neuen Freundin gegenüber als Lore, die sich nur zu oft von Hänschens dummen Streichen ins Schlepptau nehmen ließ. Es kränkte Hänschens Stolz, daß sie, die drei Monate älter war als Mieke, der unteren Abteilung angehören mußte, während Mieke, eine der Besten, in der ersten Abteilung war. Hänschen nahm sich vor, alles daran zu setzen, um so bald wie möglich mit der Mieke in einer Klasse zu sein. Das war die zweite Triebfeder, daß Hänschen Tunichtgut in der ersten Woche so erstaunenswerte Fortschritte machte.

Den Aushungerungsplan hatte sie nach dem ersten Mißerfolg ein für allemal aufgegeben. Dazu kochte Fräulein Trudel zu gut. Nein, essen war entschieden angenehmer als hungern. Und man erreichte ja damit auch nichts weiter als höchstens – eine Tasse Pfefferminztee.

Fräulein Huhn so sehr ärgern, daß die Vorsteherin sie nicht mehr im Waldheim dulden wollte, das mochte sie noch weniger, als hungern. Denn Hänschen verehrte Fräulein Huhn mit dem ersten Erwachen der Backfischschwärmerei. Also was dann? Hänschen war ratlos. Sie wollte heim zu Mutti und Vater, zu Pitt und zur Lore – und sie wollte auch wiederum dableiben. Hänschen war schwankend geworden.

Da kam etwas, was zu einem Entschluß drängte. Am Ostersonnabend war es. Hänschen mußte wohl mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett aufgestanden sein. Denn vom frühen Morgen an ging alles quer. Das Band am Unterrock riß und ward der großen Eile wegen mit einer Sicherheitsnadel angesteckt. Die peinlich ordentliche Elli aus Bremen fand das »ganz furchtbar liederlich«. Mieke, die hilfreiche, hatte bereits ihr Nähkästchen herausgeholt, um es ganz schnell anzunähen, aber Hänschen wollte davon nichts wissen.

»Quatsch, Sicherheitsnadel hält mindestens so gut!« Sie riß sich so heftig von der bereits mit gezückter Nadel ihr zu Leibe gehenden Mieke los, daß die Nadel statt in das Band, Mieke in den Finger fuhr. Der blutete.

»Das kommt davon, wenn man halt so ungestüm ist.« Mieke war ärgerlich.

»Nein, das kommt davon, wenn man seine Nase in alles steckt und sich um Sachen kümmert, die einen gar nichts angehen.« Hänschen hatte es ganz harmlos lustig in ihrer unverfrorenen Art gesagt. Ohne die geringste Absicht, zu beleidigen. Aber Mieke nahm es heute krumm.

»Ich werde mich nicht mehr um deine Angelegenheiten kümmern. Auch nicht, wenn du mit der Präparation oder den Geometrieaufgaben nicht allein fertig wirst.« Mieke wandte sich um und nahm übel.

»Empfindlich wie deine liebe Kusine Agathchen, genannt die Schnattergans.« Irgendein boshafter Kobold mußte diese Worte Hänschen auf die Zunge gelegt haben. Denn sie verstand nachher selbst nicht, wie sie ihrer Mieke das hatte sagen können.

Mieke wurde rot. Sie wurde blaß. Sie schnappte ein paarmal nach Luft. Und wie sie die andern mit neugierig schadenfrohen Mienen die kleine Plänkelei zwischen den beiden Intimas verfolgen sah, stieg ihr das Blut zu Kopf.

»Natürlich, Hänschen Tunichtgut kann mit keinem Menschen Frieden halten!« rief sie empört.

Jetzt wurde Hänschen blaß und rot.

»Das weißt du – das hast du mir verschwiegen – und dann gelobst du mir Freundschaft bis in die Ewigkeit, du Treulose – pfui!«

»Fie nennst tu die Hanna – Hänschen Dunichtkud – hahaha – –« Kätchen wollte sich ausschütten vor Lachen. Auch Elli lächelte spöttisch.

Mieke biß sich auf die Lippen. O Gott – hätte sie doch das nicht gesagt! Sie hatte sich doch so fest vorgenommen, den Spottnamen, den Agathe ihr alsbald mitgeteilt hatte, niemandem zu verraten, um der Neuen in der Pension keine Ungelegenheiten zu machen. Nun war er ihr in der Erregung doch über die Lippen gerutscht.

»Na ja, wenn du halt auch so bist – – –« Mieke kam mit ihrer Entschuldigung nicht weiter.

Das Gong unten in der Diele verkündete energisch, daß jetzt keine Zeit mehr sei zu Privatunterhaltungen. Elli und Kätchen liefen eiligst hinunter, letztere nicht, ohne noch einmal lachend den Kopf zurück zu drehen:

»Hänschen Dunichtkud, verkiß ploß nicht tein Gleid ieperzuziehen!«

Es war gut, daß Kätchen daran erinnerte, sonst wäre Hänschen am Ende wirklich im Unterrock hinterher gelaufen. Denn sie hatte nur noch Gedanken für die Schmach, die Mieke ihr angetan hatte. Gerade Mieke, auf deren Treue sie geschworen hätte.

»Art läßt nicht von Art,« murmelte sie erbost, während sie sich wütend auch noch einen Haken vom Kleide abriß.

Mieke zuckte zusammen. Trotzdem es höchste Zeit war, kam sie doch noch ihrer täglichen Morgenpflicht, ihre Betten an der Verandatür zum Lüften auseinanderzubreiten, nach.

Hänschen dachte gar nicht daran. Die ließ alles oben liegen, wie es gerade lag, und stürmte nach unten.

Fräulein Huhn hatte zum Glück noch nicht begonnen. »Ei – ei –« sagte sie, »die Inséparables beide zu spät.«

»Mieke Jeserich ist nicht mein Inséparable, mit der bin ich schuß in alle Ewigkeit!« Hänschen rief es laut in ihrer Empörung.

Mieke traten die Tränen in die Augen. Die andern lachten.

»Nun, Hanna, wenn ihr beide was miteinander vorhattet, ist das hier wohl nicht der Ort und die Zeit, um es auszutragen,« verwies Fräulein Huhn das impulsive Hänschen. Dann sprach sie das Morgengebet.

Weder Mieke noch Hänschen hörten etwas davon. Erstere wäre am liebsten in ein Mausloch gekrochen, so sehr schämte sie sich, daß Hanna Wallenberg ihr vor allen die Freundschaft gekündigt hatte. Ach, wie bereute sie es, den Namen »Hänschen Tunichtgut« gebraucht zu haben.

Hänschen stellte inzwischen bittere Betrachtungen an über die Vergänglichkeit alles Irdischen. Hatte denn überhaupt noch etwas Bestand, wenn Miekes Freundschaft sich verleugnen konnte? In kurzer Zeit kannte man ihren Spottnamen allgemein im Hühnerstall. Die Henne, das Suppenhuhn, das Küken, der Gockel und der Pinscher, sie alle, alle würden es erfahren, wie man sie in der Potsdamer Schule genannt hatte. Denn Kätchen war ein Plaudertäschchen. Was nützte es da, daß sie sich in dieser Woche zusammengenommen hatte, daß sie sich bemüht hatte, Fräulein Huhn Freude zu machen? Alles vergebens. Sie war und blieb Hänschen Tunichtgut. Der Name verfolgte sie.

»Amen« sagte Fräulein Huhn. »Amen« wiederholte der Chor.

Zum zweiten Frühstück waren Mieke und Hänschen in den letzten Tagen immer Arm in Arm an der Tafel erschienen. Mieke hatte Fräulein Huhn gebeten, daß die neue Freundin bei den Mahlzeiten neben ihr sitzen dürfe. Die Vorsteherin hatte es gern gestattet. Versprach sie sich doch von dem Umgang mit der pflichteifrigen Mieke den besten Einfluß auf die Neue.

Kätchen Kugelmann hatte den Platz zur Linken von Hänschen inne. Das hatte auch sein Gutes. Freilich ahnte Fräulein Huhn davon nichts. Der Tauschhandel mit den Milchbechern blühte. Das kugelrunde Kätchen Kugelmann wurde von Tag zu Tag kugelrunder. Hänschen aber nicht fetter.

Heute saß Hänschen abgeschlossen wie auf einer Insel zwischen den Nachbarinnen. Mieke wurde von ihr natürlich keines Blickes gewürdigt. Aber auch mit Kätchen mochte sie sich nicht einlassen. Es war ihr unbehaglich, daß diese um ihren Ehrentitel wußte. Jeden Augenblick fürchtete sie, ihn vernehmen zu müssen.

Ob sie Kätchen bitten sollte, reinen Mund zu halten? Dazu war Hänschen zu stolz. Und außerdem kannte sie Kätchen in dieser Woche schon hinreichend genug, um genau zu wissen, daß sie es fünf Minuten später unter dem Siegel der Verschwiegenheit mindestens einem halben Dutzend mitteilen würde. Denn Kätchen liebte es, sich wichtig zu machen.

Bei diesen Überlegungen hatte Hänschen nicht acht darauf, daß ihre linke Nachbarin vergebliche Anstrengungen machte, die Milchbecher zu vertauschen.

»Tu, Hänschen Dunichtkud, baß auf!« Kätchen gab ihr einen kleinen Rippenstoß.

Hänschen paßte nur auf, ob auch keine der Umsitzenden die Anrede vernommen. Sie übersah Kätchens Grübchenhand, die nach ihrem Becher griff und der sie stets auf halbem Wege entgegenzukommen pflegte.

»Nanu – was ist denn das da mit den Milchbechern?« rief Fräulein Huhn plötzlich dazwischen. »So was gibt es nicht, Kätchen, du platzt nächstens aus der Haut, und der dünnen Hanna ist ihre Milch sehr notwendig. Daß ich das nicht wieder sehe! Überhaupt, Hanna, wir beide haben sowieso noch ein Hühnchen miteinander zu pflücken.«

»Fräulein Huhn pflückt ein Hühnchen – – –« Hänschen konnte sich den Witz nicht verkneifen.

Ringsum lachte man. Die Vorsteherin bemerkte es mit Mißfallen.

»Wenn ich über etwas ärgerlich bin, ist es ungezogen, zu lachen!« Selten sah man die freundlichen Züge so streng. »Ich werde dich doch wohl wieder zu mir hernehmen müssen, Hanna.«

Hänschen war das augenblicklich ganz gleich. Mit Mieke war sie schuß. Das Tauschgeschäft mit Kätchen war entdeckt. Na also! Fräulein Huhn hatte nun doch schon wieder eine schlechte Meinung von ihr bekommen. Was mochte sie mit dem Hühnchen rupfen gemeint haben?

Hänschen sollte es alsbald erfahren. Nach dem Frühstück winkte ihr die Pensionsmutter. »Hanna, du hast heute morgen dein Zimmer oben in einer Unordnung zurückgelassen, die ich nicht wieder zu sehen wünsche. Keine Betten ausgelegt – der Kamm mit ausgekämmten Haaren auf dem Bett – das Waschwasser nicht ausgegossen – ich hatte mich gefreut, daß ich in den letzten Tagen Besseres über deinen Ordnungssinn gehört habe. Verfalle nicht wieder in deinen alten Fehler, Kind.«

Ja freilich, Mieke hatte heute morgen mit ihrer hilfreichen Hand gefehlt. Hänschen schwieg, da sie das nicht sagen konnte.

»Ich habe die Empfindung, Hanna, als ob du mich schon ein bißchen gern hast. Du willst mir doch sicher Freude machen?

Hänschen wurde rot und nickte eifrig.

»Also dann fahre so fort, wie du in den letzten Tagen gewesen bist. Und noch eins: Versöhne dich wieder mit der Mieke Jeserich!«

»In diesem Leben niemals!« Hänschen eilte davon, denn es läutete zur französischen Stunde.

»Kleiner Heißsporn!« Lächelnd sah die Vorsteherin ihr nach. »Na, jedenfalls hat sie die Absicht, mir Freude zu machen. Das ist schon viel wert.«

Fräulein Huhn sollte es bald erfahren, wie Hänschen ihre Absicht in die Tat umsetzte.

Französische Literaturstunde war es. Monsieur Lecoq hielt in wundervollen Nasallauten einen Vortrag über Racine. Hänschens Ohr hatte sich noch immer nicht an die fremde Sprache gewöhnt. Sie verstand nur hin und wieder mal ein Wort. Die anderen machten sich eifrig Notizen. Denn wahrscheinlich würde man eine Ausarbeitung über Racine anfertigen müssen.

Hänschen wußte nicht recht, was sie mitschreiben sollte. Sie verstand ja kaum etwas. Das konnte sie viel bequemer haben, wenn sie es später von einer anderen abschrieb.

Um aber die kostbare Zeit nicht nutzlos verstreichen zu lassen, begann sie Monsieur Lecoq in ihrem Heft abzukonterfeien. Den gespreizten Gang genau wie ein Hahn, die Rockschöße hinten als Federschwanz, das schmale, scharfgeschnittene Gesicht, über dem der Haarschopf wie ein Hahnenkamm stand. Die Mundpartie verwandelte das lose Mädel in einen Hahnenschnabel. Dieses merkwürdige Geschöpf, halb Mensch, halb Hahn, bekam noch zum Überfluß das Monokel, das Monsieur ständig trug – die bösen Mädels behaupteten, selbst beim Schlafen – ins Auge geklemmt. Darunter schrieb Hänschen:

»C'est Monsieur Gockel
Avec le monocle.«

Die Tür ging. Fräulein Huhn betrat die Klasse zum Zuhören. Hänschen wollte schnell das Löschblatt über ihr Kunstwerk decken. Aber schon hatte die neben ihr sitzende Gustel es erspäht. Die hatte sich so wenig in der Gewalt, daß sie vor Vergnügen laut zu quieken begann.

Fräulein Huhn wurde aufmerksam. » Eh bien, was gibt es denn da?« Sie trat zu der fidelen Ecke. »Zeige mir dein Heft, Gustel.«

Gustel kam dem Befehl mit gutem Gewissen nach. Bis auf einige Fehler war alles in Ordnung.

Hänschen atmete schon auf.

»Le votre, Jeanne.«

In ihrer Aufregung zog Hänschen geschwind irgendein anderes Heft hervor. Es war unglücklicherweise das Rechenheft.

»Du hast dich geirrt, Hanna, das französische Literaturheft will ich sehen.«

Da half kein Sträuben. Hänschen verfärbte sich, als sie Fräulein Huhn nun das richtige Heft einhändigte.

Mit gerunzelten Augenbrauen betrachtete die Vorsteherin die belastende Seite. Keine Miene verzog sie. Keinen Ton sprach sie. Sie nahm das Heft an sich und schritt zur Tür. Dieses stumme Gericht wirkte geradezu atembeklemmend.

Im Herausgehen wandte sich Fräulein Huhn zurück. »Komme nach der Stunde in mein Zimmer, Hanna Wallenberg!«

Sonst pflegte für Hänschen die Stunde bei Monsieur Lecoq zu kriechen. Heute flog sie förmlich. Ehe man es sich versah, war der gefürchtete Augenblick da, wo Hänschen in Fräulein Huhns Zimmer stand.

Fräulein Huhn schrieb. Wie es Hänschen schien, einen Brief. War der nach Potsdam an die Eltern gerichtet? Wollte Fräulein Huhn sie nicht mehr behalten? Freude und Furcht stritten in Hänschens Herzen. Aber die Furcht war merkwürdigerweise die stärkere.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis Fräulein Huhn von ihrer Schreiberei aufsah. Erst als Hänschen verschiedene Male mit ihren Stiefeln geknarrt hatte, zum Zeichen, daß sie da sei, entschloß sich Fräulein Huhn dazu, sie anzuschauen.

»Du hast mich heute bitter enttäuscht,« begann sie. »Eben noch hast du mir versprochen, mir Freude zu machen, und gleich darauf kränkst du mich in einer Weise, wie ich sie mir nicht schlimmer vorstellen kann.«

»Oh,« begann Hänschen sich zu verteidigen, »ich habe doch höchstens Monsieur Lecoq gekränkt – – –«

»Schweige – es gibt für dein Verhalten keine Entschuldigung. Ich spreche seht nicht davon, daß du die Unterrichtsstunde, in der du alle Kraft daransetzen solltest, um einigermaßen mitzukommen, zu Dummheiten benutzt. Das ist keine Dummheit, sondern eine Schlechtigkeit, den Lehrer, der euch sein Bestes geben will, in dieser Weise lächerlich zu machen. Wenn du das nicht einsiehst, werde ich dir Zeit geben, darüber nachzudenken. Du bleibst heute sowohl wie an den Osterfeiertagen auf deinem Zimmer und nimmst auch die Mahlzeiten dort allein ein. An den Ostervorbereitungen heute nachmittag darfst du dich nicht beteiligen, sondern hast Zimmerarrest. Ich will dich nicht eher sehen, als bis es dir wirklich ernst ist mit deiner Besserung.« Fräulein Huhn griff wieder zur Feder.

Hatte sie erwartet, daß Hanna Wallenberg jetzt um Verzeihung bitten würde und Reue zeigen, so hatte sich Fräulein Huhn geirrt. Hänschen warf den Kopf zurück, daß die dunklen Locken nur so flogen, trampste ein ganz klein wenig mit dem Fuß auf und verließ ohne ein Wort das Zimmer.

Draußen traf sie auf Kätchen und Gustel, die »zufällig« gerade vor der Tür der Vorsteherin auf und ab spazierten.

»Na, Hänschen Dunichtkud, fas hat's kenn kekepen?« fragte Kätchen neugierig. »Far die Henne« – diese Bezeichnung hatte Hänschen erst eingeführt – »sehr pese?«

»Tas keht tich kar nichts an, ob sie pese ist oder nicht, Blauterdasche.« Trotz ihrer Empörung konnte Hänschen es sich nicht versagen, Kätchen nachzuäffen.

»Mit Hänschen Tunichtgut ist heute nichts anzufangen, die muß heute mit dem linken Fuß aufgestanden sein.« Weiß der Himmel, da kannte die Gustel auch bereits ihren Spottnamen.

Bald würde ganz Waldheim ihn kennen.

Drunten klirrten lustig Messer und Gabeln, da klangen noch lustiger muntere Mädchenstimmen. »Wißt ihr's schon, wie die Hanna Wallenberg in Potsdam genannt wurde? Hänschen Tunichtgut. Da ist's kein Wunder, wenn sie auch hier ›Einzelhaft‹ bekommt.« Eine wisperte es der anderen zu.

Mieke saß mit einem ganz jammervollen Gewissen dazwischen. Jedesmal, wenn der Name »Hänschen Tunichtgut« an ihr Ohr drang, traf es sie wie ein Messerstich. Aber sie wollte ihr Unrecht wieder gutmachen. Sie wollte die arme Hanna, die da oben allein ihr Mittagessen einnehmen mußte, nachher in ihrer Einsamkeit trösten. Sie wollte es ihr klarmachen, daß sie nur gereizt gewesen war, daß sie die Freundin noch ebenso lieb hatte wie vorher. Ja, noch viel mehr, in dem Bewußtsein, ihr ein Unrecht zugefügt zu haben.

Droben in ihrem »Käfig« saß Hänschen Tunichtgut. Wütend – beschämt – ganz und gar Aufsässigkeit. Voller Empörung biß sie an ihren Nägeln herum, was sie sich schon so schön abgewöhnt hatte. Es war nicht die entehrende Strafe, nicht, daß der Name »Hänschen Tunichtgut« – wie sie ganz genau wußte – jetzt an der Mittagstafel drunten die Runde machen würde. Nein, was so an ihr fraß, war: daß Fräulein Huhn sie gar nicht mehr sehen wollte. Fräulein Huhn, für die sie ganz, ganz heimlich geschwärmt hatte, wie sie es jetzt erst wußte, da sie von ihrem Angesicht verbannt war.

Aller Trotz lehnte sich in Hänschen auf.

Schön – wollte Fräulein Huhn sie nicht mehr sehen, dann sollte ihr Wunsch erfüllt werden. Hänschen blieb nicht länger im Waldheim. Ganz und gar wollte sie Fräulein Huhn von ihrer lästigen Gegenwart befreien. Was sollte sie auch noch hier? Mit Mieke war sie schuß, mit Kätchen hatte sie sich auch verkracht, und mit Fräulein Huhn am meisten. Nein – sie packte ihre Siebensachen und ging los.

Hänschen zog ihre Barschaft hervor und begann dieselbe eifrig zu zählen. Es waren genau 47 Mark 94 Pfennige. Die Herreise mit Vater hatte bei weitem mehr gekostet. Sie mußte ein Stück zu Fuß zurücklegen, bis das Geld zur Fahrt ausreichte. In ihrem jugendlichen Leichtsinn nahm Hänschen an, daß das Geld, wenn sie ein, höchstens zwei Tage zu Fuß marschierte, schon für eine Fahrkarte vierter Klasse nach Potsdam ausreichen würde. Vielleicht konnte sie am zweiten Osterfeiertag schon daheim sein.

Also, was brauchte sie sonst noch? Die Zahnbürste, Seife – auf die Haarbürste konnte man bei den kurzen Locken mal ein paar Tage verzichten. Man würde ihr ihre Sachen ja später nachschicken. Halt – noch ein paar Reservestrümpfe. Denn draußen goß es. Hänschen war ordentlich stolz darauf, wie bedacht sie sich zeigte.

Nun noch Proviant. Der war die Hauptsache. Sonst ging das Geld dafür flöten. Gerade als Hänschen angestrengt überlegte, woher sie sich am besten mit Proviant versorgen könne, ward die Tür zu ihrem »Käfig« geöffnet.

Mutter Liebig trat ein, sauber, appetitlich, rundlich und freundlich, nach allerlei guten Küchensachen duftend. Sie setzte ein umfangreiches Tablett auf den Tisch.

»Nu, Herzle, was machen denn ooch Sie fier Sachen? Da mecht man doch sprechen: Unser Hannele is doch halt schon su a großes Mädel und macht noch su a Tummheiten. Nu essen Se ooch, immer essen Se, Kindel. Und hernach, do gäben Se unserm Fräulein Klärchen a guttes Wörtel. Die is Ihn' so gutt, die kann a keener Menschenseele lange beese sein.« Mutter Liebig hatte in ihrer Gutmütigkeit schon manchen Trotzkopf zur Einkehr gebracht.

»Ach, Mutter Liebig, haben Sie nicht noch ein Stück Brot für mich, ich habe heute besonders großen Hunger.« Hänschen wurde rot, daß sie die gute Alte so täuschen wollte.

»Aber jo, so – nee, nee – a Ränftel Brot kennen's schon noch hoben – gleich hol' mer'sch.« Geschäftig eilte Mutter Liebig davon.

Inzwischen nahm Hänschen über ihr Mittagbrot Inventur auf, was sich wohl davon zum Mitnehmen eignete. Die Suppe konnte sie unmöglich transportieren. Die mußte sie aufessen. Mohrrüben und Schoten ging schon eher. Aber kalt mochten die auch nicht schmecken. Dagegen war das Kotelett ungemein geeignet als Wegzehrung. Auch die Nachspeise, die armen Ritter, sollten ihr das Geleit geben. Die Himbeersauce leckte sie so auf.

Als Mutter Liebig mit beinahe einem ganzen runden Bauernbrot wieder erschien, wunderte sie sich doch über Hänschens guten Appetit.

»Hoben Se schon alles ermacht? Nu jo, jo, de Jugend, de Jugend! Nu, do schneiden Se sich ooch halt selbst die Schnitten ab, soviel Se noch wollen. Und vergessen Se ooch nich, Herzle, unserem Fräulein Klärchen brauchen Se halt nur a eenziges, kleenes, guttes Wörtel zu gäben.« Mutter Liebig ging mit den geleerten Tellern wieder davon, das Brot zu Hänschens Freude zurücklassend.

Nein, Hänschen wollte kein gutes Wort mehr geben. Ihr Entschluß stand fest. Sie ging. Das Abenteuerliche ihres Planes begann sie auch zu locken. Mit keinem Gedanken dachte das böse Mädchen daran, welche Sorge und welche Verantwortung sie auf Fräulein Huhn wälzte. All ihr Sinnen war darauf gerichtet, ihren Plan unbemerkt zur Ausführung zu bringen.

An der Rückseite des Hauses hatte Vater Liebig in Fensterhöhe Holz aufgeschichtet. Treppenartig konnte man dort auf die Erde gelangen. Ein niedriger Zaun trennte einen dann nur noch vom Walde. Diesen Weg gedachte Hänschen einzuschlagen. Von der Galerie draußen war es nur ein kleiner Sprung zu dem Holzhaufen. Oh, da hatte Hänschen schon ganz andere Klettereien gemacht.

Nur geschwind, bevor das Essen unten beendigt war, daß keiner sie bemerkte.

Die Lodenkapuze hatte zum Glück Taschen. In die eine wanderte die Zahnbürste und das Kotelett, in die andere die armen Ritter nebst den Strümpfen. Das Brot mußte Hänschen in den Arm nehmen, es war zu umfangreich. Auch das Messer steckte sie zu sich. Nicht nur zum Brotschneiden. Man konnte nicht wissen, ob man nicht auf Räuber stieß. Dann war es eine gute Waffe.

Der Mieke noch ein Abschiedswort auf einem Zettel zurücklassen? Nein, das hatte die nicht um sie verdient.

Schon hielt Hänschen von der Galerie vorsichtig Umschau. Schon kletterte sie, ihr Brot im Arm, gewandt wie ein Eichkätzchen, an der Rückseite des Hauses von Holzklobe zu Holzklobe. Wenige Sekunden später war auch das Gartenstaket überwunden. Hänschen Tunichtgut stand im Walde unter der alten Eiche und warf einen letzten Blick zurück auf das Haus, wo sie doch eigentlich recht gern gewesen war und über das sie jetzt Sorge und Kummer bringen wollte.


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