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Sechzehntes Kapitel
Bunt sind schon die Wälder

Was waren das für herrliche Sommerwochen, die Hänschen gemeinsam mit den Eltern in Brückenberg verlebte. Wenn die schönsten Tage nur nicht gerade die unangenehme Eigenschaft hätten, die längsten Beine zu besitzen und mit Riesenschritten zu enteilen. Ehe man es sich versah, waren sie vorüber und die Koffer wieder zur Heimreise gepackt. Und da geschah etwas Merkwürdiges. Als die Mutter ihr Hänschen beim Abschied in die Arme nahm, sie und gleichzeitig sich selbst tröstend: »Sei nicht traurig, Hänschen, ich habe es beim Vater durchgesetzt, daß du nur noch bis Oktober im Waldheim bleibst. In vier Wochen bist du wieder daheim bei uns in Potsdam.« Ja, da geschah es, daß Hänschen erschreckt den Kopf hob und unter Abschiedstränen bat: »Bitte, Muttichen, laßt mich doch noch im Waldheim! Ich bin ganz furchtbar gern da.« Und als sie dann zwischen Tante Klärchen und Mieke dem Zuge, der die Eltern davontrug, nachwinkte, da hatte sie, trotzdem die Tränlein flossen, ein großes Glücksgefühl, daß die schwarze Ratterschlange sie nicht auch in ihren Eisenleib hineingefressen hatte. Daß sie noch bleiben durfte. Sie nickte den blauen Bergen ringsum vertraut zu: »Mich werdet ihr so schnell nicht los!«

Rosen verblühten. Nur ein Spätrosenstrauch erinnerte noch an die Sommerfreuden. Bis auch er eines Morgens entblätternd den bunten Herbstastern und Georginen endgültig das Feld räumte. Metallschimmernd stand der Wald. Goldblinkend, messingflimmernd, kupfrigglühend. Dazwischen die schwarzen, graubärtigen Föhren wie alte Herren im feierlich schwarzen Frack unter farbenprächtigen Balldamen. Welkes Laub knisterte, blitzte und funkte im Sonnengold. Die Apfelbäume im Waldheim hatten rotbäckige Gesichter bekommen, wie die Zöglinge, die ihnen mit langen Netzstangen und Leitern zu Leibe gingen. Holla – was war das fetzt für ein emsiges Leben und Treiben in Haus und Garten. Wie in einem Ameisenstaat, wo es galt, sich für den Winter einzudecken. Hoch oben in den Baumwipfeln thronte Hänschen. Was – erst mit Stangen und Leitern in die Bäume klettern? Das war dem Wildfang viel zu umständlich. Von der Galerie aus schwang sie sich, zum Gaudium der Gefährtinnen und zum Entsetzen der Miß, wie ein Vogel in das schwankende Geäst, pflückte für den Hausbedarf und vor allem für den eigenen Magen.

»Kinder, laßt mir bloß noch meinen Wintervorrat übrig, sonst gibt's Weihnachten keine Äpfel.« Nur wenn sie es gar zu arg trieben, erhob die Pensionsmutter Einspruch. Obst ist gesund, und sie fühlte selbst noch zu jung, um die Freuden der Jugend zu beeinträchtigen.

Drunten in der Küche stand Mutter Liebig, mit der Schaumkelle bewaffnet, an den großen Kupferkesseln, in denen das Obst eingekocht wurde. Ihr gutmütig breites Gesicht glühte wie ein Hitzemond. Die mit Ärmelschürzen ausgerüsteten Zöglinge umgaben sie als Trabanten wie die Sterne. Seit Oktober waren auch Hänschen und Mieke, soweit die wissenschaftlichen Stunden es gestatteten, unter die Wirtschaftselevinnen eingereiht. Mutter Liebig begrüßte diesen Zuwachs in ihrer Trabantenschar mit einem frohen und einem bedenklich ernsten Auge. Mieke war ein zuverlässiges, pflichtbewußtes Mädel, zu jeder Arbeit brauchbar. Aber Hänschen? Sie war nun mal Mutter Liebigs erklärter Liebling. Trotzdem konnte es sich die verständige Frau nicht verhehlen, daß, seitdem Hänschen ihr Wesen, oder vielmehr ihr Unwesen, in der Küche trieb, alles dort auf den Kopf gestellt wurde. Ein richtiger Eulenspiegel war das Mädel. Sollte sie den Braten klopfen, so holte sie dazu den Ausklopfer, mit dem die Teppiche bearbeitet wurden. Als sie Eiweiß zu Schnee schlagen sollte, erschien sie zu dieser Tätigkeit in ihrem neuen Rodelkostüm. Sie schlug auf das Eiweiß los, daß es wie ein Springbrunnen über die kreischende Umgebung herniedersprühte. Und als Mutter Liebig sich erkundigte, ob es denn noch nicht steif sei, bekam sie zur Antwort: »Jawohl, mein Arm ist schon ganz steif, bloß – der Schnee noch nicht.« Ja, da war es kein Wunder, daß kein rechter Ernst mehr unter den Küchenlehrlingen zu finden war. Sie kamen aus dem Lachen gar nicht heraus und machten alles verkehrt, da sie mehr Interesse für Hänschens amüsante Tätigkeit zeigten als für die eigene. Sogar Mutter Liebig passierte es, daß sie einen Kessel mit Sirup anbrennen ließ, weil Hänschen aus dem Mürbeteig sie selbst in höchsteigener Person geformt hatte in ihrer ganzen stattlichen Breite, den Schaumlöffel wie ein Zepter schwingend. Sogar die Tiere machte Hänschen Tunichtgut rebellisch. Putzerle, das sonst wohlerzogen am warmen Herd geschnurrt hatte, war außer Rand und Band, sobald Hänschen sich nur zeigte. Es setzte über Schüsseln und Töpfe fort, warf Milchkrüge um und rollte Eier wie Kegelkugeln in der Küche umher. Und auch das bejahrte Mullerchen kam wieder auf seine Jugendtorheiten zurück und eröffnete unter Hänschens Oberkommando eine wilde, geräuschvolle Fliegenjagd in den heiligen Hallen der Küche.

Da legte sich Fräulein Trudel schließlich ins Mittel. Sie wurde bei ihrer Schwester vorstellig, den jüngsten Küchenrekruten noch auf einige Monate zurückzustellen, da ihm der nötige Ernst zu der wirtschaftlichen Betätigung vorläufig noch fehle. So wurde Hänschen, zum größten Bedauern des gesamten Küchenpersonals, von des Hauses Herd verwiesen. Mutter Liebig fehlte der übermütige Kobold am allermeisten, aber – das Essen brannte jetzt nicht mehr an.

Der 1. Oktober hatte verschiedene Veränderungen im Waldheim gebracht. Margot, Gustel, Miny und Elli Broddersen hatten tränenreichen Abschied genommen. Neue waren dafür wieder eingerückt. Statt der blonden Bremerin hatte ein schwarzzöpfiges, wortkarges Mädel aus Oberschlesien das Zimmerquartett vervollständigt, Marga Rinberg. Hänschen nannte sie sofort »Margarine«. Aber als sie sah, daß es der Neuen ähnlich erging wie ihr selbst vor einem halben Jahr, daß sie Heimweh hatte und sich höchst unbehaglich in der Fremde fühlte, nahm sie warmen Anteil an dem armen Ding. Sie erzählte ihr, wie unglücklich sie zuerst im Waldheim gewesen war, daß sie sogar ausgekniffen sei, und daß sie jetzt am liebsten ihr Lebtag bei Tante Klärchen im Hühnerstall bleiben würde. Aber ihr Vertrauen wurde nicht erwidert. Marga blieb brummig und zugeknöpft. Miekes Freundlichkeit nahm sie gleichgültig entgegen. Sie lachte weder über Kätchens Dialekt noch über Hänschens Faxen. Es war, als ob lustigen Schmetterlingen plötzlich ein Bleigewicht an die Flügel gehängt würde. Alle übermütige Fröhlichkeit in dem gemütlichen Zimmer zog die Neue mit ihrer brummigen Miene zu Boden.

»Ich feiß euch, faß fir dun sollen, fir kraulen die egliche Markarine einwach fieter heraus,« schlug Kätchen vor.

»Wollen wir nicht lieber versuchen, ihr das Einleben hier zu erleichtern?« wandte Mieke bittend ein.

Hänschen schwankte. Sie war eigentlich viel mehr für Herausgraulen. Aber als sie Miekes gute Augen so bittend auf sich gerichtet sah, schlug sie sich auf die Seite der Freundin: »Na meinetwegen. Bis Weihnachten wollen wir es noch mit dem Brummteufel ansehen. Aber wenn die Margarine dann nicht butterweich wird und schmilzt, wird sie 'rausgeekelt.«

»Ter Prummdeuwel fird euch im kanzen Läben nicht pudderfeich.« Kätchen hatte wenig Hoffnung.

Auch andere Veränderungen hatte das Wintersemester im Gefolge gehabt. Statt der Tennisstunde gab es Grazien- und Turnstunde bei Fräulein Gretl. O Gott – wie stellte man sich dabei an! Es war nur gut, daß die »Herren« – Sekundaner und Primaner aus dem Hirschberger Gymnasium – erst zur vierten Stunde zugelassen wurden. Besonders die Grazienstunde gab andauernd Stoff zum Lachen. Fräulein Gretl fand, daß keine von all den Zöglingen sich zu benehmen wußte. Keine verstand richtig zu grüßen. Fräulein Gretl vertrat bald eine ältere würdige Dame, die einen ehrfurchtsvollen Gruß erheischte, bald einen fremden Herrn, dessen Gruß es mit abgemessener Freundlichkeit zu erwidern galt. Bald stellte sie eine gleichaltrige Freundin vor, bald einen Lehrer, den man mit Respekt zu grüßen hatte.

»Quatsch – ich nicke nicht wie ein Hottehüh!« Nachdem Hänschen ungefähr ein halbes dutzendmal vergebliche Anstrengung gemacht hatte, den Gruß, den sie einer älteren Dame zu entbieten hatte, respektvoll genug auszuführen, stieß sie es ungeduldig hervor.

»Gemach – gemach, Fräulein Heißsporn.« Tante Klärchen hatte die Äußerung im Eintreten vernommen. »Komm mal her, Hänschen, jetzt wünsche ich alte Dame von dir mit der schuldigen Ehrfurcht begrüßt zu werden. Aber erst wollen wir die Mähne mal zurückbinden, sonst siehst du wirklich wie ein kleines ›Hottehüh‹ aus. So – also nun begrüße mich, wie es sich gehört.« Fräulein Huhn hatte noch nicht ausgesprochen, als ihr das Küken bereits an den Hals geflogen war und sie herzhaft abküßte.

»Mädel – laß los – ich ersticke – – –« Fräulein Huhn vermochte kaum dem Sturm standzuhalten. »Mein Lebtag biete ich mich nicht wieder zum Probierkarnickel an,« sagte sie, in das allgemeine Lachen einstimmend, nachdem sie wieder zu Atem gekommen. »Wärst du mir nur wenigstens wie eine Elfe an den Hals geflogen, Hänschen. Aber du hast trotz der Grazienstunde ungefähr die Anmut entwickelt wie Petz, der Bär.«

Was alle Aussetzungen Fräulein Gretls nicht vermocht hatten, das bewirkte der Humor von Tante Klärchen. Hänschen wollte kein Petz sein. Sie begann auf ihre steifen, ungelenken Bewegungen zu achten und gab sich Mühe, dieselben anmutiger zu gestalten. Zwar litt sie noch öfters dabei Schiffbruch. Besonders in der Tanzstunde. Mit dem Malerjüngling im Sommer war es noch einigermaßen gegangen, da derselbe ein guter Tänzer gewesen war und Hänschens geißenartige Sprünge immer wieder in die richtigen Bahnen gelenkt hatte. Aber die Tanzjünglinge stellten sich noch ungeschickter an als Hänschen. Sie traten ihren Damen auf die Lackschuhchen, was Hänschen zu dem nicht sehr damenhaften Ausruf veranlasse: »Au, Sie Trampeltier, meine besten Hühneraugen!« Sie wurden rot, wenn man sich mit ihnen unterhielt, was lebhaftes Geflüster und Gekicher bei den Backfischen auslöste. Sie unterhielten sich beim Tee vom Theater in Hirschberg und von Gerhart Hauptmann, der gar nicht weit, in Agnetendorf, sein Landhaus hatte. Sie sprachen von der »Versunkenen Glocke« und von »Hannele«, und Hänschen begann sich ihrer Unbildung zu schämen, daß sie erst bei den Schillerschen Dramen angelangt war und noch gar nichts von Gerhart Hauptmann kannte.

»Ich habe den glühenden Wunsch, von Hauptmann ein Autogramm zu besitzen,« sagte der Tanzstundenherr.

»Warum nicht lieber gleich ein Luftschiff!« rief Hänschen, die nicht wußte, daß man unter Autogramm eine eigenhändige Namensunterschrift berühmter Größen versteht. Sie stellte sich darunter wohl eine besondere Art von Auto vor.

Allgemeines Gelächter erhob sich. Hänschen wurde weidlich ausgelacht. Die Tanzstundenjungs wieherten vor Vergnügen. Die Pensionsschwestern quiekten, ja, selbst die Huhnschen Damen »gackerten«, wie das bitterböse Hänschen empört feststellte.

»Fie gann man nur so tumm sein und nicht fissen, fas 'n Audokramm ist,« rief Kätchen Kugelmann, erfreut, Hänschen was am Zeuge zu flicken.

»Ei, Kätchen, erkläre es Hänschen,« meinte die Pensionsmutter mit feinem Lächeln.

Kätchen wurde rot wie ein Plättbolzen. Sie schnappte einige Male nach Luft und stieß hervor: »Nu, weeß Gnebbchen, een Audokramm, das ist eich a Geficht fie a Gilokramm.«

Jetzt wurde das Gelächter geradezu tobend. Hänschen stimmte nicht zum wenigsten darin ein, denn Rache ist süß. Und da sie inzwischen von der getreuen Mieke über das Wesen eines Autogramms aufgeklärt worden war, rief sie: »Gädchen – ich ferd' tir zeiken, fas 'n Autokramm ist, fenn ich erst eins von Hauptmann hapen du. Ich pitte ihn pestimmt darum.«

»Nimm den Mund nicht zu voll, Hanna,« beschwichtigte Fräulein Gretl. »Gerhart Hauptmann hat mehr zu tun, als jedem Pensionsgänschen, das ihn um sein Autogramm anbettelt, den Wunsch zu erfüllen.«

Bei Hänschen aber stand es von diesem Augenblick an fest, sie wollte nach Agnetendorf und den Dichter um sein Autogramm bitten.


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