Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel
Im Hühnerstall

Vor einem tiefverschneiten Landhaus am Waldesrand hielt der Franzl. Wie ein weißes Märchenschlößchen schaute es mit seinem Türmchen und seinen Erkern aus beschneiten Zuckertannen heraus. Lichtschein blinzelte aus den Fenstern anheimelnd in die bereits einbrechende Dunkelheit.

»Nu sein mer daheeme in unserm Waldheim, nu jo jo, nee, nee.« Franzl knallte mit der Peitsche.

Die Tür öffnete sich und ließ eine helle Lichtwolke hinausquellen. Eine ältere Frau, gefolgt von einem Dienstmädchen, kam tap – tap – den Gartensteig herauf bis zur Landstraße.

»A scheenen gutten Abend ooch,« sagte sie, und »seien Se ooch scheene willkommen im Waldheim.« Sie reichte Hänschen und ihrem Vater die Hand.

War das Fräulein Huhn? Neugierig betrachtete das Backfischchen sie. Glatt zurückgestrichenes, schon ins Grau hineinspielendes Haar, das hinten in einem winzigen Zöpfchen aufgesteckt war. Freundliche, derbe Gesichtszüge, gute blaue Augen in dem faltenlosen Gesicht – das dunkelwollene Hauskleid – die schwarze Sonntagsschürze – – nein, das konnte unmöglich die Vorsteherin der Pension Waldheim sein.

Da rief auch schon der Franzl: »Mutterle, sei ooch so gutt und pack' mal mit an, der Koffer ist halt schwär.« Den vereinten Kräften der drei gelang es, Hänschens Koffer ins Haus zu transportieren.

Der Regierungsrat Wallenberg war bereits vorangegangen. Hänschen folgte langsam, Umschau haltend. Der weiße Lattenzaun war nicht allzu hoch, da kam sie bequem herüber. Und die Nähe des Waldes war entschieden vorteilhaft, wenn man sie suchte. Mit solchen Ausreißergedanken betrat Hänschen das Huhnsche Pensionat.

Eine rotverhängte Ampel beleuchtete die Diele, in der Korbsessel und Tischchen standen. Die Frau öffnete eine der weißen Türen und meldete: »Fräulein Klärchen, der Herr und sein Mädel sein halt do.« Und dann zu Herrn Wallenberg: »Nu, träten Se nur näher.«

Hänschen sah viele Mädchengesichter um einen langen Tisch, die sich jetzt in unverhohlener Neugier ihr zuwandten. Zwei Damen von gewinnender Liebenswürdigkeit kamen den Eintretenden entgegen.

»Wallenberg,« stellte sich der Regierungsrat mit einer Verbeugung vor. »Ich habe wohl das Vergnügen, mit Fräulein Huhn zu sprechen?«

»Fräulein Klara Huhn ist mein Name.« Die eine der Damen reichte Hänschens Vater die Hand. Es war eine vornehme Erscheinung im schwarzen Seidenkleid. Weißes, volles Haar umrahmte ein noch jugendfrisches Antlitz.

»Also das ist unser neues Pensionstöchterchen Hanna Wallenberg.« Auch Hänschen bekam jetzt eine Hand. »Sei mir von Herzen willkommen, mein liebes Kind.«

Es klang warm und mütterlich. Trotzdem dachte das liebe Kind, während es seinen Knicks machte: »Also das ist die Henne hier im Hühnerstall.«

»Meine Schwester Gertrud, welche die wirtschaftliche Abteilung unter sich hat« – Fräulein Klara Huhn wies vorstellend auf die etwas kleinere und korpulentere Schwester.

»Das ist das Suppenhuhn!« dachte das böse Hänschen wieder und machte den zweiten, etwas weniger tiefen Knicks.

»Dann ist hier noch unsere Nichte, Fräulein Margarete Huhn, die Turn-, Tanz-, Grazien- und Sportstunde erteilt.« Ein reizendes junges Mädchen mit goldblondem Haar, anfangs der Zwanziger, verneigte sich vor Herrn Wallenberg und schlang den Arm um Hänschens vor Kälte immer noch zitternde, schmale Gestalt.

»Das wäre dann wohl das Hühnchen,« kritisierte das unverbesserliche Backfischchen, während Fräulein Margarete rief: »O weh, du bist ja ganz durchnäßt, Hanna. Flink, flink, daß du in trockene Sachen kommst.«

»Mit den übrigen Damen und Herren sowie mit deinen Pensionsschwestern mache ich dich dann später bekannt, Hanna. Jetzt gehe erst mit meiner Nichte, damit es nicht gleich zum Empfang einen Schnupfen gibt.« Die Vorsteherin reichte ihr aufs neue die Hand. »Ich denke, du bist gern zu uns gekommen, nicht wahr?«

»Nein,« sagte Hänschen laut und vernehmlich zu Vaters Schreck, während die jungen Mädchen am Tisch, die ihr Gekicher über Hänschens merkwürdiges Aussehen mit der Taschentuchzipfelmütze auf den schwarzen zerzausten Locken kaum unterdrücken konnten, jetzt in nicht zu bändigendes Lachen ausbrachen.

»Aber Kinder, was soll denn der Herr Regierungsrat von euch denken,« dämpfte Fräulein Huhn die Heiterkeit, und dann mit einem Lächeln zu Hänschen: »Paß mal auf, Hanna, dann wirst du um so lieber bei uns sein.«

Fräulein Margarete, oder vielmehr Fräulein Gretl, wie sie allgemein genannt wurde, führte Hänschen die Treppe hinauf, über eine Galerie zu einem Nebenbau, der mit dem Hauptbau durch einen überdachten Säulengang verbunden war. Wie aus Alabaster sahen die Schneesäulen hier aus.

»Hier hausen wir. Ich wohne dicht neben dir. Es wird dir sicher bei uns gefallen, Hanna. Manch einem Mädel ist es schwer gewesen, von daheim fort zu müssen, und dann wollte sie später nicht wieder zurück. Dir geht es bestimmt auch so.«

»Glaub' ich nicht,« lehnte Hänschen deutlich ab und prüfte die Höhe der Galerie. Wenn man da heruntersprang, konnte man sich trotz des weichen Schnees den Hals brechen.

»Nun, wir sprechen uns wieder, wenn du erst ein Vierteljahr bei uns bist.«

»Keine Woche bleibe ich hier – ich lasse mich nicht in den Hühnerstall sperren – ich will wieder mit nach Haus zu meiner Mutti!« Das Unbekannte der Umgebung, die unbehagliche Kälte im Körper und die fremden Mädel alle da unten, die sich über sie lustig gemacht hatten, verursachten bei Hänschen einen ungestümen Tränenausbruch.

Fräulein Gretl hatte bei dem Wort »Hühnerstall« erst gestutzt und sich dann belustigt auf die Lippen gebissen. Nun sagte sie ernst: »Du willst doch deiner Mutter gewiß Freude machen, Hanna. Denk' mal, wie sie sich freuen wird, wenn wir ihr Gutes über dich berichten können.«

»Mutti freut sich viel mehr, wenn Vater mich wieder mitbringt,« beharrte Hänschen.

Inzwischen hatte Fräulein Gretl das Zimmer, das Hänschen von nun an bewohnen sollte, mit ihr betreten. Ein luftiger, freundlicher Raum war es. Hellgeblümte Gardinen an den beiden Fenstern. Längs den rosa getünchten Wänden standen sich vier weiße Betten gegenüber. Zwei weiße Schränke, zwei Waschtische mit je zwei Schüsseln, in der Ecke ein kleines Korbsofa mit Stühlen um ein rundes Tischchen. Auf der rosa Leinendecke stand eine gleichfarbige blühende Hyazinthe im Glas. Es sah sehr gemütlich und anheimelnd aus.

Über Hänschen wollte es nicht hübsch hier im Hühnerstall finden.

»Zu vieren müssen wir schlafen?« fragte sie unzufrieden. Denn dadurch wurde das Auskneifen ganz sicher erschwert.

»Ja, findest du das nicht lustig? Wir haben auch Zimmer für zwei und drei Mädel. Aber die neuen gewöhnen sich viel schneller ein, wenn sie mit mehreren Pensionsschwestern zusammen wohnen.«

»Ich will mich gar nicht eingewöhnen,« knurrte Hänschen ungezogen und sah zu, wie Fräulein Gretl ihren Koffer, der sie bereits in ihrem Zimmer erwartete, öffnete.

Obenauf lag eine Tafel Schokolade, darauf stand von Mutters Hand: »Willkommen, mein Hänschen!«

Das junge Mädchen griff schnell danach und wandte sich zum Fenster, um die Tränen nicht zu zeigen, die ihr schon wieder brennend in die Augen schossen.

»Also Hänschen wirst du genannt, das ist ein lieber Name,« sagte Fräulein Gretl, die den mütterlichen Willkommensgruß gelesen, um den neuen Zögling von seinem Kummer abzulenken.

»Nur für meine Mutti – für Fremde nicht!«

Fräulein Gretl mußte sich zwingen, gleichmäßig freundlich zu bleiben. Da schienen sie ja ein unausstehliches Ding ins Haus bekommen zu haben.

»So, Hanna, hier sind warme Strümpfe und Schuhe. Das Matrosenkleid ist wohl das wärmste. Zieh' dich um.«

Hänschen rührte sich nicht.

»Na, wird's bald?« Ein Lamm war Fräulein Gretl schließlich auch nicht.

»Erst müssen Sie raus sein – sonst geniere ich mich.«

»Du bist ja ein Kindskopf.« Jetzt mußte Fräulein Gretl wieder lachen. »Also schön, ich gehe in mein Zimmer nebenan. Klopfe an die Tür, wenn du fertig bist.«

Die junge Dame wartete vergebens darauf.

Fünf Minuten zu sieben zeigte die Uhr. Gleich würde das Gong zum Abendbrot rufen.

Schließlich hielt Fräulein Gretl es doch für geraten, sich wieder nach ihrer Pflegebefohlenen umzuschauen. Da saß sie, einen Fuß bestrumpft, den anderen noch barfuß, in tiefem Nachdenken versunken. Auch das Matrosenkleid lag noch über den Stuhl.

»Aber Hanna, du bist ja noch nicht weiter. Was hast du denn bloß inzwischen angefangen? Gleich wird es zum Abendbrot läuten. Nun aber vorwärts!« Fräulein Gretl legte trotz Hänschens Einspruch jetzt selbst mit Hand an.

Was hatte Hänschen inzwischen angefangen? Ja, wenn das »Hühnchen« das wüßte! Nachgedacht hatte Hänschen, angestrengt nachgedacht, was man wohl beginnen könnte, um so schnell wie möglich aus der Pension 'rausgeworfen zu werden. Denn mit dem Auskneifen war das solche Sache. Drei Mädels noch außer ihr in dem Zimmer – das war dreifache Bewachung.

»Mit Morgenschuhen gehe ich nicht.« Hänschen wies die warmen Kamelhaarschuhe, die Fräulein Gretl ihr hingesetzt hatte, so energisch zurück, daß einer bis zum Fenster flog. Sie griff nach den Goldkäferschuhchen.

»Du bist aber wirklich ungezogen, Hanna!« sagte Fräulein Gretl mißbilligend. »Die Hauptsache ist, daß du warm bist. Die Goldkäferschuhe sind für die Tanzstunde nächsten Winter.«

»Wenn ich dann noch hier bin.« Hänschen lachte überlegen.

Sie frohlockte; der erste Schritt dazu, wieder heimgesandt zu werden, war getan. Das Hühnchen hatte sie bereits für ungezogen erklärt.

»Hanna, ich bitte mir jetzt aus, daß du die warmen Hausschuhe anziehst,« sagte Fräulein Gretl so bestimmt, wie Hänschen es dem Hühnchen gar nicht zugetraut hätte. »Wir sind hier an unbedingten Gehorsam gewöhnt. Ich glaube nicht, daß dein Vater mit deinem Benehmen einverstanden wäre.«

Der Hinweis auf den Vater brachte es zuwege, daß Hänschen in die Kamelhaarschuhe fuhr.

»So, nun noch die Hände waschen.«

»Sind gar nicht dreckig,« knurrte Hänschen.

»Wenn man eine Reise hinter sich hat, sind die Hände unsauber. Diese Bezeichnung ist netter, nicht wahr, Hanna? Auch sind unsere Zöglinge gewöhnt, sich vor den Mahlzeiten stets die Hände zu waschen.« Fräulein Gretl blieb an der Tür stehen, trotzdem das Gong bereits das Haus durchdröhnte.

»Gieß das benutzte Wasser in den Eimer.« Noch nie hatte Fräulein Gretl bei einer Neuen so viel aussetzen müssen.

»Habe ich zu Hause auch nie gemacht – dazu sind doch die Mädchen da.« Hänschen stand stocksteif.

»Dann wirst du es hier lernen, Hanna. Dazu sind die Mädchen nicht bei uns da.« Das war wieder der bestimmte Ton, dem man folgen mußte. Wenn auch widerwillig, gehorchte Hänschen.

Unten in der Diele standen noch einige junge Mädchen an der Wasserleitung, mit derselben Prozedur beschäftigt wie Hänschen soeben. Die meisten hatten bereits im Speisezimmer an einer langen Tafel Platz genommen. Es waren wohl an zwanzig Personen.

Scheußlich, daß sie mit ihren Kamelfüßen vor aller Augen hier einherschleichen mußte!

Der Vater saß am oberen Ende des zierlich gedeckten Tisches. Er nickte seinem Töchterchen liebevoll zu.

Aber Hänschens finstere Miene hellte sich nicht auf.

Sie ward auch nicht liebenswürdiger, als Fräulein Huhn sie zu sich heranwinkte und sie mit Miß Pinshes, der Engländerin, einer sommersprossigen Blondine, bekannt machte. Die Vorsteherin vermittelte weiter die Bekanntschaft: »Monsieur Lecoq – unser neuer Zögling Hanna Wallenberg.«

»Kickericki –« machte Hänschen und krähte dem sich höflich verbeugenden Franzosen gerade ins Gesicht: »Kickericki, hahaha – das ist ja zum Schießen! Lecoq – das ist der Hahn hier im Hühnerstall.« Der französische Lehrer verstand zum Glück nicht den Grund von Hänschens Heiterkeit, wenn er auch das Kickericki als ungehörig empfand. Fräulein Huhn aber zog die Augenbrauen hoch: »Setz' dich da unten auf den Platz, den dir meine Schwester anweisen wird, Hanna.« Sie mochte in Gegenwart des Vaters nicht gleich maßregeln.

Der Regierungsrat aber wandte sich entschuldigend an die Dame: »Ich fürchte, meine Hanna wird Ihnen viel Mühe machen, gnädiges Fräulein. Die kränkliche Mutter hat das Töchterchen, das einzige, das uns von unsern Kindern geblieben, leider ziemlich verzogen. Hanna muß streng genommen werden. Ich vertraue Ihrer bewährten Pädagogik, daß Sie meinen kleinen Vagabund in ein wohlerzogenes junges Mädchen verwandeln werden.«

»Ich hoffe, es wird nicht allzu schwer halten, Herr Regierungsrat. Wir schulmeistern nicht allzuviel. Eine erzieht sich an dem Beispiel der andern. Mein Prinzip ist, daß jedes junge Mädel gern hier sein soll im Waldheim und Freude an ihrem täglichen Pflichtenkreis gewinnt. Dann werden sie auch für die Lebensarbeit, die später draußen auf sie wartet, die rechte Arbeitsfreudigkeit mitbringen. Kleine Unebenheiten der gesellschaftlichen Formen schleifen sich bei uns ganz von selbst ab. Und Auswüchse eines allzu übermütigen Naturells stutzen wir nur, soweit es dringend erforderlich ist. Ich möchte meinen jungen Pfleglingen ihren glücklichen Backfischfrohsinn in keiner Weise verkürzen.«

»Durchaus anerkennenswert, gnädiges Fräulein. Ich glaube, es gibt nicht viele Pensionsmütter, die so verständnisvoll jung denken. Jedenfalls übergebe ich Ihnen mein Töchterchen mit vollem Vertrauen.«

Das Töchterchen hatte am entgegengesetzten Tischende zwischen einem langaufgeschossenen Backfisch mit blondem Madonnenscheitel und einem etwa achtjährigen bildhübschen kleinen Mädchen den ihr von Fräulein Gertrud angewiesenen Platz eingenommen.

»Das ist Elli Bröddersen aus Bremen, eine deiner Zimmergenossinnen, Hanna,« vermittelte Fräulein Gertrud. »Und das Kleine hier ist unser Küken, Clemence, das Töchterchen von Monsieur Lecoq.«

»Nun ist der Hühnerhof vollzählig, selbst das Küken fehlt nicht,« amüsierte sich Hänschen.

»Ihr andern mögt eure Namen selbst nennen – – –«

Ein babylonisches Stimmengewirr erhob sich sofort. Hänschen wurde es ganz schwindlig von all den Namen, die sie umschwirrten.

»Margot, Lisel, Heny, Kätchen, Lena, Edith, Mieke, Irma, Gustel, Ruth, Miny, Nora – – –« wie Meeresbrandung umrauschte es sie.

»Halt – halt – Kinder,« lachend hielt sich Fräulein Klara Huhn die Ohren zu, »immer nur eine auf einmal.«

Die Namen wurden jetzt hintereinander ausgerufen, und am Schlusse war Hänschen noch gerade so klug wie zuvor. Sie hatte keine blasse Ahnung, ob die kleine Kugelrunde die Lena oder die Irma, die Blondzöpfige die Ruth oder die Heny sei.

»Du wirst die Mädel schon kennen und unterscheiden lernen, wenn du erst ein Weilchen bei uns bist,« sagte Fräulein Gretl, die unweit ihren Platz hatte.

Hänschen warf die Lippen auf. Pah – sie gab sich gar nicht erst Mühe, die ganze Gesellschaft bei Namen zu kennen. Das lohnte sich doch für sie nicht. Bis sie die Namen alle wußte, war sie längst schon wieder zu Hause bei Mutti.

Drei junge Mädchen reichten die geschmackvoll mit Gurke und eingelegten Kirschen garnierten Heringssalate herum. Die belegten Brötchen wanderten von Hand zu Hand. Vor jedem Zögling stand ein Becher Milch.

Hänschen rümpfte die Nase.

»Milch trinke ich nicht.« Es war der ewige Kampf daheim mit Mutti.

»Milch ist dir, Blaßschnabel, ganz besonders zuträglich. Du wirst dich schon daran gewöhnen,« redete Fräulein Gertrud, der die Güte aus den hellbraunen Augen sprach, ihr zu.

Hänschen schüttelte den Kopf und ließ den Becher Milch unberührt.

»Wer nicht trinken sein Milk, nicht darfen spielen après mit all die Kinders,« wandte die kleine Französin sich mit drolliger Wichtigkeit an ihre Nachbarin. »Clemence sein artik – Clemence darfen bleiben auf. N'est-ce pas, Tante Trüde?«

»Freilich, Herzchen. Hanna wird ihre Milch auch austrinken.« Fräulein Gertrud hatte noch nicht ausgesprochen, da ergoß sich Hänschens Milch bereits über das reine Tischtuch und über das grünkarierte Kleid der aufschreienden Bremer Elli.

Hänschen hatte so geschickt dagegen gestoßen, daß das Manöver geglückt war. Fräulein Gertrud, die es durchschaut, sprach kein Wort. Sie nahm Elli mit hinaus, um das begossene Kleid zu reinigen und hieß Meta, das Stubenmädchen, einen neuen Becher Milch für Hanna Wallenberg bringen.

»Du sein unartik,« kritisierte die kleine Clemence ungeniert.

Hänschen wurde rot. Sie hatte schon so manchen Tadel in ihrem vierzehnjährigen Leben erhalten und war ziemlich dickfellig dagegen geworden. Aber hier aus Kindermund verletzte er sie. Auch blickten die Mädel, Elli, Miny, Irma, Kätchen, oder wie sie nun hießen, belustigt zu ihnen herüber.

»Mit Franzosen rede ich überhaupt nicht. Du bist unsere Feindin, auch wenn wir jetzt Frieden haben!« rief sie ärgerlich.

Clemence sah sie mit ihren großen haselnußbraunen Augen verwundert an. Der Ton war's allein, den sie als unfreundlich empfand. Denn den Sinn von Hänschens Worten hatte sie nicht begriffen. Soweit beherrschte die kleine Französin die deutsche Sprache noch nicht.

Die andern Mädel aber, Kätchen, Miny, Gustel, Nora, Heny, oder wie sie nun hießen, flüsterten: »Na, das ist doch aber stark!«, denn die kleine Clemence war der Liebling von allen.

»Bei uns hier herrscht immer Frieden, Hanna,« Fräulein Gretl hielt es doch für notwendig, sich hineinzumischen. »Wir kennen hier keine Unterschiede unter den Pensionsschwestern. Ich hoffe, daß auch du Frieden halten wirst!« Das klang ernst mahnend.

Hänschen machte ein Gesicht, aus dem man nicht recht klug werden konnte. Offenen Widerspruch wagte sie doch nicht, da Vater am anderen Tischende saß und öfters zu seiner Tochter herunterblickte. Auch die Milch wagte sie aus demselben Grunde nicht zum zweitenmal umzugießen, trotzdem Hänschen Tunichtgut die größte Lust dazu verspürte. Das wäre doch ein feiner Anfang, um möglichst schnell wieder an die Luft gesetzt zu werden.

Jedenfalls trinken mochte sie die Milch auf keinen Fall. Inmitten des munteren Stimmengewirrs, Lachens und Scherzens saß Hänschen, sonst der Muntersten eine, still und einsilbig auf ihrem Platz. Die kleine Clemence wagte nicht mehr, mit ihr zu sprechen, nachdem sie ihr so unfreundlich geantwortet. Ihre Nachbarin Elli war schüchtern und zurückhaltend und wartete, daß man mit ihr sprach. Und die übrigen hielten es nun schon gar nicht für nötig, die »Neue«, die sich soeben derart abweisend gezeigt hatte, an ihrem Gespräch teilnehmen zu lassen.

Hänschen fühlte sich ordentlich erlöst, als Fräulein Huhn »Gesegnete Mahlzeit« wünschte.

Für Regierungsrat Wallenberg war es jetzt Zeit, sich auf die Heimreise zu begeben. Er wollte die Nacht durchfahren, um Montag früh wieder im Dienst sein zu können. Denn er war von peinlicher Gewissenhaftigkeit, ganz im Gegensatz zu seinem Fräulein Tochter.

Der Schlitten, der ihn an die Bahn zurückbringen sollte, war bereits vorgefahren. Vater Liebig, so rief man das alte Faktotum, das zugleich Kutscher, Gärtner und Hausdiener war, allgemein im Waldheim, belud sich mit Tasche und Reisedecke.

»Ich komme mit zur Bahn.« Ein Gedanke durchblitzte Hänschen. Im letzten Augenblick, wenn der Zug schon im Begriff war abzugehen, wollte sie hineinspringen. Dann mußte der Vater sie wieder mit heimnehmen zu Mutti. Nein, hier, wo sie Milch trinken sollte und wo die dummen Mädel nicht mit ihr sprachen, hier blieb sie bestimmt nicht.

»Es wird spät werden, Hanna,« gab der Regierungsrat zu bedenken. »Auch bist du kaum erst warm geworden, die Nachtluft ist sicher scharf.«

»Ich zieh' meinen Wintermantel an und die Stiefel mit Doppelsohlen.« Hänschen wollte spornstreichs die Treppe hinauf.

»Nein, Hanna, es ist wirklich besser, du bleibst hier bei uns,« wandte jetzt auch Fräulein Huhn ein. »Nachher spielen die jungen Mädchen nette Gesellschaftsspiele – paß mal auf, das wird lustig.«

Aber Hänschen wollte nicht lustig sein. Sie wollte mit zur Bahn und mit heim zu Mutti. Die »Henne« konnte »gackern« soviel sie wollte, sie fuhr doch mit. So dachte Hänschen Tunichtgut unehrerbietig.

Aber »hiergeblieben, Hanna, sonst fahre ich ohne Abschied davon,« rief der Vater hinter der Davonstürmenden her.

Hänschen wußte, daß der Vater seine Drohung ausführen würde. Ungestüm warf sie die Arme um seinen Hals.

»Vati, nimm mich wieder mit, laß mich nicht hier, wo es so gräßlich ist – – –«

»Aber Hanna, schäme dich!« Ärgerlich machte sich der Regierungsrat von den ihn fest umstrickenden Armen frei. Wie peinlich war Hänschens ungeschminkte Kritik dem liebenswürdigen Fräulein Huhn gegenüber! »Ich versäume den Zug, Hanna – nun sei vernünftig, mein Kind. Ich hoffe, daß du dich der liebevollen Obhut der Damen hier würdig zeigen wirst und daß wir Gutes von dir hören werden.« Er sprang in den Schlitten.

»Empfehle mich, gnädiges Fräulein, auf Wiedersehen, Hanna!« Noch einmal winkte der Vater den in der Haustür Stehenden einen Gruß zurück.

Klinglinglingling – die Pferde zogen an. Der Schlitten mit dem Vater flog die Landstraße hinab.

»Vater« – – – gellend schrie es Hänschen hinterdrein, riß sich los von dem sie herzlich umfangenden Arm der Pensionsmutter und jagte in Morgenschuhen, ohne Mantel hinaus in den Schnee.

»Vater« – – – sie rüttelte an der festverschlossenen Gartentür. Eingesperrt war sie, wie im Gefängnis! Laut auf jammerte Hänschen, während der Schlitten im Flockengeriesel verschwand.

Ein warmes Tuch ward ihr schützend um Kopf und Schulter gelegt. Eine warme schwielige Hand strich ihr beruhigend über das nasse Gesicht.

»Nu jo, jo, nee, nee, nu kummen Se ooch, Herzl, nu sein Se ooch gebäten und kummen Se ins Haus. Se missen sich jo den Tod hier haußen holen.«

Aber Hänschen wollte sich den Tod holen. Sie wollte hier im Schnee erfrieren, wenn Vater sie unbarmherzig hier bei den fremden Leuten zurückließ. Weinend warf sie sich in das kalte weiße Flockenbett.

»Jesses – nu hert sich aber alles uff. Nu sog' ich aber reene nischte mähr.« Mit starken Armen umfaßte Mutter Liebig die leichte Mädchengestalt und trug die Zappelnde ins Haus.

»So, Fräulein Klärchen, das ist Ihnen aber a kleene Wilde.« Die resolute Frau verschloß die Haustür und legte zum Überfluß auch noch die Sicherheitsriegel vor, im Fall es Hänschen wieder nach dem kühlen Schneelager gelüsten sollte. »So – nu mach' ich halt a Warmkruken, und denn lägt sich das Herzl ins Bett. Morgen hat's dann den Jammer a bissel verschlafen.« Sie eilte geschäftig davon.

Fräulein Klara und Fräulein Gertrud sprachen von jeder Seite tröstend auf das laut schluchzende Hänschen ein.

»Wir wollen dich hier ebenso liebhaben wie dein Vater und deine Mutter, Hanna. Wenn du brav und lieb bist, besucht dich der Vater gewiß zu Pfingsten wieder. Vielleicht kommen die Eltern sogar hierher nach Brückenberg zur Sommerfrische.«

Hänschen hörte nichts von all den wohlgemeinten Trostworten. Sie vernahm nicht das Lachen und helle Gejubel der nebenan spielenden Jugend. Sie weinte – weinte – als könne sie nie wieder aufhören.

Da berührte etwas Kaltes ihre Hand. Mullerchens schwarze Schnauze drängte sich zärtlich zwischen ihre Finger. Diese begannen das schwarze Hundehaar zu streicheln. Ach – wenn es auch nicht ihr Pitt war, er erinnerte sie doch an daheim. Das Weinen wurde etwas ruhiger.

Als Mutter Liebig nach kurzem wieder erschien, Hänschen zu holen, ließ sie sich, nachdem die beiden »Hühner« ihr noch gute Nacht wünschend, die Wange geklopft, in ihr Zimmer geleiten. Ach, das ausgewärmte Bett tat wohl! Es war doch entschieden angenehmer, hier zu schlafen als draußen im Schnee.

»So – nu bring' ich dem Herzl noch a Gläsel heiße Milch, die tutt gutt.« Mutter Liebig verschwand.

Aber als sie mit der stehengebliebenen Abendmilch zurückkehrte, schlief Hänschen schon. Oder sie tat wenigstens so. Mutter Liebig mußte mit ihrer Milch wieder abziehen.


 << zurück weiter >>