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Neuntes Kapitel
Pensionsschwestern

Hänschen hatte sich niemals viel aus einer Strafe gemacht. Meistens war sie sogar so dickfellig gewesen, noch darüber zu ulken.

Aber die Strafe von der Vorsteherin gleich am ersten Tage im Hühnerstall ärgerte sie. Vor all den Mädels hätte Fräulein Huhn sie auch nicht zu blamieren brauchen. Sie hatte doch gar nichts Schlimmes ausgefressen. Da hatte Hänschen Tunichtgut schon ganz andere Streiche auf dem Kerbholz gehabt. Und daß auch die Mieke Jeserich Zeuge ihrer Abkanzelung gewesen, war das Allerpeinlichste daran. Sicher schrieb sie es dem Agathchen, und die hatte dann nichts Eiligeres zu tun, als es in der Schule herumzuposaunen, daß Hänschen Tunichtgut bereits am ersten Tage eine Strafstunde bekommen hätte. Fräulein Schmidt würde es erfahren, wie wenig Ehre sie ihrem Lyzeum machte, und vor allem Fräulein Neuberg. Die würde sich dann hüten, sie in den Sommerferien zu besuchen. Ob die Schnattergans der Mieke wohl schon geschrieben hatte, wie ihr ehrenvoller Beiname lautete?

Mit bitterbösem Gesicht erschien Hänschen am Frühstückstisch, wozu das Gong rief. Sie aß nicht – nein! Der Appetit war ihr vergangen. Und noch dazu die vielen Becher mit Milch – ganz elend wurde einem, wenn man die bloß sah. Hänschen ließ die Platte mit den Wurst- und Käseschnitten an sich vorübergehen.

»Nu aper – farum ißte tenn karnischde?« verwunderte sich Kätchen Kugelmann, die beim Frühstück neben Hänschen saß, mit vollen Backen kauend. Das lustige Ding fühlte durch die Mausejagd eine ungeheure Sympathie für die Neue.

»Ich habe keinen Appetit,« sagte Hänschen möglichst großartig.

»Nu aper« – Kätchen konnte sich gar nicht beruhigen – »dringsde auch geine Milch nicht?«

»Brrrr« – Hänschen schüttelte sich.

Ehe die Neue es sich versah, hatte Kätchen geschickt die Becher vertauscht. Hänschen saß vor Kätchens bereits geleertem Becher, während das kugelrunde Kätchen sich vergnügt Nummer zwei schmecken ließ.

Hänschen gefiel dieses Manöver, das unbemerkt geblieben, durchaus. Sie drückte Kätchen dankbar die Hand. »Tu bist e kudes Dierchen!« sagte sie anerkennend in Kätchens Heimatsdialekt.

»Ei, Hanna, dein Teller ist ja unberührt, warum ißt du nicht?« Fräulein Gretl machte noch einmal mit den Schnitten die Runde.

»Ich mag nicht.«

»Bist du krank?« Besorgt faßte Fräulein Gretl nach Hänschens Stirn.

Krank? Das war eine Idee. Dann brauchte sie die Strafstunde am Nachmittag nicht innezuhalten. Leider aber fand Fräulein Gretl Hannas Kopf durchaus kühl und fieberfrei.

»Zum Mittag wirst du mehr Appetit haben. Wir machen vor Tisch einen schönen Spaziergang. Deine Milch hast du ja wenigstens getrunken.«

Hänschen wurde rot. Kätchen kicherte.

Die Stunde nach der Frühstückspause war Deutsch bei Fräulein Huhn. Man las in der unteren Abteilung das Schillersche Gedicht »Die Kraniche des Ibykus«. Auch Hänschen kam zum Vorlesen an die Reihe. Mit lauter Stimme begann sie zu rufen:

»Sie da – Sie da – Timotheus –
Die Ibiche des Kranikus.«

Ein nicht enden wollendes Gelächter brach in der unteren Abteilung aus. Das war ein Prusten, Kichern und Juchen, daß es selbst Fräulein Huhns respekteinflößender Persönlichkeit erst nach verschiedenen Mißerfolgen gelang, die Ruhe wiederherzustellen.

»Du hast dich wohl nur versprochen, Hanna,« sagte die Vorsteherin ernst. Trotzdem sie den beabsichtigten Ulk genau durchschaute. »Auch hätte ich dich nicht für so dumm gehalten. Du scheinst ja noch nicht einmal den Unterschied zwischen dem Imperativ sieh mit h geschrieben und der Anrede Sie zu kennen. Der Ton muß auf da liegen.

Sieh da – sieh da – Timotheus,
Die Kraniche des Ibykus.

Wenn du soweit zurück in deiner Auffassung bist, wirst du schwerlich selbst hier in der unteren Abteilung mitkommen. Dann muß ich dich extra mit der kleinen Clemence zusammen unterrichten lassen.«

Hänschen, die noch eben die Lacher auf ihrer Seite gehabt hatte, war jetzt die Blamierte. Ganz rot wurde sie. Was – nicht mal für die untere Abteilung sollte sie die Reife haben? Mit dem Wurm, der kleinen Clemence, wurde sie auf eine Stufe gestellt – unerhört! Na, wenn Fräulein Huhn ihr das antat, dann ging sie sofort los.

Während Hänschen derartige Erörterungen anstellte, konnte sie natürlich der Besprechung des Gedichtes nicht folgen. Als Fräulein Huhn eine Frage an sie richtete, stand sie da »wie de Guh vorm neien Dor«. Dieser schmeichelhafte Vergleich stammte von Kätchen Kugelmann trotz ihrer Sympathie für die neue Pensionsschwester.

Fräulein Huhn schien sehr unzufrieden mit der Neuen. »Wenn du so unaufmerksam bist, Hanna, wirst du den nächsten Aufsatz, der dieses Gedicht behandeln soll, nicht besser schreiben als die Aufsätze in der Potsdamer Schule. Ich denke, du wolltest dir Mühe geben, mich zufriedenzustellen?«

Nein, das wollte Hänschen ganz und gar nicht. Alle guten Vorsätze, die sie da oben in Fräulein Huhns Zimmer gehabt hatte, waren verflogen. Im Gegenteil – rächen wollte sich Hänschen Tunichtgut, daß sie vor den meist um ein Jahr jüngeren Kameradinnen derart bloßgestellt wurde. Über eine ganz eigenartige Rache brütete Hänschen. Hatte nicht mal in der Zeitung gestanden, daß Frauen in England, die politisch etwas durchsetzen wollten, so lange Speise und Trank verweigerten, bis sie ihr Ziel erreicht hatten? Nun, Hänschen hatte auch ihr Ziel. So schnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen. Sie hatte ja schon mit der Hungerstrafe begonnen. Wenn sie weder aß noch trank, konnte man sie unmöglich hier behalten. Es war das allereinfachste Mittel, um wieder heimzukommen. Und hatte Fräulein Huhn kein Einsehen, dann bekam Hänschen die Abzehrung und ging daran zugrunde. Das war ihnen dann allen ganz recht!

Ein lautes Geräusch unterbrach die Klassenstille. War das Mullerchen, der draußen an der Tür knurrte? Nein, es war nur Hänschens Magen, der gegen die ihm zugedachte Hungerkur bereits zu rebellieren begann. Sollte sie Fräulein Trudel nach der Stunde um eine Schnitte bitten? Nein – nein – festbleiben! Wenn man nicht festblieb, konnte man nichts durchsetzen.

So reihte sich Hänschen mit knurrendem Magen der Schar der Pensionsschwestern an, die unter Führung von Fräulein Gretl den Vormittagsspaziergang unternahmen. Ein Teil der jungen Mädchen blieb daheim und hatte bei Fräulein Trudel Bügelstunde.

Schnee – Schnee – wohin das Auge blickte. Der Garten eine Schneeweite, in der die Sträucher wie weißvermummte Gnomen am Boden kauerten. Die Obstbäume sahen wie schlanke Schneeprinzessinnen aus. Und die alte dicke Linde mit dem Rundtisch um den Stamm schien der Riese zu sein, der die Prinzessinnen bewachte. Ein Teil des Gartens war als Sportplatz abgeschlagen für Tennis, Krocket und für die Turngeräte. So erzählten die Mädel der Neuen. Denn zu sehen war davon nichts. Eine einzige, große, weiße Weite, an deren Ende ein winziges Häuslein sich im Schneewald eingekuschelt hatte. Dort wohnte Vater Liebig mit seiner Familie. Munter plaudernd stampften die gr0ßen und kleinen Füße den Schnee.

Hänschen stimmte nicht ein in die lebhafte Unterhaltung. Die wunderbare, erhabene Schönheit der sonnenbeflimmerten Schneeberge, das erhabene Schweigen des Winterwaldes, woran die andern schon gewöhnt waren, schloß ihr vorerst das redselige Mündchen.

»Ei, Hanna, gefällt es dir denn auch hier bei uns?« fragte Fräulein Gretl, welche die stille Bewunderung des sonst so lebhaften Backfischs in Erstaunen setzte.

»Himmlisch ist es – bezaubernd – – –« Da biß sich Hänschen erschreckt auf die Lippen. Sie durfte es ja nicht schön in Brückenberg finden. Sie wollte es doch nicht schön finden. Aber als jetzt die junge Schar auf dem weiten Plateau der Schlingelbaude eine lustige Schneeballschlacht eröffnete, da vergaß Hänschen es, daß es ihr hier im Riesengebirge nicht gefallen durfte. Sie war ganz in ihrem Element. Wie ein Junge verstand sie die Kugeln zu drehen und zu schleudern. Der Schneeball, den Hänschens frostrote Hand warf, der saß.

Arme Mieke! Hänschen Tunichtgut benutzte sie zur Zielscheibe ihrer sämtlichen Geschosse. Mieke mußte es büßen, daß sie zur Familie der Schnattergänse gehörte. Hui – da flog ihr eine weiße Kugel gegen das rote Ohrläppchen, hallo – eine zweite in die halbgeöffneten Lippen. An die Schulter, gegen den Kopf, Hänschen schleuderte mit einer Schnelligkeit, als ob sie nicht nur zwei, sondern ein Dutzend Hände zur Verfügung habe. Alle Abneigung gegen Agathchen ließ sie an der unschuldigen Kusine aus.

»Au – nicht doch – nicht so grob – du – – –«

Noch lachte Mieke, gute Miene zum bösen Spiel machend.

»Was hat dir denn die Mieke zuleide getan?« fragte Fräulein Gretl, belustigt über Hänschens Kampfesmut, während alle anderen jetzt für Mieke Partei ergriffen und sich gegen die Neue verbündeten. Oh, Hänschen Tunichtgut nahm es mit einem ganzen Dutzend auf! Hatte sie doch in Kiel gegen sämtliche Gassenjungen nach allen Regeln der Kunst Schneeballschlachten geliefert.

Die Mieke sollte es nicht nur büßen, daß sie die Kusine von der Schnattergans war, nein, auch daß sie Zeuge ihrer heutigen Abkanzelung gewesen, daß sie das möglichenfalls Agathchen petzen könnte, und vor allem, daß sie den Namen Hänschen Tunichtgut erfahren würde.

»Uah – uuh – – meine Nase – – –« Mieke sprang vor Schmerz von einem Bein auf das andere. Eine kleine weiße Kanonenkugel war ihr gegen die Nase geprallt. Rotes Blut sickerte in weißen Schnee.

»O weh, das war zu grob! Du treibst es zu arg, Hanna! Nun hat der Unfug aber ein Ende!« erhob Fräulein Gretl jetzt energisch Einspruch. »Weine nicht, Mieke, die Nase ist ja noch nicht ab. Kühle etwas mit Schnee.«

Die weinende Mieke mit der blutenden Nase in der Mitte, machte man sich auf den Rückweg.

Stolz schritt Hänschen dahin. So – die heutige Schlacht hatte ein für allemal ihre Feindschaft gegen Mieke, zur Familie der Schnattergänse gehörend, besiegelt. Nun wußten sie, wie sie miteinander standen. Die Siegerin hätte ihr kurzlockiges Haupt noch viel stolzer getragen, wenn nicht ein nagendes Hungergefühl sie arg gepeinigt hätte. Ja, Hänschen, solche Schneeballschlacht in der klaren Gebirgsluft macht Appetit!

»Und trotzdem werde ich nichts essen – trotzdem bleibe ich konsequent!« gelobte sich Hänschen, als man im Waldheim zu Tisch ging.

Auf die Suppe, eine Haferflockensuppe, hätte Hänschen für gewöhnlich ganz gern Verzicht geleistet.

»Ach, Umschlagsüppchen,« sagte sie schnüffelnd.

»Hanna, das schickt sich nicht,« verwies sie Fräulein Huhn.

Die andern lachten.

Hänschen pflegte die Suppe zu Hause stets so zu nennen. Sie hatte sie niemals gemocht. Aber wenn man solch einen Marsch im Schnee hinter sich hat, eine derart anstrengende Schlacht, und seit morgens früh nichts in den Magen bekommen hat, ja, dann schmeckt selbst »Umschlagsüppchen«.

»Drei Löffel werde ich davon nehmen, nur damit Fräulein Huhn nicht etwa Verdacht schöpft.« Wirklich schob Hänschen, wenn auch schweren Herzens, nach den drei zugestandenen Löffeln Suppe den Teller beiseite.

Die Suppe schmeckte tausendmal besser als daheim Luises »Umschlagsüppchen«. Ob das Fräulein Trudels Verdienst war oder Mutter Liebigs, die ihr beim Kochen assistierte, oder gar das der Kochschülerinnen, oder ob am Ende nur Hänschens Bärenhunger die Würze gab, konnte sie nicht mehr ergründen. Fräulein Huhn, ihre Nachbarin, war aufmerksam geworden.

»Nanu, Hanna, was soll das heißen? Warme Suppe tut dir gut nach dem Marsch und der Kälte draußen.«

»Ich habe keinen Appetit – – –« Gut, daß Hänschens Gesicht schon sowieso von der Schneeballschlacht glühte, sonst hätte Fräulein Huhn sicher gemerkt, daß sie rot wurde.

»Haferflockensuppe verordnet der Arzt selbst bei einer Magenverstimmung, Hanna. Wenn du nicht ordentlich essen wirst, kann ich dich nicht hier behalten.«

Hurra! – Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte Hänschen es laut heraus gejubelt. Aber sie kniff sich noch rechtzeitig mit der linken Hand in den rechten Zeigefinger. Jetzt, wo sie sah, daß ihr Aushungerungsplan schon zu wirken begann, wurde es ihr gar nicht mehr schwer, auf das Umschlagsüppchen zu verzichten. Dennoch schaute sie ein wenig neidisch zu, wie die andern es sich schmecken ließen.

Beim »Schlesischen Himmelreich« war es schon schwerer, festzubleiben. Erst wollte Hänschen die Schüssel überhaupt vorübergehen lassen. Aber als die schlesischen Klöße sie so verlockend anlachten und das Backobst mit dem geräucherten Fleisch noch viel verlockender duftete, konnte Hänschen doch nicht widerstehen.

Einen Kloß – nur mal sehen, wie er schmeckte. Es war doch ein schlesisches Spezialgericht, das mußte sie unbedingt probieren.

Hm – wunderbar mundete der Kloß. Zehn Stück davon hätte Hänschen ihrem Hunger nach am liebsten gefuttert.

Aber Fräulein Huhn meinte mütterlich besorgt:

»Hanna, wenn du einen verdorbenen Magen hast, rate ich dir von diesem Gericht ab. Das ist schwer. Iß lieber nur das Backobst.«

Hänschen ließ die Gabel betrübt sinken. Nein, wenn sie keinen Kloß und kein geräuchertes Fleisch essen sollte, mochte sie auch das Backobst nicht.

»Dein Magen ist total in Unordnung, wenn du selbst gegen Kompott eine Abneigung hast,« entschied Fräulein Huhn. »Hungere dich aus, Kind.«

Es blieb Hänschen wohl oder übel auch nichts anderes übrig. Jeden Kloß verfolgte sie mit hungrigen Augen, der in den Mund der andern spazierte. Kätchen Kugelmann leistete darin geradezu Virtuosenhaftes und versicherte immer wieder: »Glöse eß ich auch zu kern!«

Wäre Hänschen doch nie auf den Gedanken gekommen, es den englischen Suffragetten nachzutun und durch Aushungern etwas erreichen zu wollen. Bitterböse sah sie Miß Pinshes an, als ob die etwas dafür konnte. Natürlich, der englische Pinscher ließ es sich schmecken, und sie konnte sich den Mund wischen. Als man »Gesegnete Mahlzeit« sagte, knurrte Hänschens Magen die Begleitung dazu.

Hoffentlich erlöste sie Fräulein Huhn nun wenigstens von der Strafstunde. Dazu war sie doch wirklich zu schwach und zu angegriffen.

Aber die Vorsteherin schien nicht derselben Meinung. »Monsieur Lecoq, bitte, die französische Arbeit für Hanna Wallenberg.« Fräulein Huhn hatte ein gutes Gedächtnis.

Hänschen machte ein leidendes Gesicht. Aber es half nichts. Sie bekam das Gedicht »Le corbeau et le renard« zu präparieren.

Einsam saß Hänschen droben in ihrem Zimmer. Vor sich das französische Gedicht, in sich eine gähnende Leere. Lachende Mädchenstimmen klangen aus dem verschneiten Garten herauf. Die meisten der Pensionsschwestern benutzten die Freistunde, um der kleinen Clemence einen großen Schneemann bauen zu helfen.

Wie gern wäre Hänschen auch dabei gewesen. Sie drückte die Nase gegen die Fensterscheibe und schaute angelegentlich zu. »Monsieur le corbeau et monsieur le renard« mochten sich ohne sie unterhalten. Ob sie einfach die Strafstunde schwänzte und beim Verfertigen des Schneemanns half? Das war offenbarer Ungehorsam. Fräulein Huhn hatte trotz all ihrer Freundlichkeit etwas an sich, daß selbst Hänschen Tunichtgut dies nicht wagte. Und Clemence hätte es sicher dem Vater berichtet.

Der Schneemann wuchs. Die rote Mohrrübennase bildete Clemences ganzes Entzücken. Das graziöse Geschöpfchen tanzte jubelnd um den dicken weißen Wicht herum.

Hänschen droben am Fenster stieß einen schweren Seufzer aus. Derselbe galt nicht der Langenweile, auch nicht dem französischen Strafgedicht, nur dem nagenden Hungergefühl, das sie ganz entsetzlich peinigte. Ganz jammervoll war ihr zumute – – tatsächlich – der Kopf schmerzte. Unmöglich, daß sie präparierte, wo sie sich so elend fühlte.

Die Tür ging. Hänschen war trotz ihres Übelbefindens mit einem Sprunge bei monsieur le corbeau et monsieur le renard.

Es war nur die Mieke. Sie wollte eine alte grüne Rodelmütze holen, mit welcher der Schneemann geschmückt werden sollte.

Hänschen tat, als ob sie Mieke, zur Familie der Schnattergänse gehörend, gar nicht sähe. Sie schien ganz vertieft in ihre Präparation.

Mieke blieb, die grüne Rodelmütze in der Hand, am Tische stehen. Mitleidig blickte sie auf die Neue, die sich so placken mußte. Vergessen hatte sie das Schneeballbombardement des Vormittags, trotzdem ihre Nase noch rot und verschwollen aussah.

»Soll ich dir helfen, Hanna?« fragte sie freundlich. »Wir haben das Gedicht schon in Breslau in der Schule gelernt.«

Hänschen blickte überrascht auf. Sie hatte sich gerade so grenzenlos einsam gefühlt mit ihrer Hungerqual, daß Miekes gutes Wort ihr wohltat. Kam es auch von der Schnattergans.

»Ach, mir kann keiner helfen,« stöhnte Hänschen, »ich werde sicher sterben.«

Nun war ja, da Hänschen doch nun mal zu dem sterblichen Menschengeschlecht gehörte, dagegen nichts zu sagen, aber Mieke machte doch ein erschrecktes Gesicht.

»Um Himmels willen, was fehlt dir denn?«

»Ich – verhungere!« Mit Grabesstimme drang es an Miekes Ohr.

»Nach dem guten Mittagessen?« Da erinnerte sich Mieke, daß ja die Neue mittags magenkrank gewesen war. Vielleicht hatte sie das Essen nur nicht gemocht. Mieke kannte derartige Magenkrankheiten aus eigener Erfahrung. Für diese Fälle der Not pflegten sich die Pensionärinnen von Haus mit Futterpaketen versehen zu lassen. Die »eiserne Ration« nannten sie es. Auch Mieke hatte ihre eiserne Ration. Hilfsbereit eilte sie zu ihrem Schubfach und holte Schokolade, eine halbe Wurst, Napfkuchen und Äpfel herbei.

Hänschens Todesgedanken verflackerten vor dem lebensfreudigen Anblick dieser Herrlichkeiten.

»Mieke, das kann ich nicht annehmen.« Ihre anständige Gesinnung kämpfte gegen die Hungerqual. »Wo ich dir erst heute deine Nase so zugerichtet habe wie die Mohrrübennase des Schneemanns unten« – da hatte sie bereits in die Wurst hineingebissen. Der Hunger hatte über alle Bedenken gesiegt.

O Gott – schmeckte das! Immer abwechselnd Kuchen, Wurst, Schokolade und Apfel. »Mieke, das vergesse ich dir mein Lebtag nicht, daß du mich heute vom Tode errettet hast. Wenn du auch zur Familie der Schnattergänse gehörst. Es soll dir verziehen sein.« Hänschen konnte kaum sprechen, so angestrengt hatte sie zu kauen.

Mieke sah mit etwas geteilten Gefühlen, wie ein Stück ihrer eisernen Ration nach dem anderen den Weg in den Mund der neuen Pensionsschwester nahm.

»Hast du noch nicht genug?« erkundigte sie sich.

Oh, da unterschätzte sie Hänschens Leistungsfähigkeit.

»Du – du wirst dich jetzt aber wirklich verfressen,« gab sie zu bedenken.

Ungeachtet dieser Verwarnung hielt Hänschen nicht eher in ihrer Tätigkeit inne, als bis auch das letzte Krümelchen vertilgt war.

»Mieke, du hast dir um mich die Rettungsmedaille verdient.« Sie konnte kaum noch japsen.

Nun wäre der Mieke ihre eiserne Nation, mit der sie so sparsam Haus gehalten, im Grunde lieber gewesen. Aber als Hänschen jetzt in ihrer ungestüm lebhaften Art den Arm um sie schlang: »Du hast heute feurige Kohlen auf mein Haupt geladen. Darum will ich das Kriegsbeil zwischen uns begraben und deine Abkunft vergessen, Mieke. Du sollst meine Freundin sein. Und zum Zeichen dafür will ich dir ein finsteres Geheimnis anvertrauen: Ich wollte mich freiwillig dem Hungertode weihen, um wieder heimgeschickt zu werden. Gelobst du mir Stillschweigen für die Ewigkeit und drei Tage?«

Mieke gelobte es.

Die neuen Freundinnen küßten sich feierlich, und Mieke vergaß über den Freundschaftsbund ihre Trauer um die dahingegangene eiserne Ration, und daß der Schneemann drunten auf seine grüne Rodelmütze wartete.

Innig umschlungen machten die beiden sodann gemeinsam die nähere Bekanntschaft von monsieur le corbeau und monsieur le renard. Und wenn es der Mieke auch einmal in den Sinn kam, daß es ihr mit ihren Heimatsschätzen ähnlich ergangen war, wie in der Fabel dem monsieur le corbeau mit seinem Käse, was tat's – sie hatte ja dafür eine neue Freundin. Das Schandmal, zur Familie der Schnattergänse zu gehören, war getilgt.

Hänschen aber bekam am Abend statt der knusperigen Kartoffelpuffer nur eine Tasse Pfefferminztee. Denn nun hatte sie wirklich einen verdorbenen Magen.


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