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Achtes Kapitel
Die Neue

Das Gong, das drunten in der Diele hing, weckte mit dröhnendem Befehl all die jungen Schläferinnen im Waldheim.

Hänschen fuhr erschreckt hoch und rieb sich die Augen. Hatte Luise sie nicht soeben gerufen – mußte sie in die Schule zu Fräulein Schmidt? Ein fremdes Mädchengesicht beugte sich über sie. Ein fremder Hemdenmatz stand vor dem erstaunten Hänschen und sagte: »Na, Kott Strampach, die Neie schläft euch ja wie a Murmeldier!«

Richtig, sie war ja die »Neue«. Sie war ja im Waldheim, im Hühnerstall. Nachdem sich Hänschen davon überzeugt hatte, daß noch zwei weitere Hemdenmätze an ihren Waschtischen bereits lustig plätscherten, schloß sie wieder die Augen. Sie wollte nicht aufwachen. Sie meldete sich einfach krank. Die Augenlider waren ihr auch tatsächlich bleiern schwer. Daß dies in Potsdam, wenn Luise sie weckte, auch jeden Morgen der Fall gewesen war, kam Hänschen nicht in den Sinn.

»Du« – eine der fremden Hände rüttelte sie – »du – du machst dir Unannehmlichkeiten, wenn du nicht pünktlich um halb acht am Kaffeetisch bist.«

»Laß mich in Frieden,« knurrte Hänschen verschlafen. »Ich bin krank.«

»Fenn te grank bist, tann gocht tir Fräulein Drutel einen Gräiderdee, ter schmeckt kräßlich.« Die ausgesprochene sächsische Mundart der Zimmergenossin veranlaßte, daß Hänschen plötzlich ganz munter wurde und trotz ihrer Krankheit laut zu lachen begann.

»Ei, häre, meine Kuteste, tu bist wohl kar aus Sachsen?« äffte Hänschen Tunichtgut sofort die Sprache nach.

»Wreilich, von Trästen. Gädchen Gukelmann aus Träsden.« Kätchen Kugelmann wußte nicht, sollte sie mit den anderen mitlachen oder übelnehmen.

»Und ich bin aus Bodstam – Hanna Fallenperk aus Bodstam. Aber keporen bin ich tir in Giel.« Damit sprang Hänschen Tunichtgut ebenfalls aus den Federn. Denn der gräßliche Kräutertee von Fräulein Trudel wirkte schon im voraus gesundmachend.

Elli Broddersen aus Bremen kämmte bereits ihr blondes Haar und flocht es in zwei lange Zöpfe, die sie am Hinterkopf aufsteckte. Sie mochte wohl schon sechzehn Jahre zählen und war die Älteste des Zimmerquartetts.

Hänschen wurde schneller mit ihrer Frisur fertig. Ein-, zwei-, dreimal mit Kamm und Bürste die kurzen braunen Locken bearbeitet – fertig. Beim Anziehen sah sie sich ihre Pensionsschwestern etwas genauer an.

Kätchen Kugelmann war ein kleines, rundliches Ding, das ihrem Namen Ehre machte. Sie hatte kein hübsches, aber ein ausgesprochen lustiges Gesicht. Zwei Grübchen waren ihre Hauptschönheit.

Die vierte, ein recht sympathisch aussehendes Mädchen mit braunen Defreggerzöpfen, das gerade kunstgerecht gurgelte, gefiel Hanna eigentlich von den dreien am besten. Sie hatte keine Ahnung, ob es die Nora, die Miny, die Gustel oder sonst eine war.

»Wie heißt du denn?« wandte sie sich schließlich an dieselbe. Denn wenn Hänschen auch nicht die Absicht hatte, sich lange hier aufzuhalten, ein paar Tage würde es doch immerhin dauern, bis sie 'rausflog. Mit den Zimmergefährtinnen konnte sie sich ja bekannt machen.

»Rrrrrrrr – Mieke – rrrrrrr – Mieke Jeserich – rrrrrr – aus Breslau – –« gurgelte diese und begann jetzt, ihre gesunden weißen Zähne zu bearbeiten.

»Mieke Jeserich aus Breslau?« Hänschen stand entgeistert, einen Stiefel in der Hand, da. Die Kusine von der Schnattergans – mußte sie ihr Unstern auch gerade in das Lager der Feindin führen.

»Was ist denn an meinem Namen so Besonderes?« verwunderte sich Mieke, als die Zahnbürste ihr wieder gestattete, zu sprechen.

»Ich will mit dir überhaupt nichts zu tun haben – du gehörst ja zur Familie der Schnattergänse,« sagte die Neue so abweisend wie möglich und drehte ihr den Rücken.

»Wozu gehöre ich?« Jetzt stand Mieke starr da. »Du machst wohl bloß Spick?«

»Was mache ich?« Hänschen wußte nicht, daß der schlesische Ausdruck für Ulk »Spick« hieß.

Mieke wurde der Antwort überhoben, denn zum zweitenmal erhob das Gong mahnend seine eherne Stimme. Halb acht – Frühstücksstunde.

Türen klappten. Eilige Mädchenfüße klapperten die Treppe hinab. Hänschen mit noch unzugeschnürten Stiefeln lief hinter den andern drein, verschiedentlich über die ihre Füße heimtückisch umschlingenden schwarzen Senkelschlangen stolpernd. Sie betrat das Eßzimmer gerade in dem Augenblick, in dem Fräulein Klara Huhn das Morgengebet mit »Amen« beschloß.

Die Vorsteherin winkte Hänschen zu sich. »Na, hast du gut geschlafen, Hanna? Morgen stehst du zehn Minuten früher auf, nicht wahr? Ich habe gern all meine Pflegekinder beim Morgensegen versammelt. Und du findest dann auch gewiß noch Zeit, dir deine Stiefel oben in deinem Zimmer zuzuschnüren.« Den hellen Augen Fräulein Huhns entging so leicht nichts. Während die anderen Mädchen sich anstießen und belustigte Blicke auf Hänschens schlangenumflatterte Beine warfen, begann diese ungeniert, ihre unvollendete Toilette zu vervollkommnen.

»Aber Hanna, doch nicht hier im Eßraum,« bedeutete sie Fräulein Huhn, lächelnd den Kopf schüttelnd. »Geh ins Nebenzimmer und vergiß nicht, dir nachher noch einmal die Hände zu waschen.«

Als Hänschen mit zugeschnürten Stiefeln erschien, war der Platz zwischen Elli und Clemence am unteren Ende des Tisches, den sie gestern innegehabt, bereits von Fräulein Gretl besetzt.

»Hier sitze ich,« teilte Hänschen ihr mit.

»Du irrst dich, Hanna, hier sitze ich.« Fräulein Gretl lachte, und die Umsitzenden, selbst die kleine Clemence, stimmten ein. »Du sollst deinen Platz jetzt oben neben Fräulein Huhn haben.«

»Was – neben der Henne?« entfuhr es Hänschen. Erschreckt biß sie sich auf die Lippen, denn die Mädchen alle machten geradezu entsetzte Gesichter, daß man die von allen verehrte Pensionsmutter so respektlos zu bezeichnen wagte. Keine lachte. Fräulein Gretl aber war ganz blaß geworden.

»Du zeigst uns, wie notwendig es ist, daß Fräulein Huhn dich unter ihre besondere Aufsicht nimmt,« sagte sie nur und würdigte sie keines Blickes mehr.

Hänschen schob sich unschlüssig auf den leeren Platz, auf dem gestern der Vater gesessen. Hatte Fräulein Huhn die ungehörige Bezeichnung vernommen? Na, ihr konnte es ja nur recht sein. Um so schneller flog sie wieder aus dem Hühnerstall heraus.

Aber ganz tief im Innern war es Hänschen gar nicht recht, wenn Fräulein Huhn, die sich so mütterlich-freundlich zu ihr zeigte, das häßliche Wort gehört hätte. Sie schielte zu ihr hin. Die Vorsteherin unterhielt sich mit Monsieur Lecoq und beachtete vorläufig ihre junge Nachbarin nicht.

Hänschen sah mit Mißvergnügen, daß wieder dieselben Becher wie gestern abend auf jedem Platz standen. Milch schon morgens früh – Hänschen schüttelte sich. Zwei der jungen Mädchen wanderten mit dampfenden Kannen um den Tisch und füllten die Becher. Na, Gott sei Dank, bräunlich floß es in Hänschens Becher, es war Kakao. Trotzdem rutschte er nicht so gut wie daheim. Auch die Brote mit Butter und Honig, die auf ihrem Teller lagen, wollten nicht so recht munden. War daran das englische Gequassel von Miß Pinshes – Hänschen Tunichtgut hatte sie natürlich gleich in Pinscher umgetauft – schuld? Miß Pinshes saß auf Hänschens linker Seite und redete in ihrer Muttersprache auf sie ein. Hin und wieder verstand Hänschen sogar mal ein Wort, aber der Sinn der langatmigen Auseinandersetzung blieb ihr völlig verborgen. Zwar hatten sie in Potsdam bei Fräulein Schmidt auch Konversationsstunde gehabt. Aber Hänschen hatte nie Zeit gefunden, sich daran zu beteiligen. Die hatte stets Wichtigeres zu tun gehabt. Nun saß sie dumm und stumm da wie ein Wickelkind, das zum erstenmal menschliche Sprachlaute vernimmt. Ach, hätte man sie doch unten an der Tafel bei Elli und Clemence gelassen. Heute wäre sie gewiß freundlich zu den beiden gewesen. Die Mädel plauderten alle lebhaft, keines brauchte sie. Eine große Sehnsucht nach ihrer Lore überkam Hänschen plötzlich. Mit wem würde Lore jetzt in den Zwischenpausen gehen? Eine salzige Träne kullerte auf das süße Honigbrot.

»Ei, Hanna, wollen die Schnitten nicht rutschen?« Fräulein Huhn hatte ihre Unterhaltung mit Monsieur Lecoq beendet und wandte sich jetzt ihrer jungen Nachbarin zu. »Was sehe ich – Tränen? Ei, dazu haben wir hier im Waldheim gar keine Zeit. Gleich wird das Gong wieder schlagen zum Beginn des Schulunterrichts und des wirtschaftlichen Kursus, dann müssen die Frühschnitten verzehrt sein. Halt dich nur tapfer ran, Hanna.«

Hänschen hielt sich jetzt tapfer heran. Die Schnitten rutschten plötzlich. Ihr war mit einem Male ein Stein vom Herzen. Nein, Fräulein Huhn hatte ganz sicher vorhin nichts gehört. Sonst wäre sie doch bestimmt nicht so freundlich zu ihr gewesen. Ob Fräulein Gretl sie verklatschen würde? Sie sah nicht danach aus. Und wenn man sie vielleicht noch bat ...

»Ja, was fällt denn dir ein, Hänschen? Du bist glücklich darüber, daß eine ungezogene Bemerkung nicht ans Ohr der Vorsteherin gedrungen ... Du willst eine Lehrerin um Stillschweigen bitten ...?« Hänschen Tunichtgut kannte sich selbst gar nicht wieder. Sie war ja auf dem besten Wege dazu, ein frommes Schaf zu werden! Nee – nee – daraus wurde nichts! Dann schickte man sie gewiß nicht wieder heim.

Trotz dieser widerstreitenden Empfindungen in ihrem Innern ertappte sich Hänschen dabei, daß sie jede der Pensionsschwestern darauf ansah, ob dieselbe sie wohl bei Fräulein Huhn verklatschen könnte. Am ersten noch die Mieke, die Kusine von Agathe – das lag ja da in der Familie.

Zum dritten Male erdröhnte das Gong, diesmal zur Arbeit rufend. Die jungen Mädchen verteilten sich in die Klassenzimmer und in die Wirtschaftsräume je nach Stundenplan. Zwei, die das Amt hatten, das wochenweise wechselte, blieben im Speisezimmer zurück, um den Frühstückstisch abzuräumen.

Hänschen wollte mit den andern zugleich das Zimmer verlassen. Da rief Fräulein Klara Huhn sie zu sich.

»Du kannst erst mal in mein Zimmer mitkommen, Hanna. Ich will prüfen, wie weit du in den verschiedenen Unterrichtsfächern bist, um dich in die richtige Klasse einzureihen.«

Gerechter Strohsack! Hänschen fühlte plötzlich wieder den Stein auf dem Herzen. Da würde Fräulein Huhn nicht viel Freude erleben. Zum ersten Male in ihrer Schulzeit bedauerte es Hänschen, daß sie eine so schlechte Schülerin gewesen.

Das Zimmer von Fräulein Huhn lag im ersten Stockwerk. Es hatte einen runden Erker, in dem Fräulein Huhns Schreibtisch stand. Die fünf schmalen Fenster des Erkers sahen wie ein Garten aus. Blühende Hyazinthen in allen Farben. Jeder der Zöglinge bekam zu Beginn des Winters Hyazinthen und Tulpenknollen zur persönlichen Pflege. Sie wetteiferten darin, besonders schöne Blütenexemplare zu erzielen. Denn die genossen dann die Auszeichnung, an dem Erkerfenster der allverehrten Pensionsmutter weiterblühen zu dürfen.

»Ach, wie hübsch!« entfuhr es Hänschen, als sie Fräulein Huhns Zimmer betrat. Es waren nicht nur die blühenden Blumen am Fenster, durch das die Winterlandschaft, von der Schneekoppe bekrönt, blickte. Es war das ganze Zimmer, das mit seinen alten, hellen Nußbaummöbeln den Stempel der Gemütlichkeit sowohl als den seiner hochsinnigen Bewohnerin trug. So jung Hänschen war, empfand sie diesen Zauber.

»Das freut mich, Hanna, daß es dir bei mir gefällt. Sicher wird es dir in einiger Zeit im Waldheim noch viel besser gefallen.«

»Glaub' ich nicht,« sagte Hänschen mit einer Aufrichtigkeit, die nichts zu wünschen übrigließ.

Fräulein Huhn tat, als hätte sie die Antwort nicht gehört.

»Setz' dich hierher, mein Kind,« sagte die Vorsteherin, wies Hänschen einen Stuhl an und nahm selbst am Schreibtisch Platz.

»Alle guten Geister mögen mir beistehen!« Hänschen stieß ein Stoßgebet aus.

»Wir fangen mit unserer Heimatsprache an. Wie weit seid ihr in Deutsch gekommen?«

»Wir haben zuletzt Wallenstein gelesen.«

»Habt ihr Aufsätze daraus ausgearbeitet?«

»Ja, leider. Schrecklich mopsig war er.«

»Aber Hanna, das kommt doch ganz darauf an, wie man ein Thema bearbeitet. Wie hieß dasselbe denn?«

»Warum fallen Wallensteins Freunde von ihm ab?«

»Nun, das ist doch ganz hübsch – – –«

»Hübsch – – – eine bodenlose Ruppigkeit war es von ihnen,« ereiferte sich Hänschen.

Fräulein Huhn mußte sich auf die Lippen beißen, um ihr Lachen zu verbergen. Die freimütige, unbefangene Art dieses Backfischchens, das noch so wenig von der Kultur beleckt war, machte ihr Spaß. Es war sicher eine lohnende Aufgabe, dieses bubenhafte Ding zu einem anmutigen, mädchenhaften Wesen zu gestalten.

Hänschen ahnte nichts von Fräulein Huhns Erziehungsgedanken. Sie sprang plötzlich so lebhaft von ihrem Stuhl auf, daß derselbe umflog und ein Bein verlor.

»Die Schneekoppenhäuser – ich sehe die beiden Häuser auf der Schneekoppe ganz deutlich,« rief sie aufgeregt.

»Aber Hanna, wie ungestüm! Schau, das kommt davon. Die alten Möbel sind mir lieb und teuer; sie haben schon bei meinen Großeltern gestanden.« Fräulein Huhn hielt bedauernd das abgebrochene Bein dem hölzernen Invaliden an die Wunde.

Hänschen machte ein bestürztes Gesicht. Es tat ihr entschieden leid, daß sie den Möbeln von Fräulein Huhns Großeltern ein Bein abgebrochen hatte. Trotzdem kam ihr der böse Gedanke, daß man vielleicht noch mehr entzwei machen könnte. Dann würde man am Ende bald wieder heimgeschickt.

Auch Fräulein Huhn hatte so ihre Gedanken. Vorläufig war ihr Zögling von anmutiger Mädchenhaftigkeit noch recht weit entfernt ...

Hänschens Hoffnung, durch den Beinbruch von der recht unbequemen Prüfung befreit zu werden, erfüllte sich leider nicht.

»Was für eine Nummer hast du unter dem Aufsatz gehabt?« nahm Fräulein Huhn das unterbrochene Examen wieder auf.

Hänschen wurde ein bißchen rot. »Wir bekamen keine Nummern.« Sie stotterte ein wenig.

»Aber doch wohl irgendein Prädikat.«

»Ja – ich glaube, es war – – –« Hänschen dachte angestrengt nach – »ich glaube, es war noch nicht völlig genügend.« Daß außerdem noch »flüchtig und unsauber« darunter gestanden, darauf konnte sich Hänschen absolut nicht mehr besinnen.

»Hm« – die Vorsteherin schien nicht sehr begeistert. »Und unter den früheren Aufsätzen, was bekamst du da für eine Zensur?«

»Die waren viel besser!« Hänschen hob stolz den Kopf. »Einer war ›genügend, zum Teil schlechter‹ und einer ›im ganzen genügend‹.«

»Na, Hanna, soviel besser kann ich das nun nicht gerade finden. Ich hoffe, du wirst dir bei uns mehr Mühe geben. Ich unterrichte selbst Deutsch. Du wirst mir doch sicher Freude machen wollen?« Das klang warm an Hannas Herz.

Trotzdem schwieg Hänschen. »Man soll nicht lügen,« dachte sie. Gerade die entgegengesetzte Absicht hatte sie doch. Sonst würde man sich hüten und sie an die Luft setzen.

Fräulein Huhn unterdrückte einen Seufzer. Eine leichte Aufgabe würde die Erziehung der Neuen nicht sein, so viel erkannte die erfahrene Lehrerin bereits. Sie ging zu Geschichte und Geographie über.

Das Ergebnis war nicht viel erfreulicher. Hänschen verlegte die Regierungszeit Otto des Großen in das zwölfte Jahrhundert und die Schlacht von Marathon in die Punischen Kriege.

Fräulein Huhn war entsetzt über diese Unwissenheit. Aber als Hänschen in der Geographieprüfung kühn behauptete, Magdeburg läge an der Oder, da hatte Fräulein Huhn genug von dem Examen.

»Ich sehe schon, Hanna, du hast erschreckend große Lücken in deinem Wissen. Deinem Alter nach müßtest du in die obere Abteilung kommen. Aber deine Kenntnisse entsprechen kaum den Ansprüchen, die in der unteren Abteilung gestellt werden. Selbst wenn du im Rechnen und in den Sprachen besser abschneiden solltest, was mir allerdings nicht sehr wahrscheinlich erscheint, sind Deutsch, Geschichte und Geographie für mich ausschlaggebend.«

Hänschen schob unzufrieden die Lippe vor. Wozu war sie da in die erste Klasse versetzt worden, wenn sie hier unter die »Säuglinge« gesetzt wurde.

»Das Schmidtsche Töchteryzeum in Potsdam ist mir besonders gerühmt worden. Ich verstehe nicht, wie du mit derartigen Bildungslücken in die erste Klasse versetzt werden konntest,« verwunderte sich die Vorsteherin.

O weh – zentnerschwer fiel es plötzlich Hänschen auf die Seele. Fräulein Schmidt hatte ihr doch aufgetragen, das Potsdamer Lyzeum würdig zu vertreten. Wie wenig war sie dieser Aufgabe nachgekommen.

»Ich ging nur ein Vierteljahr in Potsdam in die Schule, Fräulein Schmidt kann nichts dafür. Früher war ich in Kiel.« So, nun war doch der Ruf der Schmidtschen Schule nicht durch sie untergraben.

»Wird dir das Lernen schwer, Hanna?« Fräulein Huhn hatte durchaus nicht den Eindruck, daß sie es mit einer unbegabten Schülerin zu tun habe.

»Furchtbar schwer. Ich habe immer tausendmal lieber mit Pitt gespielt oder gezeichnet, als das langweilige Zeug in den Kopf hineinzutrichtern.«

»Das Lernen scheint nur dem langweilig, der mit Unlust herangeht. Also zeichnen tust du gern. Was zeichnest du denn am liebsten, Blumen oder Ornamente?«

»Nee, das ist alles ledern. Porträts male ich. Am liebsten ulkige.« Hänschen dachte daran, daß sie die Unterrichtsstunden des öfteren zu dieser Privatunterhaltung benutzt und dann natürlich keine Zeit gefunden hatte, aufzupassen.

»Ei, sieh mal, da mußt du mir bald Proben deiner Kunst geben. Jetzt geh, mein Kind. Laß dir von meiner Schwester oder Nichte das Klassenzimmer der unteren Abteilung zeigen. Deinen Stundenplan erhältst du später. Die englische Stunde bei Miß Pinshes hast du leider versäumen müssen.«

»Den Pinscher habe ich heute morgen beim ersten Frühstück bereits ausgiebig genossen,« dachte Hänschen, Fräulein Huhns Bedauern nicht teilend.

»Laß dir die Aufgaben von einer Mitschülerin geben. Und nun hoffe ich, Hanna, daß du dich bemühen wirst, die bösen Lücken auszufüllen. Dann kann ich dich vielleicht schon zu Oktober in die obere Abteilung aufrücken lassen.« Fräulein Huhn hatte eine so liebe Art zu sprechen, daß Hänschen in diesem Augenblicke wirklich den Wunsch hegte, sie nach Kräften zufriedenzustellen.

Aber als sie dann draußen war, aus dem Bann der lieben, blauen Augen, da war von diesem guten Vorsatz nichts mehr zu verspüren.

Pah – bis zum Oktober! Da war sie längst wieder in Potsdam.

Fräulein Gertrud, gefolgt von zwei Pensionärinnen, die wohl schon siebzehn Jahre alt sein mochten, kamen Hänschen in der Diele entgegen. Sie trugen runde Landbrote, Butter, Wurst, weißen Käse und Milch. Es galt wohl, die Frühstücksbrote für all die hungrigen Mäulchen zurechtzumachen. Hänschen erkundigte sich nach dem Unterrichtszimmer. Aber da es ihr vor den großen Mädchen peinlich war, in die untere Abteilung eingereiht zu werden, so verschwieg sie letzteres wohlweislich.

»Miny, bitte, führe die Neue in die Klasse,« gebot Fräulein Gertrud.

»Jawohl, Fräulein Trudel.« Miny, eine schlanke Blondine, stellte ihre Milchkanne, die Hänschen mit scheelen Blicken streifte, auf die Anrichte und schritt der Neuen voraus.

»Die Unterrichtszimmer liegen ganz oben. Du bist doch in der ersten Abteilung?« Noch ehe Hänschen Zeit hatte, bescheiden zu widersprechen, öffnete ihre Führerin die Tür zu einem Klassenzimmer.

»Hier ist die Neue,« meldete sie, nickte Hänschen freundlich zu und ging wieder an ihre wirtschaftliche Tätigkeit.

»Oh, the new – sit down, please.« Zum zweiten Male am heutigen Tage ergoß Miß Pinshes ihre englische Redeflut über Hänschen. Da sie zum Schluß die Stimme hob, nahm die Neue an, daß man sie etwas gefragt habe.

»O, yes,« antwortete sie auf gut Glück. Miß Pinshes schien entzückt.

»Was hat sie gesagt?« fragte Hänschen ihre Nachbarin.

»Ob du die englische Sprache liebst.«

»Speak English, please!« mahnte Miß Pinshes, denn es war verboten, in der englischen Stunde Deutsch zu sprechen.

»No – no – no – – –« schrie Hänschen noch nachträglich, die Frage, ob sie die englische Sprache liebe, verneinend. Der Pinscher verfolgte sie sonst sicher mit seinem unverständlichen Gekläff.

»No – – –« Miß Pinshes war erstaunt, daß eine Schülerin ihrer Aufforderung, nicht Deutsch zu sprechen, ein dreifaches Nein entgegenzusetzen wagte. Sie wandte sich an eine andere. Hänschen atmete auf.

Zu früh.

»Tell us anything of your home, Jane.«

Hänschen hatte nicht die leiseste Ahnung, daß sie mit »Jane« gemeint sein könnte. Erst einige kameradschaftliche Stöße der Nachbarinnen setzten Hänschen davon in Kenntnis, daß Miß Pinshes ihren Namen Johanna in das englische Jane umgetauft habe.

»Du sollst was von zu Hause erzählen.« Es war die neben ihr setzende Gustel, welche den Dolmetscher spielte.

»Zu Hause ist es viel schöner als hier,« begann die Neue, natürlich deutsch. Natürlich lachten die anderen wieder, am meisten Mieke Jeserich. Das wurmte Hänschen.

»Speak English, Jane.«

»Ach Gott – ich bin überhaupt in einer falschen Klasse – – –« Plötzlich fiel es Hänschen ein, daß sie ja in die untere Abteilung gehöre. Nein, mit der Mieke, die zur Familie der Schnattergänse gehörte, wollte sie gar nicht in derselben Klasse sein.

Ehe Miß Pinshes, welche von der deutschen Sprache nicht viel mehr verstand, als Hänschen von der englischen, begriff, um was es sich handele, war die Neue bereits aus der Tür. Das Lachen der oberen Abteilung gab ihr das Geleit.

Hänschen stand auf dem Gang an der Nebentür, hinter welcher Abteilung II sich mit Monsieur Lecoq unterhielt.

Ach was – ein Hahn war auch nicht viel besser als ein Pinscher. Hänschen hielt es für rücksichtslos, die Unterrichtsstunde durch ihren Eintritt zu stören. Der Hahn mochte drin Französisch krähen soviel er wollte, sie blieb draußen.

Ein niedliches, weiß-schwarz geflecktes Kätzchen lief ihr in den Weg. Es war Putzerle, Mutter Liebigs Abgott, ein junges spielerisches Ding. Im Nu hatte Hänschen ihr Taschentuch aus der Tasche gezogen und eine Maus daraus verfertigt. Diese ließ sie geschickt springen.

Bald entwickelte sich eine wilde Jagd in dem stillen Gang. Die Maus sprang – Putzerle sprang mauzend hinterher – Hänschen sprang vor Vergnügen. Von dem Miauen des Kätzchens angelockt, erschien auch Mullerchen auf der Bildfläche und beteiligte sich ebenfalls laut blaffend an der Jagd. Es war ein Gemauze, Gebell und Gejuchze zu dieser sonst so ruhigen Stunde in dem stillen Gang, daß Monsieur Lecoq und Miß Pinshes ihre Türen aufrissen, daß allenthalben neugierige Mädchenköpfe auftauchten, daß Fräulein Huhn erschreckt ihr Zimmer verließ, und daß selbst Fräulein Trudel ihr »Schlesisches Himmelreich«, in dessen Kochkunst sie gerade ihre Wirtschaftselevinnen einweihte, im Stich ließ und spornstreichs ebenfalls die Treppe hinaufgetrudelt kam.

Ein merkwürdiges Schauspiel bot sich dem Publikum.

Mullerchen und Putzerle in höchster Erregung auf eine Taschentuchmaus Jagd machend – Hänschen sich die Seiten vor Lachen haltend.

»Jemersch – jemersch – tas ist eich ja zum gukeln gomisch!« Das lustige Kätchen aus Dresden konnte vor Lachen kaum sprechen.

Fräulein Huhn erschien die Sache weniger komisch.

»Nennst du das Unterrichtsstunde, Hanna?« fragte sie so ernst, daß Hänschen plötzlich das Lachen in der Kehle stecken blieb. »Monsieur Lecoq, Sie werden die Güte haben, Hanna Wallenberg eine französische Arbeit aufzugeben, die sie in der Freistunde, welche die andern Zöglinge nach Tisch haben, anfertigen wird.«

Die Mädchengesichter ringsum, die noch soeben belustigt zugeschaut, wurden bestürzt, gleich am ersten Tage hatte die Neue eine Strafstunde, das war noch nie vorgekommen.

So begann Hänschen Tunichtgut ihre Laufbahn in Pension Waldheim.


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