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Drittes Kapitel
Kaffee-Einladungen

Fräulein Schmidt ahnte nichts davon, daß ihr schön geschriebener Anklagebrief den Kanal entlang in die Havel hineinsegelte und dann weiter, immer weiter bis in die Elbe. Ihr kam es gar nicht in den Sinn, daß eine ihrer Schülerinnen es wagen könnte, ein Schriftstück der Schulvorsteherin daheim nicht abzugeben.

Hänschen machte der Brief absolut keine Sorgen mehr. Sie hatte Luise pflichtschuldigst mitgeteilt, daß ihre Weckuhr ihr einen Anschnauzer von der Lehrerin eingetragen habe.

»Jotte doch, die soll sich man nich haben. Was so 'ne Weckuhr is, die hat ihre Mucken wie 'n Mensch. Wenn's ihr jrade paßt, denn weckt se, und wenn nich, denn läßt se's bleiben,« hatte Luise philosophisch geantwortet. Nein, auf Luise machte Fräulein Schmidts »Anschnauzer« gar keinen Eindruck.

Schon mehr auf die Mutter. Die war sehr aufgebracht darüber, daß man ihr braves, unschuldiges Töchterchen eines solchen Streiches überhaupt für fähig hielt. Hänschen war ehrlich genug, der Mutter auch von dem den Kanal entlang schwimmenden Briefe zu erzählen. Natürlich nicht so ganz ausführlich. Es genügte, daß der Sturm ihr den Brief fortgerissen hatte. Es genügte, daß Mutti sich hinsetzte und nun ihrerseits ein Schriftstück an Fräulein Schmidt verfaßte, in dem sie mitteilte, daß sie selbst ihrer Tochter die Weckuhr zur Reparatur mitgegeben habe. Hänschen Tunichtgut war glänzend gerechtfertigt. Denn dieser Brief flog merkwürdigerweise nicht in den Kanal, trotzdem der Sturm noch genau so stark tobte.

Vater erfuhr nichts von dieser Korrespondenz. Ach was, Vater hatte genug Ärger im Dienst, dem brauchte man daheim nicht noch mit solchen unwichtigen Dingen zu kommen, fand Hänschen in kindlicher Fürsorge. Besonders, wo Vater schon geladen war wegen ihres, wie er meinte, ungehörigen Benehmens dem Herrn Regierungspräsidenten gegenüber. Wo er von einer strengen Zucht sprach, einer energischen Erzieherin oder einer Pension, puh – Hänschen schüttelte sich. Die Erzieherin graulte sie raus, wie sie's noch bisher mit jeder gemacht hatte. Und eine Pension? Keine vierundzwanzig Stunden blieb sie dort. Da kniff sie einfach wieder aus.

Überhaupt, Mutti würde es gar nicht zugeben, daß sie von Hause fortkam. Sie war doch ihre Einzige. Mutti trennte sich bestimmt nicht von ihrem Hänschen.

Nein, das alles machte Hänschen gar keine Sorge. Auch nicht, daß der Name Hänschen Tunichtgut allgemein in der Schule verbreitet wurde. Daß sich zwei Parteien bildeten, die eine um Hänschen, die andere um Agathe. »Tunichtgute« nannten Agathes Anhängerinnen Hänschens betreuen, während sie selbst als »Schnattergänse« bezeichnet wurden. Daran gewöhnte man sich. Man mußte sich höchstens Mühe geben, dem Namen als Anführerin der Tunichtgute auch würdig zu entsprechen. Allzu große Mühe brauchte sich Hänschen eigentlich aber gar nicht dazu zu geben.

Auch daß Fräulein Schmidt ihr mitgeteilt hatte, daß es um ihre Osterversetzung sehr wackelig stünde, machte kaum irgendwelche Sorge.

Hänschen fand, daß man mit vierzehn Jahren noch sehr jung sei und sich damit Zeit lassen könne, in die erste Klasse zu kommen.

Ganz anderes machte unserem Hänschen Kopfschmerzen. Mutti wollte einen Damenkaffee geben, einen »Kaffeemops«, wie Hänschen es nannte, den ersten, seitdem sie hier in Potsdam wohnten. Das war früher in Kiel nichts Besonderes gewesen. Da war nur die Weisung erfolgt, daß sich Hänschen inzwischen möglichst zahm, möglichst wenig lärmend verhalten sollte. Allenfalls hatte das jeweilige Fräulein sie mit frisch gebürsteten Locken und sauber gewaschenen Händen hineingeschickt, ihren Knicks zu machen.

Hier war das anders. Mutti wünschte diesmal, daß Hänschen die Einladungen den Damen persönlich überbringe. Major Wedels Irma, Baurats Mieze und Oberstaatsanwalts Agathe hatten es neulich getan, und man war allgemein entzückt gewesen von den niedlichen wohlerzogenen Mädchen. Frau Regierungsrat wollte mit ihrem Hänschen, das nicht häßlicher war als die drei, ebenfalls Ehre einlegen.

»Das ist hier in Potsdam so Sitte,« stellte sie Hänschen vor.

»Ich bin keine Potsdamerin,« knurrte Hänschen, durchaus nicht einverstanden. »Und Briefträger bin ich noch viel weniger. Man kann doch die Einladungen mit der Post schicken, statt daß ich mir die Lunge treppauf, treppab rauslaufen muß,« sagte sie ungezogen.

»Hanna, sei nicht naseweis.« Vater blickte ernst über seine Zeitung hinweg.

»Ja, Kind, wenn du meinst, daß es für dich zu anstrengend ist, schicke ich natürlich die Einladungen mit der Post.« Mutti blickte besorgt auf ihr Hänschen.

»Sicher ist es viel zu anstrengend für mich, überhaupt wo ich vor acht Wochen erst Grippe gehabt habe und vor drei Jahren die Masern,« bestätigte Hänschen frohlockend.

»Nichts da – Hanna, du gehst! Was andere junge Mädchen tun, kannst du auch. Dir wird viel zu sehr nachgegeben. Deine Mutter ist zu schwach und zu gut für dich.«

Nun war Hänschen durchaus nicht Vaters Ansicht. Aber einem gewissen Ton des Vaters gegenüber wagte selbst Hänschen Tunichtgut keine Einwendungen mehr.

Knurrend und murrend mußte sie sich dazu entschließen, am nächsten Tage die beste Garnitur anzulegen, das hellgraue Frühjahrskostüm, dazu den Samtbibi, nicht die geliebte Mütze – nein, wie ein Grasaffe sah sie aus! Ein wütendes Gesicht schaute Hänschen aus dem Spiegel entgegen.

»Handschuhe, Hänschen, zieh die Glacéhandschuhe, die du zu Weihnachten bekommen hast, an.« Befriedigt musterte Frau Regierungsrat ihr Töchterchen. Ihr Hänschen konnte es mit Irma Wedel entschieden aufnehmen.

»Sei liebenswürdig und bescheiden, Hänschen, mach' eine Empfehlung von mir und küss' den Damen die Hand,« mahnte die Mutter.

»Pfoten lecken – ich bin doch nicht Pitt!« Hänschen sah durchaus nicht liebenswürdig aus. Ihr Gesicht wurde auch nicht freundlicher, als sie dann in der warmen Märzsonne durch die Straßen Potsdams spazierte. Die Glacéhandschuhe preßten; sie hielten eine leere Zuckertüte, in die Hänschen sämtliche Einladungen gestopft hatte. Das hatte sie wenigstens durchgesetzt, daß die Mutter ihr schriftliche Kaffee-Einladungen an die Damen mitgegeben hatte, die sie denselben mit einer Empfehlung aushändigen sollte. Nicht erreicht aber hatte sie es, daß das Einladungskärtchen an die Frau Oberstaatsanwalt mit der Post gesandt wurde. Nein, das würde Frau Oberstaatsanwalt entschieden verletzen, wenn sie als einzige durch die Post geladen würde. Wohl oder übel mußte sich Hänschen dazu entschließen, sich ins Lager der »Feindin« zu begeben.

Wenn sie die Agathe, die »Schnattergans«, bloß nicht traf.

»Das Unangenehmste zuerst,« pflegte der Regierungsrat zu sagen. Nach diesem Ausspruch des Vaters handelte Hänschen, als sie jetzt das Haus am Kanal mit den steinernen Rosengirlanden betrat.

»Aufgang für Boten und Dienstpersonal«, stand dort auf einem Schild zu lesen. Hänschen frohlockte und schlich sich zur Hintertreppe. Hier war sie wenigstens sicher, die Agathe nicht zu treffen. Und eigentlich war sie ja auch nur ein Bote.

Eine Küchenfee begegnete ihr und maß mit erstaunten Blicken das junge Mädchen, das mit dem hellen Frühjahrskostüm und den Glacéhandschuhen recht wenig zu dem Hinteraufgang paßte.

An der Tür, die den Namen »Jeserich« trug, machte Hänschen halt. Aus der Küche klang eine Mädchenstimme. »Das ist die ›Schnattergans‹,« dachte Hänschen. »Klingeln tue ich bestimmt nicht!«

Kurz entschlossen warf sie die Einladung durch den Türspalt, durch welchen der Zeitungsjunge die Zeitung zu werfen pflegte. Unglücklicherweise hatte das Mädchen den Mülleimer zum Leeren gerade an die Tür gestellt. Dort herauf fiel die Einladung der Frau Regierungsrat Wallenberg.

Die Klappe am Türspalt schlug laut auf. »Da ist was durchgeworfen worden, Mutter,« rief Agathe und lief neugierig zur Hintertür. »Ein Brief, im Mülleimer liegt ein Brief.« Mit spitzen Fingern zog sie zwischen Asche, Küchenabfällen und Papier die Einladungskarte hervor.

»Das ist ja eine merkwürdige Art, die Leute einzuladen,« meinte Frau Oberstaatsanwalt, aufs höchste befremdet. »Vielleicht ist das in Kiel so Sitte, bei uns in Potsdam jedenfalls nicht. Auf eine Einladung, die man aus dem Mülleimer aufliest, gehe ich natürlich nicht!«

»Natürlich nicht,« bekräftigte Agathchen.

Inzwischen war die Überbringerin der seltsamen Kaffeeeinladung die Treppe herabgerast, als ob der Verfolger ihr auf den Fersen sei.

So – der Gefahr war sie glücklich entronnen.

Nun weiter zu Nummer zwei.

Was hinderte sie eigentlich daran, es bei den übrigen Damen genau ebenso zu machen wie bei Oberstaatsanwalts? Da brauchte sie keine Empfehlung zu bestellen, keine Pfoten zu lecken und nicht liebenswürdig zu sein. Famos – eine glänzende Idee! Hänschen vollführte aus Freude darüber einen Luftsprung.

»Nanu, wollen Se hier uff 'n Obelisken oder jar uff de Nikolaikirche ruffhopsen, Fräuleinchen?« fragte ein vorübergehender Arbeiter erstaunt. Oft mochte es wohl hier in Potsdam nicht vorkommen, daß eine angehende junge Dame in dieser Weise ihren Gefühlen Ausdruck gab.

Hänschen lachte, nahm den »Samtbibi« vom Kopf und zog die »Glacépfoten« aus. So – nun war sie wieder sie selbst. Mit frischen Kräften jetzt ans Werk. Treppauf – treppab – den Brief durch den Spalt geschoben, geklingelt und heidi – – – wieder hinuntergesaust, ehe noch jemand sie erwischen konnte.

Der Briefträgerberuf machte ihr Spaß. Zweimal allerdings erlitt sie beinahe Schiffbruch. Eine Dame, Frau Oberstabsarzt Michel, öffnete gerade, zum Ausgehen bereit, die Tür in dem Augenblick, als der Brief durch den Einwurf hindurchfliegen sollte.

»Wollen Sie zu mir, liebes Kind?« fragte die Dame freundlich.

»Nein – ja – ich sollte nur – nur diesen Brief von meiner Mutter abgeben,« stotterte Hänschen in einer ihr sonst fremden Befangenheit.

»Danke vielmals,« – die Dame musterte sie durch die Lorgnette. »Ah, sind Sie nicht die kleine Wallenberg – natürlich – – –« sie lächelte. Das war sicher der kleine Zigeunerbub, von dem man sich in Potsdam wahre Vagabundenstreiche erzählte. Wie ein kleiner Vagabund sah das Mädel auch aus, trotz des netten Kostüms. Zerzauste Locken, den Hut in der handschuhlosen Rechten – so kam kein anderes junges Mädchen zu Besuch.

»Es tut mir leid, liebes Kind, daß ich Sie nicht hineinbitten kann. Aber ich bin beim Zahnarzt bestellt und muß pünktlich sein.«

Oh, Hänschen bedauerte das ganz und gar nicht. Im Gegenteil, sie segnete sämtliche hohle Zähne der Frau Oberstabsarzt, daß dieselben sie von dem unbequemen Besuch befreiten. So schnell als möglich trennte sie sich unten wieder von der Dame. Auch diese legte keinen Wert darauf, mit dem so wenig korrekt aussehenden Backfisch durch die Straßen Potsdams, die an steife Etikette gewöhnt waren, zu stolzieren.

Noch einmal hatte Hänschen Schwierigkeiten in ihrem neuen Amt als Briefträger. Baurats wohnten in einer Villa mit Garten. Man mußte denselben durchqueren, um an die Haustür zu kommen. Baum und Gesträuch standen noch kahl in der Vorfrühlingssonne. Wie leicht konnte jemand sie vom Fenster aus erblicken.

Aber Hänschen war um Auswege nicht verlegen. Einfach hingeduckt und an den Hecken entlang auf allen Vieren gekrochen – beim Indianerspiel in Kiel hatte sie das oft genug so gemacht. Allerdings trug sie damals kein hellgraues Frühjahrskostüm.

Sie war auf diese immerhin etwas ungewöhnliche Weise bis in die Nähe des Hauses gelangt, als plötzlich aus dem Mansardenfenster im ersten Stock eine Stimme erklang: »Stillgestanden, Kerl – oder ich schieße!«

Hänschen schielte erschreckt durch das Fliedergezweig nach oben. Dort stand ein junger Mensch, einen Revolver in der Hand, dessen Mündung auf sie gerichtet war.

Im Nu war Hänschen auf den Füßen. »Nicht schießen, bitte, bitte, nicht schießen!« schrie sie. »Ich will ja bloß einen Brief abgeben.«

Verdutzt blickte der energische Jüngling da oben auf den »Kerl« in Mädchenkleidern.

»Dazu braucht man sich doch nicht wie ein Einbrecher hineinzustehlen,« brummte er, ein wenig verlegen über seine Voreiligkeit.

Hänschen aber – als sie sah, daß er nicht schoß – da schoß sie selber zur Haustür, entledigte sich des Briefes und verließ spornstreichs das lebensgefährliche Terrain.

Nun hatte sie ihre Pflicht voll und ganz, sogar unter Einsetzung des eigenen Lebens, getan.

Mutter freilich war sehr wenig erbaut über die verwahrlost heimkehrende Tochter. Auch daß sie die Damen nicht persönlich gesprochen hatte, war ihr nicht recht. Waren die Damen alle bei dem schönen Frühlingswetter ausgegangen? Sie ahnte ja nicht, in welcher Weise sich Hänschen ihres Auftrages entledigt hatte.

Die Kaffee-Einladungen der Frau Regierungsrat Wallenberg wirbelten viel Staub in dem stillen Potsdam auf. Unerhört – auf diese Weise einzuladen! Wollte die Dame das Porto sparen? Anstand und gute Sitte hätten es verlangt, die halberwachsene Tochter zu schicken. Nein, solcher Einladung konnte man unmöglich nachkommen.

5o sprachen die Frauen. Die Männer aber waren anderer Meinung. Regierungsrat Wallenberg erfreute sich trotz der Kürze seines Aufenthaltes in Potsdam allgemeiner Beliebtheit. Auch war er ein einflußreicher Beamter, man durfte sich die Leute, welche die Potsdamer Gepflogenheiten noch nicht kannten, keineswegs vor den Kopf stoßen.

Als nun Frau Oberstabsarzt erzählte, daß sie die kleine Wallenberg persönlich beim Briefbestellen gesprochen habe, und auch Frau Baurat von dem kriechenden Einbrecher, den ihr Sohn beinahe niedergeschossen hatte, berichtete, kam man allmählich dahinter, daß es doch wohl nur eine Ungeschicklichkeit des Backfisches gewesen sein mochte. Man sagte zu. Sogar Frau Oberstaatsanwalt Jeserich, die ihre Einladung aus dem Mülleimer gezogen hatte. Ein wenig weibliche Neugier war wohl auch dabei. Man wollte doch sehen, wie die Wallenbergs sich eingerichtet hatten, wie sie lebten. Und vor allem wollte man sich mal ihren »Zigeunerbub« in der Nähe besehen.


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